Addi­ti­ve Fer­ti­gung durch Gra­nu­la­tex­tru­si­on als Chan­ce für die ortho­pä­di­sche Versorgung

L. Eckhardt1, M. Layher1, J. Bliedtner1, G. Pustal2, F. Carqueville2
Additive Fertigungsverfahren gewinnen auch in der Orthopädietechnik zunehmend an Bedeutung. Ergänzend zu den etablierten Verfahren bietet die direkte Verarbeitung von Granulat im 3D-Druck die Möglichkeit, großvolumige Bauteile schnell und aus beliebigen Kunststoffen herzustellen. Dieser Artikel ordnet die Technologie zum Stand der Technik ein und untersucht deren Anwendung am Beispiel von Schuhleisten, Prothesenschäften und Korsetten. Es zeigt sich, dass mit den typischerweise großen Düsendurchmessern insbesondere einfache Geometrien effizient hergestellt werden können. Prozessschritte wie das Tiefziehen von PE-Kunststoffen über gefräste PU-Schaum-Formkörper sind so vollständig ersetzbar. Die Möglichkeiten, mit der Technologie hochaufgelöste Details oder formschlüssige Verbindungen zu fertigen, sind jedoch begrenzt.


Ernst-Abbe-Hoch­schu­le Jena, Carl-Zeiss-Pro­me­na­de 2, 07745 Jena
2 Sani­täts- und Gesund­heits­haus Car­que­ville GmbH, Flur­stra­ße 6, 07586 Kraftsdorf

Anzei­ge

Ein­füh­rung

Die Her­stel­lung von ortho­pä­di­schen Hilfs­mit­teln befin­det sich momen­tan in einem digi­ta­len Wan­del. Pro­zess­schrit­te wie das 3D-Scan­ning am Pati­en­ten, die com­pu­ter­ge­stütz­te Bau­teil­mo­del­lie­rung (CAD) und die digi­ta­le Doku­men­ta­ti­on der Ver­sor­gung gehö­ren bereits in den meis­ten Ortho­pä­die­häu­sern zum Arbeits­all­tag. Dabei pro­fi­tie­ren sowohl Anwen­der als auch Ortho­pä­die­tech­ni­ker von den Vor­tei­len der gips­lo­sen Form­er­fas­sung und den digi­ta­len Model­lie­rungs­mög­lich­kei­ten1.

Addi­ti­ve Fer­ti­gungs­ver­fah­ren kön­nen eine sinn­vol­le Ergän­zung die­ser digi­ta­len Pro­zess­schrit­te sein und unter Umstän­den die kon­ven­tio­nel­le Bau­teil­fer­ti­gung kom­plett erset­zen. Dabei ist jedoch längst klar, dass die Erwar­tung der güns­ti­gen, schnel­len und unkom­pli­zier­ten Fer­ti­gung belie­bi­ger Bau­tei­le mit frei­er Mate­ri­al­aus­wahl und bei­spiel­lo­ser geo­me­tri­scher Frei­heit von kei­nem bestehen­den Ver­fah­ren erfüllt wer­den kann. Für spe­zi­el­le Anwen­dungs­fäl­le eta­blie­ren sich jedoch geeig­ne­te Tech­no­lo­gien, sodass auch in der Ortho­pä­die­tech­nik der 3D-Druck immer häu­fi­ger ein­ge­setzt wird. Ob ins­be­son­de­re die Her­stel­lung groß­vo­lu­mi­ger Bau­tei­le von einem inno­va­ti­ven, gra­nu­lat­ver­ar­bei­ten­den Ver­fah­ren pro­fi­tie­ren kann, wird im nach­fol­gen­den Arti­kel diskutiert.

Addi­ti­ve Fertigung

Der Begriff der Addi­ti­ven Fer­ti­gung umfasst alle Pro­zes­se, die Bau­tei­le aus­ge­hend von 3D-Modell­da­ten durch das schicht­wei­se Ver­bin­den von Mate­ri­al her­stel­len2. Die Ver­fah­ren begin­nen stets mit der digi­ta­len Model­lie­rung des Bau­teils. Die­se erfolgt in anwen­dungs­spe­zi­fi­schen CAD-Pro­gram­men, bei­spiels­wei­se aus­ge­hend von einem 3D-Scan am Pati­en­ten. Das 3D-Modell des Bau­teils wird anschlie­ßend in ein­zel­ne Schich­ten zer­legt und in ein Steue­rungs­pro­gramm für den Dru­cker umge­wan­delt, wel­ches die Bewe­gun­gen des Druck­kopfs und der Bau­platt­form steu­ert. Die­ser Vor­gang wird als Slicing bezeich­net und legt Para­me­ter wie Schicht­hö­hen, Ver­ar­bei­tungs­tem­pe­ra­tu­ren und Druck­ge­schwin­dig­kei­ten fest.

