Korrekturen erforderlich
OT: Herr Stephan, im Frühjahr legte der GKV-Spitzenverband seinen 6. Bericht zur Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses vor. Bis Ende 2023 sollen laut GKV-Spitzenverband voraussichtlich alle 41 bestehenden Produktgruppen erneut überarbeitet sein – nach der 2018 abgeschlossenen Gesamtfortschreibung. Geht die Aktualisierung des HMV aus Ihrer Sicht in die richtige Richtung?
Nico Stephan: Grundsätzlich ist zu fragen, welche Aufgabe das HMV in der gesetzlichen Krankenversicherung überhaupt hat. Ursprünglich sollte der GKV-Spitzenverband in diesem Verzeichnis die durch die GKV erstattungsfähigen Hilfsmittel erfassen. Allerdings war das HMV von Beginn an nicht als abschließende Aufzählung gedacht, ist also keine verbindliche Positivliste, wie auch das Bundessozialgericht betont hat. Des Weiteren wurden ergänzend zu den im HMV aufgeführten Produkten produktspezifische Qualitätsmerkmale aufgenommen. Im Zuge weiterer Umgestaltungen wurde diese Konstruktion ausgebaut, sodass der GKV-Spitzenverband nach dem jetzigen Stand der Dinge weitere Qualitätskriterien einbeziehen kann – darunter zusätzliche Leistungen wie Versorgungsprozesse bzw. ‑konzepte, die im Zusammenhang mit den Hilfsmitteln stehen. Hier haben sich in der Vergangenheit aber viele Reibungspunkte ergeben.
OT: Weshalb?
Stephan: Weil der GKV-Spitzenverband sehr einseitig agiert. Entscheidungen über die Gestaltung von Versorgungsprozessen und hiermit im Zusammenhang stehende Qualitätsvorgaben sollten nicht allein in der Hand des Spitzenverbandes liegen. Berufsverbände bzw. Verbände der Leistungserbringer als Vertragspartner der gesetzlichen Krankenkassen müssten hier ein verbrieftes Mitspracherecht haben. Es sollte gemeinsame Aufgabe der Vertragspartner sein, notwendige Prozesse zu modellieren und Qualitätssicherung zu betreiben. Der GKV-Spitzenverband sollte wieder auf seinen originären Platz verwiesen werden und im HMV vor allem Produkte listen. Alles Weitere ist Sache der Vertragspartner und wird in den Verhandlungen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen geregelt sowie dann in den Verträgen festgeschrieben. Nicht zuletzt aufgrund der Kritik des Bundesamts für Soziale Sicherung, das in seinem Sonderbericht große Defizite bei der Hilfsmittelversorgung für gesetzliche Versicherte bemängelt hat, hat das Bundesministerium für Gesundheit nun Reformprozesse angestoßen. Im Zuge dessen regt beispielsweise der BIV-OT eine Neuausrichtung des HMV durch den Gesetzgeber an.
Rückbesinnung auf Kernaufgaben
OT: Wie soll diese neue Ausrichtung konkret aussehen?
Stephan: Grundlage ist die Rückbesinnung auf die Kernaufgaben des HMV als Produktverzeichnis. Alles, was darüber hinausgeht – zum Beispiel die Ausgestaltung von Versorgungsprozessen oder die Beschreibung der Versorgungsqualität – sollte in die Hände der Vertragspartner verlagert werden, damit eine Beteiligung der Betroffenen an entsprechenden Vorgaben stattfindet und nicht in berufsrechtliche Belange eingegriffen wird.
OT: Welche Bedeutung hätte dann das HMV?
