Kampf um Sport­hilfs­mit­tel­ver­sor­gung ist „Skan­dal“

Seit 2009 ist Friedhelm Julius Beucher der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) und hat in dieser Zeit schon einmal Paralympische Sommerspiele in Europa erlebt. Nach London 2012 steht nun Paris im Mittelpunkt des internationalen Sports.

Wie ist die fran­zö­si­sche Haupt­stadt vor­be­rei­tet auf die Spie­le? Und was erwar­tet der Ver­bands­chef von sei­nen Athlet:innen? Die­se und wei­te­re Fra­gen beant­wor­tet Beu­cher im Inter­view mit der OT-Redaktion.

OT: Herr Beu­cher, Ende August star­ten in Paris die Para­lym­pi­schen Spie­le. Nach Süd­ame­ri­ka und Asi­en kom­men die Spie­le wie­der zurück nach Euro­pa. Spü­ren Sie eine gro­ße Vor­freu­de auf die kom­men­den Wochen?

Fried­helm Juli­us Beu­cher: In die Vor­freu­de mixt sich jetzt schon fast ein leich­tes Krib­beln. Die Wochen sind gut gefüllt mit Vor­be­rei­tungs­ar­bei­ten für mich und den Ver­band. Es steht die fina­le Kader­no­mi­nie­rung (am 19. Juli, Anm. d. Red.) in Ber­lin an, danach ist klar, mit wel­chen Ath­le­tin­nen und Ath­le­ten wir nach Paris fah­ren wer­den. Um eine erfolg­rei­che Para­lym­pics-Teil­nah­me zu haben, ist sehr viel Vor­ar­beit nötig. Unse­re gesam­te Dele­ga­ti­on wird aus rund 250 Per­so­nen bestehen, davon wer­den vor­aus­sicht­lich über 140 Ath­le­tin­nen und Ath­le­ten sein. Dazu kom­men noch Trai­ner, Ärz­te, Phy­sio­the­ra­peu­ten, unser Pres­se­team und auch ein Tier­arzt. Für die­ses Team muss alles vor­be­rei­tet werden.

OT: Im Ver­gleich zu den ver­gan­ge­nen Spie­len – hat Deutsch­land mehr Start­plät­ze oder weniger?

Beu­cher: Das Team wird grö­ßer sein als bei den Spie­len vor drei Jah­ren in Tokio. Ins­ge­samt neh­men dies­mal in Paris mehr als 180 Natio­nen an den Para­lym­pics teil. Es wer­den 4.400 Sport­le­rin­nen und Sport­ler star­ten – so inter­na­tio­nal und so groß waren die Spie­le noch nie. Klar ist aber auch: Mehr Natio­nen bedeu­tet, dass die vor­han­de­nen Start­plät­ze auf mehr Natio­nen auf­ge­teilt wer­den müs­sen und die ein­zel­ne Nati­on ten­den­zi­ell weni­ger Start­plät­ze zur Ver­fü­gung hat.

Inter­es­se so groß wie noch nie

OT: Wie groß ist das media­le Inter­es­se in Deutsch­land an den Paralympics?

Beu­cher: Das steigt wirk­lich täg­lich. Wir haben eine bis­her nie da gewe­se­ne Zahl von akkre­di­tier­ten Jour­na­lis­ten und da merkt man eben, dass die Spie­le qua­si vor der Haus­tür statt­fin­den. Wir haben seit lan­ger Zeit schon die Zusa­ge, dass in den öffent­lich-recht­li­chen Sen­dern im TV über 60 Stun­den live berich­tet wird. Und: Durch die feh­len­de Zeit­ver­schie­bung wer­den erst­mals para­lym­pi­sche Wett­kämp­fe in der Prime-Time zu sehen sein. Hin­zu kommt ein umfang­rei­ches Live­stream-Ange­bot. Auch die Eröff­nungs­fei­er bezie­hungs­wei­se die Schluss­fei­er wer­den live über­tra­gen. Für die Eröff­nungs­fei­er ist der DFB mit sei­nem Top­spiel des Pokals in den Vor­abend aus­ge­wi­chen. Ich fin­de, dass das eine sehr noble Ges­te ist und auch als Aner­ken­nung der Para­lym­pi­schen Bewe­gung ver­stan­den wer­den darf. Der Respekt vor unse­ren Sport­le­rin­nen und Sport­lern ist groß.