Die ver­schie­de­nen Ver­fah­ren, wel­che aus einem sol­chen Druck­pro­gramm das phy­si­sche Bau­teil her­stel­len, wur­den bereits in ver­schie­de­nen Aus­ga­ben der ORTHOPÄDIE TECHNIK dis­ku­tiert. An die­ser Stel­le wird daher nur ein kur­zer Über­blick über die grund­le­gen­den Tech­no­lo­gien und deren Vor- und Nach­tei­le gegeben.

Pho­to­po­ly­me­ri­sa­ti­on

Pho­to­po­ly­me­ri­sa­ti­ons­ver­fah­ren gehö­ren zu den ver­brei­tets­ten Tech­no­lo­gien im 3D-Druck3. Sie nut­zen flüs­si­ge Kunst­har­ze, die unter Ver­wen­dung von UV-Strah­lung aus­här­ten. Im Druck­pro­gramm sind die Berei­che hin­ter­legt, die in der jewei­li­gen Schicht von einem Laser (Ste­reo­li­tho­gra­phie) oder einem Pro­jek­tor (Digi­tal Light Pro­ces­sing, Con­ti­nuous Liquid Inter­face Pro­duc­tion) belich­tet und aus­ge­här­tet wer­den müs­sen. Die Schich­ten des Poly­mer­har­zes wer­den suk­zes­si­ve auf­ge­tra­gen und die Belich­tung wie­der­holt sich, bis das Objekt voll­stän­dig auf­ge­baut ist. Im Ver­gleich zu ande­ren 3D-Druck-Tech­no­lo­gien kön­nen hohe Detail­auf­lö­sun­gen und Druck­ge­schwin­dig­kei­ten erreicht wer­den. Je nach Geo­me­trie sind Stütz­struk­tu­ren not­wen­dig. Die Mate­ri­al­aus­wahl ist mitt­ler­wei­le groß, jedoch gibt es mate­ri­al­sei­tig eini­ge Nach­tei­le. Vie­le Werk­stof­fe nei­gen zu Degra­die­rung oder Ver­zug bei lang­fris­ti­ger Son­nen­ein­strah­lung, ein Aus­tausch des Har­zes ist in der Regel auf­wän­dig und Mul­ti­ma­te­ri­al­bau­tei­le sind nur mit enor­men Kom­pro­mis­sen mög­lich4. Auch die Kos­ten für Anla­gen und Mate­ri­al fal­len rela­tiv hoch aus.

Pul­ver­bett­ver­fah­ren

In Pul­ver­bett­ver­fah­ren wer­den dün­ne Schich­ten Pul­ver auf eine Bau­platt­form auf­ge­tra­gen und jeweils lokal ver­fes­tigt. Dies kann durch Ein­sprit­zen von Kleb­stoff (Bin­der Jet­ting) oder Auf­schmel­zen des Grund­ma­te­ri­als durch ener­ge­ti­sche Strah­lung (Selek­ti­ves Laser­sin­tern, Mul­ti Jet Fusi­on) statt­fin­den. Durch die abstüt­zen­de Wir­kung des unver­fes­tig­ten Pul­vers sind in die­sem Ver­fah­ren kom­ple­xe Geo­me­trien auch ohne Stütz­struk­tu­ren mög­lich. Gleich­zei­tig wer­den hohe Detail­auf­lö­sun­gen und Bau­teil­dich­ten erreicht. Nach­tei­le der Ver­fah­ren sind ver­gleichs­wei­se höhe­re Anschaf­fungs­kos­ten, län­ge­re Druck­zei­ten und Ein­schrän­kun­gen in Bezug auf Grö­ße und Mate­ri­al­aus­wahl der zu dru­cken­den Teile.