Stephan: Das HMV wäre demnach ein reines Produktverzeichnis, das die notwendige Produktqualität beschreibt und im Rahmen der Vertragsgestaltung eine Orientierungsfunktion für die Vertragspartner einnimmt. Die Hoheit über weitere Parameter wie die Ausgestaltung der mit den Hilfsmitteln verbundenen Versorgungsprozesse wäre bei den Vertragspartnern angesiedelt. Statt einseitiger Festsetzung müsste dann darüber auf Augenhöhe verhandelt werden. Dies hätte außerdem den Vorteil, dass neue Verfahren schneller ihren Weg in die Verträge und damit zu den Patient:innen finden würden. Themen wie die Erarbeitung leitliniengerechter oder wissenschaftlich fundierter Prozesse fallen eher in den gemeinsamen Verantwortungsbereich der maßgeblichen Spitzenorganisationen von Krankenkassen und Leistungserbringern. Eine gemeinsame vertragliche Rechtssetzung wird die Akzeptanz modellierter Prozesse und Qualitätsanforderungen erhöhen.
Qualitätsstandards schaffen
OT: Sie sehen das HMV demzufolge nicht als Qualitätsstandard?
Stephan: Das HMV ist eine Orientierungsliste für Hilfsmittel, die entsprechend medizinischen Kriterien und Sicherheitsmerkmalen im Rahmen der Versorgung gesetzlich Versicherter zulasten der GKV abgegeben werden dürfen. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist kein Qualitätsinstrument für die komplette Hilfsmittelversorgung, sondern definiert lediglich die Grundanforderungen an die Produktqualität. Was Versorgungspfade und medizinische Prozesse anbelangt, kann der GKV-Spitzenverband nicht der alleinige „Herr aller Reußen“ (Theodor Fontane: „Erst kommt der Zar, der Herr aller Reußen, Dann kommt das offizielle Preußen.“ – aus „Aus der Gesellschaft“/„1. Hoffest“) sein. Hierfür muss man auf Berufsverbände und medizinische Fachgesellschaften zurückgreifen. Dass diese im Zuge des vom BMG initiierten Reformprozesses mehr Einfluss bekommen, wäre im Sinne der Versorgungsqualität sehr wünschenswert. Das würde Qualitätsstandards schaffen.
Mehr Verantwortung für Berufsverbände
OT: Die Berufsverbände würden damit stärker in die Verantwortung für eine qualitätsgesicherte Versorgung genommen?
Stephan: Ja. Insgesamt würde dies die Stellung der Berufsverbände stärken. Die Berufsverbände würden damit noch mehr Aufgaben als derzeit wahrnehmen und eine größere Verantwortung innerhalb des GKV-Systems tragen. Das ist die Bringschuld der Leistungserbringer im Sinne einer guten Versorgungsqualität für die Patient:innen.
OT: Wäre dann eine Mitgliedschaft in einem Berufsverband verpflichtend, um versorgen zu können?
Stephan: Nein. Unternehmen, die nicht in einem Berufsverband organisiert sind, müssen keinen Versorgungsausschluss befürchten und können sich über entsprechende Institutionen qualifizieren. Eine Verbandszugehörigkeit ist kein Kriterium. Das muss offen gestaltet werden.
Neue Struktur für mehr Mitbestimmung
OT: Die gesetzlich Versicherten haben gemäß § 2 SGB V einen Anspruch auf Leistungen, die in Qualität und Wirksamkeit „dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen“ haben. Wie wird das HMV dem gerecht – und das bundesweit einheitlich?
Stephan: Das kommt darauf an, was der Gesetzgeber möchte. Das HMV kann einen Beitrag dazu leisten – und zwar im Hinblick auf die Produkte und die Mindeststandards, die zur Produktqualität gesetzt werden sollten. Es kann aber kein vollumfängliches Verzeichnis für Versorgungsprozesse, ‑leitlinien und ‑pfade sein. Festlegungen dazu gehören in die verantwortungsvollen gemeinsamen Hände der Vertragspartner. Hierdurch wird sichergestellt, dass medizinische und versorgungstechnische Standards sowie der wissenschaftliche Erkenntnishorizont Eingang in die Versorgung finden. In der Vergangenheit haben wir es öfter erlebt, dass bei der Fortschreibung des HMV vorgetragene fachliche Hinweise und Anregungen im Anhörungsverfahren unkommentiert keine Beachtung gefunden haben. Deshalb wollen wir heraus aus der Passivität und eine aktive Beteiligung bei den grundlegenden Gestaltungsfragen.
