ISPO-Jah­res­kon­gress: Kin­der­or­tho­pä­die im Mittelpunkt

Der Jahreskongress des ISPO Deutschland e. V. fand am 15. und 16. Mai 2025 in der voll besetzten Turnhalle der Orthopädischen Kinderklinik Aschau im Chiemgau statt. Zwei Tage lang drehte sich alles um aktuelle Entwicklungen, Versorgungskonzepte und Herausforderungen in der Kinderorthopädie – und zwar interdisziplinär, praxisnah und fundiert.

Die tra­di­ti­ons­rei­che Ortho­pä­di­sche Kin­der­kli­nik Aschau, eine der größ­ten Ein­rich­tun­gen ihrer Art in Mit­tel­eu­ro­pa, bil­de­te den idea­len Rah­men für das dies­jäh­ri­ge Kon­gress­the­ma: „Kin­der­or­tho­pä­die im inter­dis­zi­pli­nä­ren Fokus“. Der Kon­gress wur­de in enger Koope­ra­ti­on zwi­schen der ISPO-Deutsch­land und dem „Kind im Zen­trum Chiem­gau“ (KIZ) orga­ni­siert und stieß durch sei­nen hohen fach­li­chen Tief­gang auf gro­ße Zustim­mung. Der wis­sen­schaft­li­chen Lei­tung Dr. Hans Forkl und OTM Micha­el Schä­fer war ein leben­di­ger Aus­tausch mit hoher the­ma­ti­scher Rele­vanz für die täg­li­che Pra­xis in der Ortho­pä­die-Tech­nik und den angren­zen­den Dis­zi­pli­nen sehr wich­tig. In der Kin­der­or­tho­pä­die ist das von ent­schei­den­der Bedeu­tung, denn hier müs­sen kom­ple­xe Situa­tio­nen in einem engen inter­dis­zi­pli­nä­ren Dia­log behan­delt wer­den. Ortho­pä­die-Tech­nik von der Stan­ge ist hier oft kei­ne Opti­on. Die Indi­vi­dua­li­tät in der Kin­der­or­tho­pä­die erfor­dert ent­spre­chend maß­ge­schnei­der­te Lösun­gen, die mit kon­fek­tio­nier­ter Ortho­pä­die-Tech­nik zumeist nicht abge­bil­det wer­den können.

Fach­lich breit gefä­cher­tes Programm

Der Kon­gress begann am ers­ten Tag mit einer Begrü­ßung und ers­ten Vor­trä­gen zur Gang­ana­ly­se in der Tech­ni­schen Ortho­pä­die. Unter Regie von Prof. Dr. Sebas­ti­an Wolf und Prof. Dr. Harald Böhm wur­den die mark­erlo­se Bewe­gungs­ana­ly­se und der Ein­satz digi­ta­ler Tools zur Hilfs­mit­tel­be­wer­tung the­ma­ti­siert. Die Bei­trä­ge aus den Gang­la­bo­ren in Stutt­gart durch Dr. Sonia D’Sou­za, Hei­del­berg durch Prof. Dr. Sebas­ti­an Wolf und Dipl.-Ing. Dani­el Heit­zmann sowie Aschau durch Prof. Dr. Harald Böhm wur­den durch die pra­xis­na­hen Bei­spie­le aus der OT-Werk­statt durch MSc. Mar­kus Mül­ler aus Göt­tin­gen abgerundet.

In der Ses­si­on wur­de Einig­keit dar­über erzielt, dass die Werk­zeu­ge defi­ni­tiv vali­de Ergeb­nis­se lie­fern kön­nen. Wie bei allen Mess­sys­te­men ist die Sen­si­ti­vi­tät und Spe­zi­fi­zi­tät jedoch nur aus­rei­chend, wenn die Fra­ge­stel­lung so gestellt wird, dass die Sys­te­me Ant­wor­ten lie­fern kön­nen. Kom­ple­xe Daten wie Kine­ma­tik und Kine­tik der gro­ßen Gelen­ke soll­ten nach wie vor über­wie­gend mar­ker­ba­siert erfasst wer­den. Denn ein nicht zu ver­nach­läs­si­gen­der Fak­tor fällt bei der mark­erlo­sen Gang­ana­ly­se weg: das Pal­pie­ren des Pati­en­ten und des­sen ana­to­mi­scher Landmarken.