OT: Sind Sie damit zufrieden?

Beu­cher: Es gibt immer Luft nach oben, aber ich fin­de, wir haben uns sehr gut behaup­tet. Schließ­lich haben wir in Euro­pa mit der Tour de France, der Fuß­ball-Euro­pa­meis­ter­schaft und den Olym­pi­schen Spie­len einen tol­len Sport-Som­mer, der um die Auf­merk­sam­keit der Men­schen buhlt. Sieht man da die Zah­len unse­rer Kanä­le in den Sozia­len Medi­en, mit denen wir teil­wei­se Reich­wei­ten in Mil­lio­nen­hö­he erzie­len, dann haben wir unse­re Haus­auf­ga­ben gemacht.

OT: Wel­che Rück­mel­dun­gen bekom­men Sie von Athlet:innen über die Vor­be­rei­tun­gen auf Paris?

Beu­cher: Vie­le der Ath­le­tin­nen und Ath­le­ten befin­den sich rich­tig im Tun­nel und fokus­sie­ren sich auf das Ziel Paris. Vor allem natür­lich die­je­ni­gen, die bereits früh­zei­tig durch ihre Erfol­ge bei Welt­meis­ter­schaf­ten oder im Welt­cup wuss­ten, dass sie dabei sein wer­den. Außer­dem haben mir schon vie­le berich­tet, dass sie sich sehr dar­über freu­en, dass die Spie­le qua­si vor der Tür statt­fin­den. Und natür­lich ist Paris eine beson­de­re Stadt mit gro­ßer Strahl­kraft. Man muss sich das auf der Zun­ge zer­ge­hen las­sen: Die Roll­stuhlfech­ter tra­gen ihre Wett­kämp­fe im Grand Palais aus und auch ande­re Ath­le­tin­nen und Ath­le­ten wer­den an berühm­ten Monu­men­ten in Paris und im Umfeld um Medail­len kämpfen.

Erfolgs­bi­lanz ausbauen

OT: Wel­che Erwar­tun­gen haben Sie an das deut­sche Team?

Beu­cher: Wir sagen immer: Wir zäh­len nicht nur Medail­len, son­dern wenn die Bes­ten der Welt im Para-Sport zusam­men­kom­men, dann wis­sen wir auch den Wert eines vier­ten, fünf­ten oder ach­ten Plat­zes zu schät­zen. Acht­bes­ter in einer Welt von über sie­ben Mil­li­ar­den Men­schen und einem gro­ßen Anteil von Men­schen mit Behin­de­rung zu sein, ist ja auch eine beson­de­re Aus­zeich­nung. Trotz­dem sage ich auch mit einem leich­ten Augen­zwin­kern: Wir leh­nen kei­ne Medail­le ab, die erreicht wer­den kann und freu­en uns mit unse­ren Top-Ath­le­ten. Wobei ich mir bei vie­len ein­fach auch nichts ande­res vor­stel­len kann als einen Platz auf dem Trepp­chen oder sogar ganz oben. Wenn unse­re Ath­le­tin­nen und Ath­le­ten auf den Punkt genau im Wett­kampf das abru­fen kön­nen, was sie jetzt über Jah­re gezeigt haben, dann ist mir um die Erfolgs­bi­lanz nicht bange.

OT: Mit Blick auf die Aus­tra­gungs­or­te: Ist Paris für Para-Athlet:innen und deren Fami­li­en und Freun­de vorbereitet?