OT: Kann das HMV in seiner derzeitigen Verfassung Innovationen der Versorgungsforschung sowie Innovationen allgemein ausreichend berücksichtigen?
Stephan: In Bezug auf die Gestaltung von Versorgungsprozessen: nein. Dazu braucht es – wie geschildert – eine neue Struktur. Über Innovationen kann nicht allein der GKV-Spitzenverband bestimmen.
OT: Haben Sie den Eindruck, dass sich der GKV-Spitzenverband bei der Fortführung des HMV insbesondere bei der Festlegung von Qualitätsparametern verbindlich an Leitlinien, Versorgungspfaden sowie Empfehlungen von medizinischen Fachgesellschaften orientiert?
Stephan: Da, wo es der GKV-Spitzenverband aus seiner einseitigen Betrachtung für sinnvoll erachtet, teilweise ja. In den vorgeschalteten Anhörungsprozessen ist unter anderem der BIV-OT beteiligt. Doch ich habe nicht den Eindruck, dass die dabei übermittelten Anmerkungen und Hinweise zu großen Teilen umgesetzt würden. Der GKV-Spitzenverband arbeitet insofern recht autark. Dabei ist es ein komplexes und umfangreiches Unterfangen, ein solches HMV zu pflegen und zu führen. Wenn neben den Produkten ebenfalls Qualitätsprozesse berücksichtigt werden sollen, wird es zur extrem umfangreichen Aufgabe. Schon um hier Entlastung zu schaffen, wäre die Rückführung auf ein reines Produktverzeichnis gegeben.
Persönliche Beratung in Gefahr
OT: 2021 wurde das Konzept einer rein digitalen Online-Einlagenversorgung von gesetzlich Versicherten auf Rezept per Selbstvermessung und im Versand vom BAS einkassiert. Damals erklärte die involvierte Barmer Krankenversicherung, sie würde gegebenenfalls Anpassungen im HMV anstreben (die OT berichtete). Ist ein solches Bemühen inzwischen tatsächlich spürbar geworden?
Stephan: Zumindest implizieren solche Äußerungen, dass bestimmte Einflussmöglichkeiten auf den GKV-Spitzenverband bestehen könnten. Auf jeden Fall untergraben sie das Vertrauen in die Neutralität eines solchen Spitzenverbands. Zudem erleben wir, dass es speziell beim Thema persönliche Beratung im HMV Veränderungen gab …
OT: … Sie meinen die PG 05 „Bandagen“?
Stephan: In der PG 05 wurde im Zuge der Fortschreibung des HMV die Anforderung der persönlichen Beratung gestrichen. In der Bekanntmachung heißt es: „Die Beratung der Versicherten oder des Versicherten über die für ihre oder seine konkrete Versorgungssituation geeigneten und notwendigen Hilfsmittel erfolgt im direkten Austausch – nach Möglichkeit vor Ort – durch geschulte Fachkräfte.“ Statt der persönlichen ist somit lediglich eine Beratung nötig – obwohl die persönliche Beratung aus Sicht des BIV-OT zwingend erforderlich ist. Bei der PG 17 „Hilfsmittel zur Kompressionstherapie“ beabsichtigt der GKV-Spitzenverband eine solche Streichung der persönlichen Beratung im Übrigen ebenfalls.
OT: Ist damit ein erster Schritt getan, um diese Hilfsmittel auf rein digitalem Weg zu vertreiben? An anderer Stelle in der Bekanntmachung des GKV-Spitzenverbands zur Fortschreibung der PG 05 vom Januar 2023 – beim Punkt Einweisung des Versicherten – steht ja nach wie vor: „Es erfolgt eine sachgerechte, persönliche Einweisung der Versicherten oder des Versicherten in den bestimmungsgemäßen Gebrauch“.