Mate­ri­al­ex­tru­si­on

Extru­si­ons­ver­fah­ren wie Fused Depo­si­ti­on Model­ling (FDM) ver­wen­den eine Düse, um geschmol­ze­nes Mate­ri­al schicht­wei­se auf­zu­tra­gen und das gewünsch­te drei­di­men­sio­na­le Objekt zu erstel­len. Abhän­gig von Düsen­durch­mes­ser und Druck­kopf (Hotend) lie­gen die maxi­mal erreich­ba­ren Auf­bau­ra­ten zwi­schen 20 und 100 g/h5. Als Aus­gangs­ma­te­ria­li­en dient eine gro­ße Aus­wahl von Kunst­stoff­dräh­ten (Fila­men­ten). Die­se sind ver­gleichs­wei­se güns­tig, kön­nen durch Car­bon- oder Glas­fa­ser ver­stärkt wer­den und las­sen sich mit meh­re­ren Druck­köp­fen auch inner­halb eines Bau­teils kom­bi­nie­ren. Dafür not­wen­di­ge Anla­gen sind bereits unter 1000 € erhält­lich. Die gefer­tig­ten Bau­tei­le wei­sen jedoch eine raue Ober­flä­che mit erkenn­ba­ren Schich­ten, gerin­gen Detail­auf­lö­sun­gen und stark rich­tungs­ab­hän­gi­gen Fes­tig­kei­ten auf.

Gra­nu­la­tex­tru­si­on

Ein spe­zi­el­les Extru­si­ons­ver­fah­ren der Addi­ti­ven Fer­ti­gung ist die Gra­nu­la­tex­tru­si­on. Dabei wird Kunst­stoff-Roh­gra­nu­lat in einem Schne­cken­ex­tru­der erhitzt, ver­dich­tet, auf­ge­schmol­zen und schließ­lich durch eine Düse extru­diert (Abb. 1). Im Ver­gleich zu Fila­mentdru­ckern sind die Düsen­durch­mes­ser typi­scher­wei­se deut­lich grö­ßer, wor­aus eben­so höhe­re Aus­trags­ra­ten resultieren.

Fol­gen­de Beson­der­hei­ten zeich­nen die Ver­ar­bei­tung von Gra­nu­la­ten in der Addi­ti­ven Fer­ti­gung aus:

Mate­ri­al: Die ver­wen­de­ten Gra­nu­la­te sind die Aus­gangs­pro­duk­te nahe­zu aller kunst­stoff­ver­ar­bei­ten­den Pro­zes­se und daher kos­ten­güns­tig ver­füg­bar. Es kann auf eine gro­ße Aus­wahl von Werk­stof­fen, auch mit medi­zi­ni­scher Zer­ti­fi­zie­rung, zurück­ge­grif­fen werden.

Slicing: Die meis­ten han­dels­üb­li­chen Slicing-Pro­gram­me berück­sich­ti­gen indi­vi­du­ell fest­ge­leg­te Düsen­durch­mes­ser und Strang­geo­me­trien bei der Bahn­pla­nung. Es kön­nen daher sämt­li­che eta­blier­te Funk­tio­nen, wie Stütz­struk­tu­ren, indi­vi­du­el­le Infills oder adap­ti­ve Schicht­hö­hen, genutzt wer­den. Die Berech­nung der jeweils not­wen­di­gen För­der­schne­cken­dreh­zahl zur Ansteue­rung des Extru­ders erfor­dert einen Post-Prozessor.

Strang­geo­me­trie: Aus dem grö­ße­ren Düsen­durch­mes­ser resul­tie­ren ent­spre­chend grö­ße­re Quer­schnitts­flä­chen der abge­leg­ten Strän­ge. Schicht­hö­hen lie­gen häu­fig zwi­schen 1 und 3 mm, wodurch Ober­flä­chen­rau­hei­ten, Trep­pen­stu­fen­ef­fek­te und Min­destab­mes­sun­gen für Bau­teil­de­tails zuneh­men. An schar­fen Kan­ten kommt es zudem zur Ver­run­dung der Sollgeometrie.

Ther­mi­sches Ver­hal­ten: In den extru­dier­ten Strän­gen ist auf­grund ihres Volu­mens viel ther­mi­sche Ener­gie gespei­chert. Die­se wird im Bau­raum nur lang­sam an die Umge­bung abge­ge­ben, was zu einem Wär­me­stau füh­ren kann. Um resul­tie­ren­de ther­mi­sche Defor­ma­tio­nen zu ver­mei­den, kön­nen Aus­trags­ra­ten lokal redu­ziert oder eine akti­ve Bau­teil­küh­lung durch Druck­luft hin­zu­ge­zo­gen wer­den. Gleich­zei­tig ermög­licht die inhä­ren­te ther­mi­sche Ener­gie jedoch eine sehr gute Ver­schmel­zung der Strän­ge unter­ein­an­der und folg­lich hohe mecha­ni­sche Fes­tig­kei­ten6.