Beu­cher: Paris hat die glei­chen Defi­zi­te wie alle Groß­städ­te die­ser Welt: Sie sind nicht durch­gän­gig behin­der­ten­ge­recht. Men­schen mit Seh­be­hin­de­rung sto­ßen auf vie­le Hür­den oder es gibt bei­spiels­wei­se Metro-Sta­tio­nen, da kom­men sie mit dem Roll­stuhl nicht rein. Da ist zwar viel gemacht wor­den, aber am Ende muss es doch über Trans­port­diens­te sicher­ge­stellt wer­den. Grund­sätz­lich kann man aber sagen: Paris ist bar­rie­re­frei­er gewor­den. Fai­rer­wei­se muss ich ergän­zen: Die Stadt, die kom­plett bar­rie­re­frei ist, die muss erst noch geplant und gebaut werden.

OT: Sport und Poli­tik sind zwei The­men, die ger­ne getrennt wer­den. Bei den Win­ter­spie­len in Peking begann der Angriffs­krieg Russ­lands auf die Ukrai­ne. Nun geht ein star­ker Rechts­ruck durch das Gast­ge­ber­land Frank­reich. Muss der Sport sich auch poli­tisch positionieren?

Beu­cher: Unse­re Sport­le­rin­nen und Sport­ler erle­ben immer wie­der Dis­kri­mi­nie­rung. Sie erle­ben immer wie­der Frem­den­feind­lich­keit und sie erle­ben auch Ras­sis­mus. Vor die­sem Hin­ter­grund posi­tio­nie­ren wir uns – viel­leicht für den einen oder ande­ren deut­li­cher als ande­re – für Demo­kra­tie, gegen Ras­sis­mus, gegen Frem­den­feind­lich­keit und gegen Dis­kri­mi­nie­rung. Das ist ein­fach dem Umstand geschul­det, dass vie­le Men­schen nicht demo­kra­tisch den­ken. Das gilt für Paris, das gilt mitt­ler­wei­le in vie­len Län­dern auf der Welt, und das erle­ben wir ja auch hier bei uns in Deutsch­land mit den demo­kra­tie­feind­li­chen Bestre­bun­gen der AfD.

OT: Zurück zum Sport: In Paris wer­den die bes­ten Athlet:innen der Welt auf­ein­an­der­tref­fen. Wie sieht es aktu­ell im Nach­wuchs in Deutsch­land aus? Gibt es genü­gend inter­es­sier­te Kin­der und Jugend­li­che, die den Weg in den orga­ni­sier­ten Sport finden?

Beu­cher: Wir haben seit vie­len, vie­len Jah­ren ein grund­sätz­li­ches Nach­wuchs­pro­blem. Das ist vor allem der Tat­sa­che geschul­det, dass es zu wenig Ange­bo­te in der Flä­che für Behin­der­ten­sport gibt und neun von zehn Sport­stät­ten nicht bar­rie­re­frei sind. Ver­ein­facht gesagt: Vie­le, die Talen­te sein könn­ten, kön­nen ihr Talent nicht in ihrem Hei­mat­ort ent­wi­ckeln, weil ent­we­der der Weg zum nächs­ten Sport­ver­ein zu weit ist, kein Auto zur Ver­fü­gung steht, weil der Öffent­li­che Nah­ver­kehr nicht funk­tio­niert oder ein­fach kei­ne Hal­le die nöti­gen Anfor­de­run­gen erfüllt. Da haben wir aber in den ver­gan­ge­nen Jah­ren mehr als die Haus­auf­ga­ben gemacht und erfolg­ver­spre­chen­de Pro­jek­te auf den Weg gebracht wie das Hand­buch Behin­der­ten­sport oder die Platt­form parasport.de. Ein aktu­el­les Pro­jekt heißt „Teil­ha­be VER­EIN­facht“. Das ist auf die Regel­sport­ver­ei­ne aus­ge­legt, damit die­se Ange­bo­te im Behin­der­ten­sport oder im Kin­der-Reha­sport machen. Denn die rund 6.200 Behin­der­ten­sport­ver­ei­ne kön­nen flä­chen­mä­ßig auf das Gebiet der Bun­des­re­pu­blik bezo­gen den Bedarf nicht abde­cken, dass Jeder und Jede Gele­gen­heit zum Sport hat. Des­halb unser Appell an die Regel­sport­ver­ei­ne: Öff­net euch für den Behin­der­ten­sport, öff­net euch für inklu­si­ve Sportangebote!

