Die traditionsreiche Orthopädische Kinderklinik Aschau, eine der größten Einrichtungen ihrer Art in Mitteleuropa, bildete den idealen Rahmen für das diesjährige Kongressthema: „Kinderorthopädie im interdisziplinären Fokus“. Der Kongress wurde in enger Kooperation zwischen der ISPO-Deutschland und dem „Kind im Zentrum Chiemgau“ (KIZ) organisiert und stieß durch seinen hohen fachlichen Tiefgang auf große Zustimmung. Der wissenschaftlichen Leitung Dr. Hans Forkl und OTM Michael Schäfer war ein lebendiger Austausch mit hoher thematischer Relevanz für die tägliche Praxis in der Orthopädie-Technik und den angrenzenden Disziplinen sehr wichtig. In der Kinderorthopädie ist das von entscheidender Bedeutung, denn hier müssen komplexe Situationen in einem engen interdisziplinären Dialog behandelt werden. Orthopädie-Technik von der Stange ist hier oft keine Option. Die Individualität in der Kinderorthopädie erfordert entsprechend maßgeschneiderte Lösungen, die mit konfektionierter Orthopädie-Technik zumeist nicht abgebildet werden können.
Fachlich breit gefächertes Programm
Der Kongress begann am ersten Tag mit einer Begrüßung und ersten Vorträgen zur Ganganalyse in der Technischen Orthopädie. Unter Regie von Prof. Dr. Sebastian Wolf und Prof. Dr. Harald Böhm wurden die markerlose Bewegungsanalyse und der Einsatz digitaler Tools zur Hilfsmittelbewertung thematisiert. Die Beiträge aus den Ganglaboren in Stuttgart durch Dr. Sonia D’Souza, Heidelberg durch Prof. Dr. Sebastian Wolf und Dipl.-Ing. Daniel Heitzmann sowie Aschau durch Prof. Dr. Harald Böhm wurden durch die praxisnahen Beispiele aus der OT-Werkstatt durch MSc. Markus Müller aus Göttingen abgerundet.
In der Session wurde Einigkeit darüber erzielt, dass die Werkzeuge definitiv valide Ergebnisse liefern können. Wie bei allen Messsystemen ist die Sensitivität und Spezifizität jedoch nur ausreichend, wenn die Fragestellung so gestellt wird, dass die Systeme Antworten liefern können. Komplexe Daten wie Kinematik und Kinetik der großen Gelenke sollten nach wie vor überwiegend markerbasiert erfasst werden. Denn ein nicht zu vernachlässigender Faktor fällt bei der markerlosen Ganganalyse weg: das Palpieren des Patienten und dessen anatomischer Landmarken.
Es folgten wertvolle Sessions zur Arthrogryposis multiplex congenita (AMC) mit den Schwerpunkten der orthopädischen Behandlung durch Dr. med. Stephan Wieser, der Besonderheiten in der therapeutischen Behandlung durch Christiane Bader und Susanne Freytag sowie der spezifischen Anforderungen an die orthopädietechnische Versorgung in der Transition durch OTM Christian Dumberger.

Im zweiten Versorgungsblock wurde die Behandlung angeborener Fehlbildungen der oberen und unteren Extremitäten bearbeitet. Insbesondere der Vortrag zur operativen Therapie bei angeborenen Fehlbildungen der Hand und der oberen Extremität war sehr beeindruckend. Dr. Anne Reiß vom Hamburger Kinderkrankenhaus Wilhelmstift hat die unterschiedlichen Optionen, wie eine Hand wieder rekonstruiert werden kann, sehr anschaulich dargestellt und dabei auch auf kulturelle Faktoren hingewiesen, die weltweit zu unterschiedlichen Therapieansätzen führen. Besonders praxisnah war die Diskussion über die postoperative orthetische Therapie und manuelle Ansätze von OT Nicole Ewers und der Kinderkrankenschwester Maren Schelly.
Im Bereich der unteren Extremität konnte OA Hans Forkl auf die spezifischen Behandlungskonzepte der Fehlbildungen abheben, bevor OTM Elisabeth Kecht eindrücklich aufzeigte, dass Kreativität in der Versorgung von Kindern mit Dysmelien das A und O ist, um zu einem funktionalen Ergebnis für die Patientinnen und Patienten zu kommen. Modernste Fertigungsverfahren sind hierfür keine Voraussetzung, können aber dabei helfen, Lösungen zu finden, die sich mit traditionellen Verfahren nur bedingt realisieren lassen.
Am Abend des ersten Veranstaltungstages traf sich der Großteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf der Schlossbergalm in Aschau. Bei regionalen Spezialitäten und Getränken sowie bayrischer musikalischer Untermalung bot sich ein ungezwungener Rahmen für den kollegialen Austausch. Ein absolutes Highlight war die Keynote Speech von Dr. Leonard Döderlein. Aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit als Chefarzt in Aschau ließ er es sich nicht nehmen, die zehn wichtigsten Regeln, die bei der orthopädietechnischen Versorgung im interdisziplinären Team zu beachten sind, in seine umfangreiche Präsentation einfließen zu lassen.
In einem mitreißenden Vortrag teilte er seine langjährige Erfahrung und Perspektiven zur interdisziplinären Kinderorthopädie und vermittelte das Gelernte mit einer Prise Humor, um es besser zu verinnerlichen.