Ver­suchs­auf­bau

Der kon­kre­te Ver­suchs­auf­bau, wel­cher nach­fol­gend für die Her­stel­lung ortho­pä­di­scher Hilfs­mit­tel erprobt wird, ver­wen­det einen ExOn10-Extru­der der Fir­ma Doh­le7 mit Düsen­durch­mes­sern von 2 oder 3 mm. Zwei unab­hän­gi­ge Heiz­zo­nen sowie eine Luft­küh­lung angren­zen­der Berei­che ermög­li­chen die prä­zi­se Kon­trol­le der Ver­ar­bei­tungs­tem­pe­ra­tu­ren. Je nach Werk­stoff und Düsen­durch­mes­ser lie­gen die Extru­si­ons­ra­ten typi­scher­wei­se zwi­schen 0,2 und 1,0 kg/h, im Maxi­mum jedoch bei 6 kg/h. Der Extru­der ist orts­fest an einem Maschi­nen­ge­stell mon­tiert und extru­diert auf eine beheiz­te Bau­platt­form mit einem Bau­raum von 0,5 m Kan­ten­län­ge und drei Frei­heits­gra­den (Abb. 2). Ver­wen­de­te Mate­ria­li­en wer­den in den nach­fol­gen­den Anwen­dungs­fäl­len ein­zeln beleuchtet.

Anwen­dungs­fäl­le in der ortho­pä­die­tech­ni­schen Praxis

Her­stel­lung von Schuhleisten

Die tra­di­tio­nel­le Her­stel­lung von Holz­leis­ten für ortho­pä­di­sche Maß­schu­he ist sehr zeit- und arbeits­auf­wän­dig und daher ein pri­mä­res Ziel für die Auto­ma­ti­sie­rung durch den 3D-Druck. Zum Teil wird der Fer­ti­gungs­pro­zess bereits durch digi­ta­le Pro­zess­schrit­te unter­stützt. 3D-Scans am Pati­en­ten, ein auto­ma­ti­sches Frä­sen der Leis­ten oder sogar der direk­te FDM-Druck des Pro­be­schuhs kom­men bereits zum Ein­satz. Auch die Addi­ti­ve Fer­ti­gung des kom­plet­ten Leis­tens wird im Laser­sin­ter- und FDM-Ver­fah­ren ange­bo­ten8 9.

Die Mate­ri­al­an­for­de­run­gen an die Leis­ten sind kom­plex. Für eine mög­li­che Nach­be­ar­bei­tung soll­te das ver­wen­de­te Mate­ri­al schleif- und spach­tel­bar sein. Gleich­zei­tig muss es einer­seits fest genug sein, um der Druck­be­las­tung beim Bet­tungs­pres­sen stand­zu­hal­ten, ande­rer­seits aber auch das Ein­brin­gen von Nägeln ermög­li­chen. Als geeig­net hat sich ein ther­mo­plas­ti­sches Elas­to­mer (TPE) mit einer ver­gleichs­wei­se hohen Här­te von 40 Shore D her­aus­ge­stellt, wel­ches alle Anfor­de­run­gen erfüllt und homo­gen ver­druck­bar ist.

Die geo­me­tri­schen Anfor­de­run­gen von Leis­ten sind eher unvor­teil­haft für die Gra­nu­la­tex­tru­si­on. Die Arbeit des Schuh­ma­chers erfor­dert Trenn­ebe­nen im Leis­ten. Die Trenn­flä­chen ent­hal­ten bes­ten­falls bereits Boh­run­gen und Gewin­de zur Ver­schrau­bung sowie Form­ele­men­te für die prä­zi­se Aus­rich­tung zuein­an­der. Mit Schicht­hö­hen von ≥ 1 mm kön­nen die­se nicht aus­rei­chend genau gefer­tigt wer­den. Ins­be­son­de­re für drei­ge­teil­te Leis­ten wird daher der Fer­sen­be­reich im FDM-Ver­fah­ren gedruckt und bereits mit Ver­bin­dungs­ele­men­ten ver­se­hen. Der Knö­chel­be­reich sowie der Mit­tel- und Vor­fuß kön­nen mit dem Gra­nu­la­tex­tru­der her­ge­stellt wer­den (Abb. 3).

