OT: Herr Mayer, Angela Merkel hatte nach 16 Jahren Bundeskanzlerin genug. Sie haben sich jüngst erneut zum Obermeister der Innung Sachsen/Thüringen wählen lassen. Haben Sie weiter Lust auf das Gestalten?
Albin Mayer: Ja. Ich habe große Lust auf das Gestalten und dafür zu streiten, dass es unserem Fach besser geht. Die Herausforderungen werden nicht weniger. Außerdem möchte ich mich um die Besetzung meiner Nachfolge kümmern. Meine Nachfolgerin oder mein Nachfolger muss über die gesamte Dauer von vier Jahren einer ganzen Amtszeit eingearbeitet werden. Dafür stehe ich dann ab 2026 bereit, um vier Jahre später den Staffelstab weiterzugeben.
OT: Was treibt Sie an?
Mayer: Der Grund, warum ich das alles mache, ist die Liebe zum Fach. Ich liebe meinen Beruf. Wir dienen dem Menschen, wir schaffen Mobilität und sorgen für Integration und Teilhabe. Das ist eine sehr hoheitliche Aufgabe, die wir haben.
OT: Warum haben Sie sich entschieden, sich ehrenamtlich im Fach zu engagieren?
Mayer: Ich habe mich im Dezember 1991 selbstständig gemacht und ab März 1992 war ich Mitglied in der Landesinnung. Die Versammlungen der Innung habe ich regelmäßig besucht und mich von Anfang an aktiv beteiligt. In den Diskussionen habe ich gesagt, was ich gut, aber auch weniger gut fand und auch Verbesserungsvorschläge eingebracht. Dem damaligen Obermeister Henning Bodenstein hat das gut gefallen. Deshalb wurde ich angesprochen, ob ich mir nicht vorstellen könnte, auch im Vorstand eine Aufgabe zu übernehmen. So wurde ich 1999 dann in den Vorstand gewählt. Als Innungsmitglied kann man natürlich immer kritisieren, aber besser ist es, wenn man mitgestaltet. Das war auch mein Ehrgeiz: gestalten und mithelfen, dass es den Betrieben hier in Ostdeutschland besser geht. Die Vergütung in der Anfangszeit meiner Selbstständigkeit lag 50 Prozent unter der im Westen. Das waren sehr, sehr schwierige Bedingungen. Durch die Hilfe der Landesinnung Baden-Württemberg wurde die Situation besser, aber als ich 1999 in den Vorstand kam, lagen wir immer noch 35 Prozent unter dem Niveau der westlichen Bundesländer.
Fachkräftemangel im Fokus
OT: Ein Blick in „Ihre“ Landesinnung: Welche Aufgaben gibt es aktuell zu bewältigen?
Mayer: Der Fachkräftemangel in der Innung Sachsen/Thüringen ist enorm. Ich brauche nur einen Blick in meinen eigenen Betrieb zu werfen. Seit drei Jahren versuchen wir qualifizierte Mitarbeiter:innen „aufs Land“ zu holen – leider erfolglos. Bei der Nachwuchsgewinnung haben wir auch Defizite und müssten eigentlich mehr ausbilden. Unser Problem ist aber erstens, dass unser Beruf in der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt und zweitens die Vergütung schlecht ist. Um sowohl die Ausbildungsvergütung als auch die Gehälter für Gesell:innen und Meister:innen angemessen steigen zu lassen, müssen mehr Einnahmen erzielt werden. Das heißt: Wir brauchen gute und strukturierte Verträge mit den Kostenträgern, die für Betriebsinhaber:innen und Mitarbeiter:innen einfach und schnell zu verarbeiten sind. Das ist – und da bin ich mir sicher – eine Marathonaufgabe und nicht im Sprinttempo zu erledigen. Damit einher geht natürlich die dringende Forderung zur Entbürokratisierung.
OT: Noch einmal das Thema Nachwuchs: Wie sieht es in Sachsen und Thüringen mit den Fachkräften von morgen aus?