Der zweite Tag widmete sich ausführlich der infantilen Zerebralparese (ICP). In zwei aufeinander aufbauenden Sessions wurden zunächst vom aktuellen Chefarzt der Aschauer Kinderklinik, Dr. Ferdinand Wagner, sowie den Therapeuten Winfried Wolke und Rosi Sill die konservativen Behandlungsansätze dargestellt, bevor Prof. Dr. med. Frank Braatz aus Göttingen und Dr. med. Maya Salzmann aus München die operativen Behandlungsansätze und die daran angrenzenden Rehabilitationskonzepte und Versorgungslösungen vorstellen und in einen Kontext zur Behandlung setzen konnten.
Die zweite Session beschäftigte sich mit den orthopädietechnischen Versorgungsansätzen. OTM Daniel Schreiner hob auf die Besonderheiten der orthetischen Versorgung bei gehfähigen Kindern mit ICP GMFCS 1 und 2 ab und konnte damit direkt überleiten zu Prof. Harald Böhm, der die Erkenntnisse aus der ganganalytischen Betrachtung des Kauergangs darstellte.
Dipl.-Ing. Merkur Alimusaj griff in seinen Ausführungen die wichtige Phase der Transition auf und beschrieb deren Herausforderungen, an eine adäquate ärztliche Weiterbehandlung im Erwachsenenalter und die damit in Verbindung stehende Hilfsmittelversorgung zu gelangen.
OTM Eva-Maria Hauck-Etzel konnte abschließend den Kongressteilnehmern in einem systematisch aufgebauten Vortrag die Besonderheiten einer adäquaten Sitzschalen-Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit ICP GMFCS 4–5 veranschaulichen.
Praxisnähe dank Workshops
Das Programm wurde durch drei praxisorientierte Workshops, die von Industriepartnern unterstützt wurden, ergänzt. Die Teilnehmenden hatten die Chance, jeden der drei einstündigen Workshops zu besuchen, da diese mehrfach hintereinander durchgeführt wurden.
Im Workshop Nummer eins brachte Dr. Christel Schäfer dem Auditorium die Ponseti-Methode zur Klumpfußtherapie näher. Die Klumpfußbehandlung nach Ponseti ist nach wie vor das Mittel der Wahl und führt bei der überwiegenden Zahl der Betroffenen zu sehr guten Ergebnissen, ohne dass eine große Operation notwendig ist. Der Industriepartner Semeda stellte hierbei die Möglichkeiten der orthetischen Behandlung nach dem seriellen Gipsen und der minimalinvasiven OP vor.

Dr. Matthias Göggel führte in die Wachstumslenkung am kindlichen Skelett ein und zeigte die Möglichkeiten, mittels unterschiedlicher Platten das Wachstum zu bremsen oder zu lenken, beispielsweise bei einer varischen oder valgischen Beinachse. Der Industriepartner Delos Medical GmbH demonstrierte die entsprechenden Produkte für die unterschiedlichen operativen und wachstumslenkenden Therapien an entsprechenden Präparaten.
Vor Ort im KIZ-eigenen Ganglabor wurde auch eine mobile, markerlose Ganganalyse demonstriert. Prof. Harald Böhm stellte sein Labor für die Demonstration zur Verfügung. Ein 2D-System des Industriepartners Contemplas zeigte vielversprechende Ergebnisse, die beispielsweise zur Argumentation gegenüber den Kostenträgern genutzt werden könnten. In einem Fallbeispiel konnte bei einem jungen Patienten mit einer unilateralen CP und einem Fallfuß mittels des 2D-Systems eine vermehrte Dorsalextension in der Schwungphase gezeigt werden. Dies ist mit dem bloßen Auge nur bedingt quantifizierbar. In diesem Sinne kann ein solches System einen echten Mehrwert für die tägliche Praxis und Dokumentation von Patienten mit Hilfsmitteln bieten.
Den inhaltlichen Abschluss bildete eine Session zur Behandlung der idiopathischen Skoliose. Nach einer versorgungsnahen Darstellung der unterschiedlichen Indikationen und Behandlungsansätze wurden von den OTM Miriam Bommer und Matthias Hehmann die konservativen Versorgungsansätze aus Orthetik und Therapie dargestellt. Der Chefarzt der Aschauer Wirbelsäulenchirurgie, Dr. med Bronek Bosczyck, konnte die Session mit der Vorstellung eines innovativen dynamischen Behandlungsansatzes im Rahmen geplanter operativer Maßnahmen abrunden.
Daniel Heitzmann, Michael Schäfer
Die ISPO Deutschland ist die deutsche „National Society“ der International Society for Prosthetics and Orthotics. Sie setzt sich für Wissenschaft, Forschung, Fortbildung und Praxis in der Technischen Orthopädie ein. Sie vereint Fachkräfte aus Medizin, Technik und Therapie mit dem Ziel, die qualitative Versorgung von Menschen mit Behinderungen kontinuierlich zu fördern und die Ausbildung in diesem Bereich zu verbessern. Der ISPO Deutschland e. V. bildet dabei eine Brücke zu den internationalen Anstrengungen der ISPO.
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