Der Vor­teil des Gra­nu­lat­dru­ckers wird bei Betrach­tung der Druck­zeit deut­lich. Wäh­rend Vor­der­fuß und Knö­chel­be­reich zusam­men in 90 min fer­tig­ge­stellt sind, erfor­dert das FDM-Bau­teil eine Druck­zeit von ca. 15 Stun­den. Die rei­nen Mate­ri­al­kos­ten des Gra­nu­lats sind mit etwa 2 Euro nahe­zu ver­nach­läs­sig­bar. Die­ser Vor­teil rela­ti­viert sich aller­dings bei Betrach­tung der not­wen­di­gen Nach­ar­beit. Ins­be­son­de­re für Leis­ten sind glat­te Ober­flä­chen not­wen­dig, um kei­ne unebe­nen Struk­tu­ren in das Fut­ter­le­der zu prä­gen. Auch die not­wen­di­ge Form­hal­tig­keit von weni­gen Mil­li­me­tern Umfangs­ab­wei­chung wird im Bereich der Fuß­spit­ze bis­her nicht erreicht. Das Schlei­fen und Spach­teln gestal­tet sich daher sehr auf­wän­dig, sodass gegen­über der kon­ven­tio­nel­len Fer­ti­gung kein Vor­teil ent­steht. Die Her­stel­lung von Leis­ten im Gra­nu­la­tex­tru­si­ons­ver­fah­ren ist somit aktu­ell weder wirt­schaft­lich noch tech­nisch sinnvoll.

Her­stel­lung von Test­schäf­ten in der Unterschenkelprothetik

Die Addi­ti­ve Fer­ti­gung von Test­schäf­ten für Bein­pro­the­sen unter­schei­det sich in ihren Anfor­de­run­gen deut­lich von Leis­ten. Die­se Schäf­te wer­den bereits im Tief­zieh­ver­fah­ren aus Kunst­stof­fen gefer­tigt, sodass ver­schie­de­ne Gra­nu­la­te die bestehen­den Mate­ri­al­an­for­de­run­gen erfül­len. Die Aus­wahl fällt auf Acryl­ni­tril-Buta­di­en-Sty­rol (ABS), wel­ches die Her­stel­lung kos­ten­güns­ti­ger, belast­ba­rer, schlag­zä­her und optisch hoch­wer­ti­ger Bau­tei­le ermöglicht.

Die digi­tal model­lier­te Geo­me­trie eines Schafts (Abb. 4) kann von Gra­nu­la­tex­tru­dern im ein­fachs­ten Fall inner­halb einer Stun­de in einer durch­ge­hen­den Bahn gedruckt wer­den (Abb. 5). Gro­ße Über­hän­ge im Bereich des Stump­fen­des wer­den durch akti­ve Küh­lung, varia­ble Schicht­hö­hen und lokal redu­zier­te Vor­schub­ge­schwin­dig­kei­ten rea­li­siert. Alter­na­tiv kann im digi­ta­len Modell bereits ein Sockel anmo­del­liert wer­den, wel­cher anschlie­ßend mit Boh­run­gen für die Adap­ti­on der Pro­the­sen­pass­tei­le ver­se­hen wird. Auch die Ver­wen­dung stan­da­ri­sier­ter Sockel, auf wel­che der Schaft addi­tiv auf­ge­baut wird, ist bereits erprobt10. Alle dem 3D-Druck nach­fol­gen­den Pro­zes­se erfol­gen ana­log zu tief­ge­zo­ge­nen Schäf­ten und umfas­sen das Zusä­gen und Schlei­fen des Schaf­trands sowie die Adap­tie­rung und Ver­schrau­bung der Struk­tur- und Funk­ti­ons­tei­le (Abb. 6).

Die Form­hal­tig­keit der addi­tiv gefer­tig­ten Schäf­te wird durch 3D-Scans mit einem Abgleich zwi­schen Soll- und Ist-Geo­me­trie sicher­ge­stellt. Abwei­chun­gen an der Man­tel­flä­che lie­gen bei weni­ger als 1 mm. Falls not­wen­dig, kön­nen Form­kor­rek­tu­ren vom Ortho­pä­die­tech­ni­ker durch simp­les ther­mi­sches Umfor­men mit einem Heiß­luft­ge­blä­se vor­ge­nom­men wer­den. Anwen­der beschrei­ben die Pass­form der Pro­be­schäf­te als sehr gut und neh­men die gro­be Ober­flä­chen­struk­tur unter den ver­wen­de­ten PUR- bzw. TPE-Linern nicht wahr. Bestehen­de Unter­su­chun­gen zei­gen sogar, dass eine geziel­te Tex­tu­rie­rung das Ver­rut­schen oder Ver­dre­hen der Pro­the­se ver­hin­dern kann11.