Mayer: Wir haben deutlich mehr Ausbildungsplätze als Bewerber:innen. Aber: Das ist natürlich allgemein das Problem im Handwerk und nicht exklusiv bei uns Orthopädietechniker:innen. Die jungen Leute streben eine akademische Ausbildung an oder wenn es eine berufliche Ausbildung ist, dann geht es meistens in die Verwaltung und nicht zu uns Praktikern. Ehrlichweise haben wir uns dieses gesellschaftliche Problem auch ein großes Stück weit selbst anerzogen. Viele Eltern wollen natürlich, dass ihre Kinder einmal einen guten Job haben und eben nicht auf dem Dach rumklettern oder sich die Hände dreckig machen, wenn sie im Winter im Matsch hantieren müssen. Lieber im warmen Büro und mit geregelten Arbeitszeiten als im Handwerk, wo es auch einmal ein bisschen ungemütlich werden kann.
OT: Wie können Sie denn junge Menschen vom Handwerk beziehungsweise vom Gesundheitshandwerk überzeugen?
Mayer: Es gibt im Handwerk insgesamt über 130 verschiedene Ausbildungsberufe von A wie Anlagenmechaniker SHK bis Z wie Zweiradmechatroniker. Von uns Gesundheitshandwerken gibt es allerdings nur fünf. Was uns eint: Wir arbeiten am Menschen und haben deshalb eine ganz besondere Verantwortung. Als Orthopädietechniker:innen arbeiten wir zudem sehr abwechslungsreich – wir versorgen schließlich von Kopf bis Fuß. Außerdem müssen wir uns mit verschiedensten Materialien in unserem Beruf auseinandersetzen, damit wir unsere Patient:innen optimal im Alltag versorgen können. Und nicht zuletzt darf man auch ruhig mal erwähnen, dass wir auch einen künstlerischen Aspekt in unserer Arbeit haben. Wenn es um die Themen Kosmetik, Formgestaltung oder Passgenauigkeit geht, da gibt es großes Potential. Abschließend gilt es auch mit einem Vorurteil aufzuräumen: Handwerk ist digital, Handwerk kann digital und Handwerk macht digital. Natürlich arbeiten wir mit unseren Händen, aber Scannen, Additive Fertigung und Co. sind längst Teil unseres digitalen Werkzeugkastens, um die Versorgung unserer Patientinnen und Patienten noch besser, noch individueller zu machen. Es ist einfach ein attraktiver Beruf mit einer hohen Zufriedenheitsgarantie. Unsere Versorgungen helfen Menschen, wieder am Leben teilzuhaben – das Lächeln ist unser Dank.
OT: Sie bringen eine Vielzahl von überzeugenden Argumenten für Ihren Beruf. Warum klappt es nicht, die Begeisterung bei jungen Menschen zu entfachen?
Mayer: Das liegt – und da sind wir wieder bei dem Thema Geld – an der schlechten Vergütung. Aus der Politik werden dabei auch nicht unbedingt förderliche Signale gesendet. Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat gesagt, dass Pflegekräfte 4.500 brutto monatlich für ihre Tätigkeit erhalten sollten. Das hören unsere Mitarbeitenden und fragen sich, warum ihre Tätigkeit am Menschen – auch unter den schwierigen Pandemiebedingungen – weniger wert sein soll. Wenn wir unsere Mitarbeitenden besser bezahlen wollen, dann brauchen wir einen besseren Stundenverrechnungssatz, den wir gegenüber den Kostenträgern geltend machen können. Dann können wir auch bessere Löhne zahlen. Politik und Gesellschaft müssen sich in diesem Zusammenhang auch einmal selbst fragen, was ihnen eine gute Versorgung wert ist. Denn: Wenn wir keinen Nachwuchs für unser Handwerk finden können, dann läuft es langfristig auf immer größere personelle Lücken in unseren Reihen hinaus und schlussendlich sind dann keine Versorgungen mehr möglich, weil es keine Fachkräfte mehr gibt. Wir stehen ja nicht nur im Wettbewerb mit anderen Berufen um Auszubildende, sondern auch um Fachkräfte, die in fachfremde Berufe abwandern, weil dort der finanzielle Anreiz zu groß ist. Wer am Fließband 1.500 Euro mehr als im Sanitätshaus verdienen kann, der überlegt sich sicherlich, ob ein beruflicher Tapetenwechsel angebracht ist.