Es folg­ten wert­vol­le Ses­si­ons zur Arth­ro­gry­po­sis mul­ti­plex con­ge­ni­ta (AMC) mit den Schwer­punk­ten der ortho­pä­di­schen Behand­lung durch Dr. med. Ste­phan Wie­ser, der Beson­der­hei­ten in der the­ra­peu­ti­schen Behand­lung durch Chris­tia­ne Bader und Susan­ne Frey­tag sowie der spe­zi­fi­schen Anfor­de­run­gen an die ortho­pä­die­tech­ni­sche Ver­sor­gung in der Tran­si­ti­on durch OTM Chris­ti­an Dumberger.

Bis auf den letzten Platz gefüllt war der Veranstaltungsort in Aschau. Foto: ISPO7Daniel Heitzmann
Bis auf den letz­ten Platz gefüllt war der Ver­an­stal­tungs­ort in Aschau. Foto: ISPO7Daniel Heitzmann

Im zwei­ten Ver­sor­gungs­block wur­de die Behand­lung ange­bo­re­ner Fehl­bil­dun­gen der obe­ren und unte­ren Extre­mi­tä­ten bear­bei­tet. Ins­be­son­de­re der Vor­trag zur ope­ra­ti­ven The­ra­pie bei ange­bo­re­nen Fehl­bil­dun­gen der Hand und der obe­ren Extre­mi­tät war sehr beein­dru­ckend. Dr. Anne Reiß vom Ham­bur­ger Kin­der­kran­ken­haus Wil­helm­stift hat die unter­schied­li­chen Optio­nen, wie eine Hand wie­der rekon­stru­iert wer­den kann, sehr anschau­lich dar­ge­stellt und dabei auch auf kul­tu­rel­le Fak­to­ren hin­ge­wie­sen, die welt­weit zu unter­schied­li­chen The­ra­pie­an­sät­zen füh­ren. Beson­ders pra­xis­nah war die Dis­kus­si­on über die post­ope­ra­ti­ve orthe­ti­sche The­ra­pie und manu­el­le Ansät­ze von OT Nico­le Ewers und der Kin­der­kran­ken­schwes­ter Maren Schelly.

Im Bereich der unte­ren Extre­mi­tät konn­te OA Hans Forkl auf die spe­zi­fi­schen Behand­lungs­kon­zep­te der Fehl­bil­dun­gen abhe­ben, bevor OTM Eli­sa­beth Kecht ein­drück­lich auf­zeig­te, dass Krea­ti­vi­tät in der Ver­sor­gung von Kin­dern mit Dys­me­li­en das A und O ist, um zu einem funk­tio­na­len Ergeb­nis für die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten zu kom­men. Moderns­te Fer­ti­gungs­ver­fah­ren sind hier­für kei­ne Vor­aus­set­zung, kön­nen aber dabei hel­fen, Lösun­gen zu fin­den, die sich mit tra­di­tio­nel­len Ver­fah­ren nur bedingt rea­li­sie­ren lassen.

Am Abend des ers­ten Ver­an­stal­tungs­ta­ges traf sich der Groß­teil der Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer auf der Schloss­bergalm in Aschau. Bei regio­na­len Spe­zia­li­tä­ten und Geträn­ken sowie bay­ri­scher musi­ka­li­scher Unter­ma­lung bot sich ein unge­zwun­ge­ner Rah­men für den kol­le­gia­len Aus­tausch. Ein abso­lu­tes High­light war die Key­note Speech von Dr. Leo­nard Döder­lein. Auf­grund sei­ner lang­jäh­ri­gen Tätig­keit als Chef­arzt in Aschau ließ er es sich nicht neh­men, die zehn wich­tigs­ten Regeln, die bei der ortho­pä­die­tech­ni­schen Ver­sor­gung im inter­dis­zi­pli­nä­ren Team zu beach­ten sind, in sei­ne umfang­rei­che Prä­sen­ta­ti­on ein­flie­ßen zu lassen.