Die Her­stel­lung von Pro­be­schäf­ten durch Gra­nu­la­tex­tru­si­on ist dem­zu­fol­ge mög­lich. Für Inte­rims- oder Defi­ni­tiv­schäf­te gilt es, die mecha­ni­sche Fes­tig­keit der addi­tiv her­ge­stell­ten Schäf­te unter Lang­zeit­be­din­gun­gen zu prü­fen. Spe­zi­el­le Mess­grö­ßen für den qua­li­ta­ti­ven Ver­gleich zwi­schen 3D-gedruck­ten und her­kömm­lich gefer­tig­ten Hilfs­mit­teln haben sich bis­her nicht eta­bliert12. Eine ers­te Abschät­zung der Bau­teil­sta­bi­li­tät ist mit­hil­fe der maxi­ma­len Bie­ge­be­las­tun­gen für recht­eckig zuge­säg­te Pro­ben nach DIN ISO 1412513 mög­lich. Mit einer maxi­ma­len Bie­ge­fes­tig­keit von 57 ± 5 MPa in Strang­rich­tung bleibt die Belast­bar­keit des Aus­gangs­ma­te­ri­als im ver­druck­ten Zustand unver­än­dert. Senk­recht zur Strang­rich­tung wer­den 49 ± 2 MPa erreicht, was auf eine hohe Iso­tro­pie des Bau­teils hin­deu­tet. Eine umfäng­li­che Fes­tig­keits­prü­fung nach DIN EN ISO 1032814 steht noch aus.

Her­stel­lung von Korsetten

Die Ver­sor­gung von Pati­en­ten mit Ver­let­zun­gen oder Fehl­stel­lun­gen der Wir­bel­säu­le erfor­dert indi­vi­du­ell ange­pass­te Kor­set­te. Dafür wer­den aktu­ell meist PE-Kunst­stof­fe über gefräs­te PU-Schaum-Posi­ti­ve bzw. Gips­mo­del­le tief­ge­zo­gen, anschlie­ßend zuge­sägt, geschlif­fen und mit Pols­tern, Schnal­len etc. aus­ge­stat­tet. Die Addi­ti­ve Fer­ti­gung kann in die­sem Anwen­dungs­fall die Pro­zess­schrit­te Frä­sen und Tief­zie­hen erset­zen und den Kor­settroh­ling direkt fertigen.

Der 3D-Scan am Pati­en­ten und die digi­ta­le Model­lie­rung des Kor­setts ist als Vor­be­rei­tung des Fräs­ver­fah­rens bereits häu­fig im bis­he­ri­gen Her­stel­lungs­ver­fah­ren eta­bliert. Alter­na­tiv kön­nen Vor­rich­tun­gen ein­ge­setzt wer­den, die die Wir­kung des Kor­setts simu­lie­ren, um den 3D-Scan bereits in der kor­ri­gier­ten Kör­per­stel­lung durch­zu­füh­ren15. Aus­ge­hend vom 3D-Scan wird das Kor­sett-Halb­zeug in Druck­bah­nen über­setzt und inner­halb von 2–3 Stun­den her­ge­stellt (Abb. 7). Ver­gleichs­wer­te für die Addi­ti­ve Fer­ti­gung im Fila­mentver­fah­ren lie­gen bei Druck­zei­ten zwi­schen 48 und 56 Stun­den pro Kor­sett16. Der Druck­pfad für den Gra­nu­la­tex­tru­der ent­spricht einer Spi­ra­le mit nur einem Start- und End­punkt und ent­spre­chend gleich­mä­ßi­ger Bau­teil­qua­li­tät. Ver­schie­de­ne Wand­stär­ken kön­nen aus dem Ver­hält­nis von Mate­ri­al­aus­trag, Vor­schub und Schicht­hö­he ein­ge­stellt wer­den. So sind auch lokal ange­pass­te Stei­fig­kei­ten mög­lich. Die anschlie­ßen­de Nach­be­ar­bei­tung erfolgt ana­log zu aktu­ell ver­wen­de­ten PE-Kunst­stof­fen. Je nach Mate­ri­al­aus­wahl und medi­zi­ni­scher Anwen­dung kön­nen mehr­tei­li­ge Kor­set­te (Abb. 8) oder elas­ti­sche Ein­tei­ler her­ge­stellt werden.