OT: Aktuell läuft eine Studie zum Stundenverrechnungssatz im Auftrag des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik. Können Sie einen Zwischenstand vermelden?
Mayer: Leider sind die Teilnahmezahlen bisher zu gering, um als Grundlage für unsere Verhandlungen mit den Kostenträgern zum Thema Stundenverrechnungssatz zu dienen. Ich hoffe, dass sich zeitnah weitere Betriebe an der Studie beteiligen, damit wir entsprechend gut aufgestellt sind für die Verhandlungen. Denn ohne die Mitarbeit der Betriebe können wir unserer Aufgabe, uns für eine bessere wirtschaftliche Situation der Betriebe einzusetzen, nicht gerecht werden.
Ehrenamt: Gerne jünger und weiblicher
OT: Ist denn das Ehrenamt eine Option für junge Orthopädietechniker:innen?
Mayer: Bei uns in der Innung haben wir in der vergangenen Sitzung explizit noch einmal darauf hingewiesen, dass wir junge Leute im Vorstand brauchen. Nach dieser Amtszeit werden drei Vorstandsmitglieder aus Altersgründen aus dem Amt scheiden und da brauchen wir Ersatz, der im besten Fall bereits einen Einblick in unsere Vorstandsarbeit erhalten hat. Deshalb haben wir vier junge Kollegen eingeladen, als Gäste an unseren Vorstandssitzungen teilzunehmen und einmal in den kommenden vier Jahren auszuloten, ob ein Vorstandsposten etwas für sie ist. Die Bereitschaft ist also grundsätzlich da, wenngleich natürlich ein bisschen mehr Begeisterung für das Ehrenamt schön wäre. Wir sind allerdings auch eine attraktive Innung in Kombination mit unserem Fachverband und – aus meiner Sicht – mit einer guten und gerechten Aufgabenverteilung im Vorstand und in den Ausschüssen, die den Aufwand im Rahmen hält.
OT: Wie groß ist denn Ihr persönlicher Arbeitsaufwand als Obermeister?
Mayer: Das ist ganz unterschiedlich. In Wochen, in denen man mit Kostenträgern verhandelt, ist die zeitliche Belastung relativ hoch. Dann gibt es auch Wochen, in denen es etwas ruhiger ist. Als Faustformel für meine Arbeit als Obermeister würde ich sagen, dass ich wöchentlich im Durchschnitt rund sechs Stunden gebunden bin. Bei den anderen Vorstandsmitgliedern sind es entsprechend weniger Stunden.
OT: Mit Adelheid Micke von der Innung Münster ist die einzige Obermeisterin kürzlich aus dem Amt geschieden. Können Sie sich erklären, warum gerade für Frauen das Ehrenamt so unattraktiv zu sein scheint?
Mayer: In der Tat ist das ein bekanntes Phänomen. Mit Petra Menkel als stellvertretende Obermeisterin in Berlin/Brandenburg ist aktuell nur noch eine Frau in der Vorstandsarbeit präsent. Das liegt vielleicht einerseits daran, dass Frauen nicht ganz so häufig Geschäftsinhaberin beziehungsweise Geschäftsführerin sind wie Männer. Andererseits sind Frauen in vielen Familien immer noch für Kindererziehung und andere familiäre Aufgaben zuständig. Nebenbei die Zeit und Kraft aufzuwenden und ein Ehrenamt zu besetzen, ist sehr anstrengend. Dem ganzen Fach stände es aber wirklich gut zu Gesicht, wenn es deutlich mehr weibliche Delegierte und Vorstände geben würde.
Finanzielle Anreize und Spielräume
OT: Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen hat die CDU mit einer Meisterprämie von 3.000 Euro geworben. Wie sieht es bei Ihnen in Sachsen und Thüringen aus?