In einem mit­rei­ßen­den Vor­trag teil­te er sei­ne lang­jäh­ri­ge Erfah­rung und Per­spek­ti­ven zur inter­dis­zi­pli­nä­ren Kin­der­or­tho­pä­die und ver­mit­tel­te das Gelern­te mit einer Pri­se Humor, um es bes­ser zu verinnerlichen.

Der zwei­te Tag wid­me­te sich aus­führ­lich der infan­ti­len Zere­bral­pa­re­se (ICP). In zwei auf­ein­an­der auf­bau­en­den Ses­si­ons wur­den zunächst vom aktu­el­len Chef­arzt der Aschau­er Kin­der­kli­nik, Dr. Fer­di­nand Wag­ner, sowie den The­ra­peu­ten Win­fried Wol­ke und Rosi Sill die kon­ser­va­ti­ven Behand­lungs­an­sät­ze dar­ge­stellt, bevor Prof. Dr. med. Frank Bra­atz aus Göt­tin­gen und Dr. med. Maya Salz­mann aus Mün­chen die ope­ra­ti­ven Behand­lungs­an­sät­ze und die dar­an angren­zen­den Reha­bi­li­ta­ti­ons­kon­zep­te und Ver­sor­gungs­lö­sun­gen vor­stel­len und in einen Kon­text zur Behand­lung set­zen konnten.

Die zwei­te Ses­si­on beschäf­tig­te sich mit den ortho­pä­die­tech­ni­schen Ver­sor­gungs­an­sät­zen. OTM Dani­el Schrei­ner hob auf die Beson­der­hei­ten der orthe­ti­schen Ver­sor­gung bei geh­fä­hi­gen Kin­dern mit ICP GMFCS 1 und 2 ab und konn­te damit direkt über­lei­ten zu Prof. Harald Böhm, der die Erkennt­nis­se aus der gang­ana­ly­ti­schen Betrach­tung des Kau­er­gangs darstellte.

Dipl.-Ing. Mer­kur Ali­mus­aj griff in sei­nen Aus­füh­run­gen die wich­ti­ge Pha­se der Tran­si­ti­on auf und beschrieb deren Her­aus­for­de­run­gen, an eine adäqua­te ärzt­li­che Wei­ter­be­hand­lung im Erwach­se­nen­al­ter und die damit in Ver­bin­dung ste­hen­de Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung zu gelangen.

OTM Eva-Maria Hauck-Etzel konn­te abschlie­ßend den Kon­gress­teil­neh­mern in einem sys­te­ma­tisch auf­ge­bau­ten Vor­trag die Beson­der­hei­ten einer adäqua­ten Sitz­scha­len-Ver­sor­gung von Kin­dern und Jugend­li­chen mit ICP GMFCS 4–5 veranschaulichen.

Pra­xis­nä­he dank Workshops

Das Pro­gramm wur­de durch drei pra­xis­ori­en­tier­te Work­shops, die von Indus­trie­part­nern unter­stützt wur­den, ergänzt. Die Teil­neh­men­den hat­ten die Chan­ce, jeden der drei ein­stün­di­gen Work­shops zu besu­chen, da die­se mehr­fach hin­ter­ein­an­der durch­ge­führt wurden.

Im Work­shop Num­mer eins brach­te Dr. Chris­tel Schä­fer dem Audi­to­ri­um die Pon­seti-Metho­de zur Klump­fuß­the­ra­pie näher. Die Klump­fuß­be­hand­lung nach Pon­seti ist nach wie vor das Mit­tel der Wahl und führt bei der über­wie­gen­den Zahl der Betrof­fe­nen zu sehr guten Ergeb­nis­sen, ohne dass eine gro­ße Ope­ra­ti­on not­wen­dig ist. Der Indus­trie­part­ner Seme­da stell­te hier­bei die Mög­lich­kei­ten der orthe­ti­schen Behand­lung nach dem seri­el­len Gip­sen und der mini­mal­in­va­si­ven OP vor.