OT: Wel­che Wei­chen müs­sen gestellt wer­den, damit die­se Zahl noch anwächst?

Beu­cher: Grund­sätz­lich: Das ist nicht nur eine Auf­ga­be für uns, das ist eine gesamt­ge­sell­schaft­li­che Auf­ga­be. Über 55 Pro­zent der Men­schen mit Behin­de­rung betrei­ben kei­nen Sport. Die sind nicht sport­faul, son­dern in vie­len, wenn nicht sogar in den meis­ten Fäl­len, kön­nen sie es schlicht­weg nicht.

OT: Stich­wort Hilfs­mit­tel: Top-Athlet:innen wer­den mit den bes­ten Ver­sor­gun­gen dank ihrer Koope­ra­ti­on mit der Indus­trie aus­ge­stat­tet. Wie sieht es Ihrer Erfah­rung nach bei Nachwuchssportler:innen aus?

Beu­cher: Es ist eigent­lich ein Skan­dal, dass Men­schen mit Behin­de­rung mit vie­len Kran­ken­kas­sen um die Sport­hilfs­mit­tel­ver­sor­gung kämp­fen müs­sen und sehr oft die Anträ­ge abge­lehnt wer­den. Da kom­men eini­ge Kran­ken­kas­sen ihrer Ver­pflich­tung, die Men­schen gleich zu behan­deln, nicht nach. Und das ist ein Rie­sen­pro­blem. Das wird dann immer dar­ge­stellt, als ob das nur Hob­by sei, Sport zu trei­ben. Dabei geht es auch um gesund­heit­li­che Prä­ven­ti­on. Ich habe gro­ße Beden­ken, dass die Zahl von 55 Pro­zent von Men­schen mit Behin­de­run­gen, die kei­nen Sport trei­ben, nach oben ansteigt. Des­halb ist es umso wich­ti­ger, dass man­che Ver­ei­ne ihr Geld zusam­men­krat­zen oder Crowd­fun­ding machen. Die sind da sehr krea­tiv unter­wegs, um jun­gen Men­schen die Chan­ce zu geben, Sport zu treiben.

Die Fra­gen stell­te Hei­ko Cordes.

Zur Per­son
Fried­helm Juli­us Beu­cher, Prä­si­dent des Deut­schen Behin­der­ten­sport­ver­ban­des (DBS), wur­de am 21. Juli 1946 gebo­ren. Nach dem Stu­di­um und Refe­ren­da­ri­at wur­de Beu­cher zunächst Leh­rer an einer Grund­schu­le, von 1981 bis 1990 war er als Rek­tor an einer Gemein­schafts­grund­schu­le tätig. Anschlie­ßend zog er von 1990 bis 2002 in den Deut­schen Bun­des­tag ein, wo er von 1998 bis 2002 den Vor­sitz des Sport­aus­schus­ses inne­hat­te. Nach sei­ner Zeit im Bun­des­tag kehr­te er bis zu sei­nem Ruhe­stand 2009 in den Schul­dienst zurück und wur­de erneut Rek­tor. Seit 2009 ist er Prä­si­dent des DBS. Er wur­de für sei­ne Ver­diens­te u. a. für den Behin­der­ten­sport mit dem Bun­des­ver­dienst­or­den 1. Klas­se ausgezeichnet. 

 

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