Mit ver­wen­de­ten Schicht­hö­hen von 3 mm ent­steht auf der Ober­flä­che der Kor­set­te eine wel­li­ge Struk­tur. Die­se ist in der Anwen­dung nicht spür­bar, ins­be­son­de­re unter Ver­wen­dung dün­ner Pols­ter. Die Optik mit sicht­ba­ren Schich­ten wird von Pati­en­ten gut ange­nom­men und zählt mit­un­ter sogar als tech­ni­sches High­light. Eine digi­ta­le Pro­zess­ket­te inklu­si­ve Addi­ti­ver Fer­ti­gung des Kor­setts ist damit tech­no­lo­gisch mög­lich. Die rei­nen Mate­ri­al­kos­ten für einen Kor­settroh­ling aus ABS (Abb. 7) lie­gen bei ca. 6 Euro und tra­gen damit nur gering­fü­gig zu den anla­gen­spe­zi­fi­schen Investitions‑, Betriebs- und Per­so­nal­kos­ten bei.

Wei­te­re Anwen­dungs­fel­der und Ausblick

Die mög­li­chen Anwen­dun­gen der Addi­ti­ven Fer­ti­gung durch Gra­nu­la­tex­tru­si­on sind nicht auf Leis­ten, Pro­be­schäf­te und Kor­set­te beschränkt. Die Erpro­bung neu­er Anwen­dun­gen beinhal­tet stets die Aus­wahl eines geeig­ne­ten Mate­ri­als, die Opti­mie­rung der Rand­be­din­gun­gen für den Druck­pro­zess (Schicht­hö­he, Vor­schub­ge­schwin­dig­keit, Bau­teil­ori­en­tie­rung etc.) und die Ana­ly­se der gefer­tig­ten Bau­tei­le hin­sicht­lich ihrer Anfor­de­run­gen. Die Bau­teil­geo­me­trie gehört zu den pri­mä­ren Ein­schrän­kun­gen, da Details wie Boh­run­gen oft in der Grö­ßen­ord­nung des Düsen­durch­mes­sers lie­gen und nicht abge­bil­det wer­den kön­nen. Höhe­re Genau­ig­kei­ten und Auf­lö­sun­gen sind jedoch durch klei­ne­re Düsen­durch­mes­ser und ent­spre­chend ska­lier­te För­der­schne­cken­vo­lu­men realisierbar.

Ana­log zu her­kömm­li­chen FDM-Dru­ckern ist auch die Her­stel­lung von Mul­ti­ma­te­ri­al­bau­tei­len mög­lich. Dafür wer­den zwei Extru­der mit unter­schied­li­chen Kunst­stof­fen par­al­lel betrie­ben. In einem ers­ten Ver­such war die Her­stel­lung eines Schafts mit einem wei­chen, addi­tiv gefer­tig­ten Rand aus ther­mo­plas­ti­schem Poly­ure­than (TPU) mög­lich. Im glei­chen Ver­fah­ren ist die Ver­wen­dung von Stütz­struk­tu­ren bei­spiels­wei­se aus was­ser­lös­li­chem Mate­ri­al denkbar.

Geschäum­te Kunst­stof­fe ent­ste­hen durch das che­mi­sche oder phy­si­ka­li­sche Ein­brin­gen von Luft­bla­sen in die Poly­mer­schmel­ze. Die Addi­ti­ve Fer­ti­gung nach die­sem Ver­fah­ren befin­det sich in der Ent­wick­lung und ermög­licht poten­ti­ell die Her­stel­lung von nach­gie­bi­gen Bau­tei­len oder Leicht­bau­struk­tu­ren, bei­spiels­wei­se für ortho­pä­di­sche Sitzschalen.

Wei­te­re inter­es­san­te Ent­wick­lun­gen der Gra­nu­la­tex­tru­si­on betref­fen varia­bel ver­stell­ba­re Düsen­durch­mes­ser17, nicht-pla­na­re Bahn­geo­me­trien18 oder die direk­te Ver­ar­bei­tung von geschred­der­ten Kunst­stoff­ab­fäl­len19.