Drei Workshops rundeten das Angebot des ISPO-Kongresses ab und vermittelten Erfahrung und Wissen aus der Praxis. Foto: ISPO/Daniel Heitzmann
Drei Work­shops run­de­ten das Ange­bot des ISPO-Kon­gres­ses ab und ver­mit­tel­ten Erfah­rung und Wis­sen aus der Pra­xis. Foto: ISPO/Daniel Heitzmann

Dr. Mat­thi­as Gög­gel führ­te in die Wachs­tums­len­kung am kind­li­chen Ske­lett ein und zeig­te die Mög­lich­kei­ten, mit­tels unter­schied­li­cher Plat­ten das Wachs­tum zu brem­sen oder zu len­ken, bei­spiels­wei­se bei einer vari­schen oder val­gi­schen Bein­ach­se. Der Indus­trie­part­ner Delos Medi­cal GmbH demons­trier­te die ent­spre­chen­den Pro­duk­te für die unter­schied­li­chen ope­ra­ti­ven und wachs­tums­len­ken­den The­ra­pien an ent­spre­chen­den Präparaten.

Vor Ort im KIZ-eige­nen Gang­la­bor wur­de auch eine mobi­le, mark­erlo­se Gang­ana­ly­se demons­triert. Prof. Harald Böhm stell­te sein Labor für die Demons­tra­ti­on zur Ver­fü­gung. Ein 2D-Sys­tem des Indus­trie­part­ners Con­tem­plas zeig­te viel­ver­spre­chen­de Ergeb­nis­se, die bei­spiels­wei­se zur Argu­men­ta­ti­on gegen­über den Kos­ten­trä­gern genutzt wer­den könn­ten. In einem Fall­bei­spiel konn­te bei einem jun­gen Pati­en­ten mit einer uni­la­te­ra­len CP und einem Fall­fuß mit­tels des 2D-Sys­tems eine ver­mehr­te Dor­sal­ex­ten­si­on in der Schwung­pha­se gezeigt wer­den. Dies ist mit dem blo­ßen Auge nur bedingt quan­ti­fi­zier­bar. In die­sem Sin­ne kann ein sol­ches Sys­tem einen ech­ten Mehr­wert für die täg­li­che Pra­xis und Doku­men­ta­ti­on von Pati­en­ten mit Hilfs­mit­teln bieten.

Den inhalt­li­chen Abschluss bil­de­te eine Ses­si­on zur Behand­lung der idio­pa­thi­schen Sko­lio­se. Nach einer ver­sor­gungs­na­hen Dar­stel­lung der unter­schied­li­chen Indi­ka­tio­nen und Behand­lungs­an­sät­ze wur­den von den OTM Miri­am Bom­mer und Mat­thi­as Heh­mann die kon­ser­va­ti­ven Ver­sor­gungs­an­sät­ze aus Orthe­tik und The­ra­pie dar­ge­stellt. Der Chef­arzt der Aschau­er Wir­bel­säu­len­chir­ur­gie, Dr. med Bro­nek Bosc­zyck, konn­te die Ses­si­on mit der Vor­stel­lung eines inno­va­ti­ven dyna­mi­schen Behand­lungs­an­sat­zes im Rah­men geplan­ter ope­ra­ti­ver Maß­nah­men abrunden.

Dani­el Heit­zmann, Micha­el Schäfer

ISPO Deutsch­land e. V.
Die ISPO Deutsch­land ist die deut­sche „Natio­nal Socie­ty“ der Inter­na­tio­nal Socie­ty for Pro­sthe­tics and Ortho­tics. Sie setzt sich für Wis­sen­schaft, For­schung, Fort­bil­dung und Pra­xis in der Tech­ni­schen Ortho­pä­die ein. Sie ver­eint Fach­kräf­te aus Medi­zin, Tech­nik und The­ra­pie mit dem Ziel, die qua­li­ta­ti­ve Ver­sor­gung von Men­schen mit Behin­de­run­gen kon­ti­nu­ier­lich zu för­dern und die Aus­bil­dung in die­sem Bereich zu ver­bes­sern. Der ISPO Deutsch­land e. V. bil­det dabei eine Brü­cke zu den inter­na­tio­na­len Anstren­gun­gen der ISPO. 

 

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