Mayer: Das ist ein wenig kompliziert. In Thüringen bekommen Meisterabsolvent:innen einmalig 1.000 Euro. Zusätzlich können sie, wenn sie eine ausgezeichnete Leistung erbracht haben, 1.000 Euro extra bekommen. Für die Übernahme oder Neugründung besteht die Möglichkeit, einen Zuschuss von 5.000 Euro zu beantragen. In Sachsen bekommen Absolvent:innen einmalig 1.000 Euro, wenn sie sie beantragen. Allerdings ist diese Regelung an den Ort der Meisterausbildung gebunden. Meine beiden Söhne haben beispielsweise an der Bundesfachschule für Orthopädie-Technik in Dortmund ihren Abschluss gemacht und deshalb keinen Meisterbonus bekommen. Es wäre schön, wenn man sich auf Bundesebene auf einheitliche Förderkriterien für die Meisterausbildung einigen könnte, das würde eventuell der beruflichen Fort- und Weiterbildung im Handwerk nochmals einen Schub verleihen. Und lassen Sie mich noch eine Sache erneut ergänzen: Gesell:innen sollten in unserem Handwerk im Bundesdurchschnitt zwischen 3.000 und 3.500 Euro verdienen. Diese Löhne können wir aber gar nicht zahlen, weil uns die Einnahmen dazu fehlen. Könnten wir dieses Lohnniveau anbieten, dann hätten wir auch sicherlich mehr Leute, die den Weg ins Handwerk finden würden und als nächste Stufe auch potenziell mehr Gesellinnen und Gesellen, die sich weiterqualifizieren.
OT: Sie sprechen die finanziellen Möglichkeiten von Betrieben an. Mit Corona-Pandemie und steigenden Energiepreisen in Folge des Ukrainekriegs müssen die Betriebe ihre finanziellen Rücklagen für die steigenden Kosten aufbrauchen. Haben Sie einen Lösungsvorschlag, wie man zukünftig einfach und schnell auf solche dynamischen Prozesse reagieren kann?
Mayer: Nun ja, in unsere aktuellen oder zukünftigen Verträge könnte man natürlich eine Preisgleitklausel einbauen, die es uns ermöglicht, die Preise in vorher abgestimmten Situationen – wie einer Pandemie – um den abgemachten Prozentsatz anzuheben. Dies müssten die Kostenträger aber auch wollen und da sehe ich wenig Bereitschaft. Das vorgebrachte Argument wird sein, dass man solch unvorhersehbaren Ereignisse ja nicht in den Haushaltsplan einplanen könne. Deswegen scheitert diese Idee mit Sicherheit an der Umsetzung. Einfacher wäre es natürlich, wenn die Anzahl der Vertragsparteien sich drastisch reduzieren würde. Optimalerweise verhandeln wir unsere Verträge mit dem Bundesgesundheitsministerium aus. Im Falle einer drastischen Veränderung – wie Krieg, Pandemie und den damit einhergehenden Kostensteigerungen – gibt es nur einen Vertragspartner, mit dem man verhandeln muss. Ein positiver Nebeneffekt: Für unsere Betriebe würde es einen enormen Bürokratieabbau bedeuten. Manche Betriebe haben aktuell zwischen 200 und 300 Verträge zu managen, dann wäre es nur noch einer. Durch den eingesparten Verwaltungsaufwand könnte man sogar manche Dinge günstiger anbieten.
OT: Wenn Sie einen Wunschzettel für die Landesinnung ausfüllen würden, welche vier Sachen würden dann darauf stehen?
Mayer: Spontan fallen mir folgende Wünsche für die Landesinnung Sachsen/Thüringen ein: Erstens wäre es toll, wenn wir für die aktuellen Vorstände junge Nachfolger:innen finden würden, gerne in der Hauptzahl weiblich. Überhaupt, dass sich die jungen Leute in der Innung engagieren wollen, wäre erstrebenswert. Zweitens wünsche ich mir, dass der gute kollegiale Zusammenhalt in der Innung weiterhin bestehen bleibt, und für die Betriebe, dass sie wirtschaftliche Sicherheit haben und nicht um ihre Existenz bangen müssen. Drittens wünsche ich unseren Betrieben, dass sie wieder mehr Auszubildende finden, um dem Fachkräftemangel entgegenzutreten. Und viertens wünsche ich mir eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger für mein Amt als Obermeister, die oder der willens ist, mit Engagement und Gesamtüberblick für unser Fach diese Rolle auszufüllen.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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