Fazit

Digi­ta­le Pro­zess­ket­ten haben sich in vie­len Geschäfts­be­rei­chen der Ortho­pä­die bereits eta­bliert und bil­den eine idea­le Grund­la­ge für den Ein­satz addi­ti­ver Tech­no­lo­gien. Bestehen­de Her­aus­for­de­run­gen, wie eine auf­wän­di­ge digi­ta­le Model­lie­rung oder feh­len­de Gestal­tungs­richt­li­ni­en, wer­den in der Indus­trie zuneh­mend adres­siert. Mit­tel­fris­tig ist das vor­han­de­ne Poten­ti­al zur teil­wei­sen Fer­ti­gungs­au­to­ma­ti­sie­rung, auch in Anbe­tracht des Fach­kräf­te­man­gels, zu groß, um es unge­nutzt zu lassen.

Ob sich die Gra­nu­la­tex­tru­si­on zur Her­stel­lung eines kon­kre­ten Hilfs­mit­tels eig­net, ist dabei stark von den geo­me­tri­schen Bau­teil­an­for­de­run­gen abhän­gig. Gewis­se Anwen­dungs­fäl­le, wie die Her­stel­lung von Pro­be­schäf­ten und Kor­set­ten, kön­nen von der Tech­no­lo­gie sehr gut abge­deckt wer­den. Die digi­ta­le Arbeits­vor­be­rei­tung und Anla­gen­be­die­nung erfol­gen dabei nahe­zu ana­log zum FDM-Druck. Not­wen­di­ge Nach­ar­bei­ten sind ver­gleich­bar mit her­kömm­li­chen Fer­ti­gungs­me­tho­den und kön­nen ohne zusätz­li­che Aus­stat­tung inner­halb der Ortho­pä­die­tech­nik erfol­gen. Im Ver­gleich zu ande­ren addi­ti­ven Ver­fah­ren fal­len ins­be­son­de­re Mate­ri­al­kos­ten und Druck­zeit deut­lich nied­ri­ger aus. Die Anschaf­fungs­kos­ten für die ein­fachs­ten kom­mer­zi­ell erhält­li­chen Gra­nu­lat­dru­cker sind aktu­ell mit pro­fes­sio­nel­len Fila­mentdru­ckern ver­gleich­bar. Ob sich die­se Inves­ti­ti­on bezahlt macht, ist sicher auch vom poten­ti­el­len Mehr­wert abhän­gig. So könn­te bei­spiels­wei­se die zeit­li­che Pro­zess­op­ti­mie­rung mit 3D-Scan, Addi­ti­ver Fer­ti­gung und Anpro­be in einem Ter­min einen Mehr­nut­zen für Unter­neh­men und Pati­en­ten bedeuten.

Bei sämt­li­chen Bemü­hun­gen zur Auto­ma­ti­sie­rung soll und wird kein tech­ni­sches Ver­fah­ren die indi­vi­du­el­le und per­sön­li­che Ana­mne­se, Befun­dung und Ver­sor­gung von Pati­en­ten erset­zen. Addi­ti­ve Fer­ti­gung bie­tet jedoch die Mög­lich­keit, Tei­le der Pro­zess­ket­ten so zu ver­ein­fa­chen, dass erfah­re­ne Mit­ar­bei­ter ihre Res­sour­cen an ande­rer Stel­le nut­zen können.

 

För­der­hin­weis
Das Ver­bund­vor­ha­ben „EPOP – Ent­wick­lung einer Pro­zess­ket­te zur Inte­gra­ti­on von groß­vo­lu­mi­ger addi­ti­ver Fer­ti­gungs­tech­no­lo­gie in den Her­stel­lungs­pro­zess von Orthe­sen & Pro­the­sen“ (För­der­kenn­zei­chen KK5091602SK0) wird durch das Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Wirt­schaft und Kli­ma­schutz (BMWK) auf­grund eines Beschlus­ses des Deut­schen Bun­des­ta­ges gefördert.

Für die Autoren:
Lukas Eck­hardt
Ernst-Abbe-Hoch­schu­le Jena
Carl-Zeiss-Pro­me­na­de 2
07745 Jena
additiveFertigung@ag-bliedtner.de
Tele­fon: 03641 205–184

 

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
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  15. Poh­lig GmbH. Sim­Brace® | Maxi­ma­le Kor­rek­tur bei best­mög­li­cher Funk­ti­on. https://www.pohlig.net/simbrace (Zugriff am 21.03.2023)
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