Stephan: Zumindest versucht man, die Möglichkeiten zu erweitern. Die Änderung hinsichtlich der Beratung gibt zum Beispiel neuen Onlinekonzepten Spielraum. Die Krankenkassen berufen sich dann einfach auf das aus deren Sicht unumstößliche HMV. Aus Sicht des BIV-OT gibt es aber die Vorschriften des Handwerksrechts und des SGB V sowie auch haftungsrechtliche Aspekte, die hier eigentlich deutliche Grenzen setzen. Denn das HMV hat – wie bereits erwähnt – weder den Status einer Leitlinie noch einer verbindlichen Positivliste. Dominostein für Dominostein wird hier aus meiner Sicht versucht, die Hilfsmittelversorgung kostensparend umzubauen. Doch Qualitätskriterien aufzuweichen ist keine Entwicklung im Sinne der Patient:innen.
OT: Ist es eigentlich nach wie vor möglich, Konzepte wie die 2021 vom BAS aus dem Verkehr gezogene rein digitale Online-Versorgung am Markt anzubieten – oder ist dem endgültig ein Riegel vorgeschoben?
Stephan: Im Wesentlichen gelten die durch die BAS-Entscheidung verdeutlichten Prinzipien genauso für andere Anbieter. Das BAS ist mit der Barmer in einen aufsichtsrechtlichen Dialog getreten. Die Barmer hat daraufhin die Online-Einlagenversorgung bzw. E‑Versorgung auf Kassenrezept eingestellt. Einen Bescheid oder eine offizielle Untersagungsverfügung brauchte es dazu nicht. Nach wie vor laufen aber Gerichtsverfahren zur Klärung der Angelegenheit. Werden solche Konzepte weiterhin am Markt präsentiert, kann dagegen vorgegangen werden. Vor allem aber ist dann das BAS als Aufsichtsbehörde gefragt. Wenn es diese Thematik gegenüber einer einzelnen Krankenkasse kritisiert hat, wäre es nicht korrekt, wenn andere Krankenkassen solche Angebote fortführen.
Keine Rückkehr zu Ausschreibungen
OT: Obwohl das Bundesgesundheitsministerium im 2019 in Kraft getretenen Terminservice- und Versorgungsgesetzes ein Ausschreibungsverbot für medizinische Hilfsmittel festgeschrieben hat, werden aus den Reihen der GKV immer wieder Rufe nach einer Rückkehr zur Ausschreibung laut. Unter anderem mit dem Verweis auf die regelmäßige Aktualisierung des HMV, durch welche die Qualität der Versorgung mittlerweile stets auf dem aktuellen Stand gehalten und damit gestärkt werde. Wie sehen Sie das?
Stephan: Diese Bestrebungen sprechen eindeutig gegen die Ausführungen des BAS, das ganz klar und mehrfach die Qualitätsverluste im Rahmen von Ausschreibungen benannt hat. Das hatte nichts mit der Qualität des HMV und dessen Aktualität zu tun. Die vertragliche Umsetzung in den Ausschreibungsverträgen war dadurch gekennzeichnet, dass monetäre Aspekte im Vordergrund standen. Das Thema Qualität trat in den Hintergrund und wurde nur mit Minimalanforderungen geregelt. Hinzu kam das fehlende Controlling seitens der Krankenkassen. Die Qualität der Versorgungen wurde nicht überprüft, weil der monetäre Vorteil überwog. Erst die Beschwerden durch Patient:innen haben zu Veränderungen geführt. Der aktuelle Stand des HMV ist eine untaugliche Begründung für eine Rückkehr zu Ausschreibungen. Bessere Ergebnisse sind da nicht zu erwarten. Denn das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.
OT: Wie bewerten Sie das Argument, nach dem Ende der Ausschreibungen hätte es massive Kostensteigerungen bei den Ausgaben für Hilfsmittel in der GKV gegeben?
Stephan: Das ist eine plakative Darstellung, die jeder Grundlage entbehrt. Ja, die Vertragsverhandlungen und ‑gestaltungen nach dem Ausschreibungszeitalter haben zu Preissteigerungen geführt, aber nur, weil wieder einigermaßen realistische Preise eingezogen sind. In vielen Bereichen haben wir aber bis heute noch immer nicht das Vergütungsniveau erreicht, welches es vor der Ausschreibungsära gab – und da sind die Kostensteigerungen der vergangenen Jahre durch Explosion der Energie- und Rohstoffpreise, erhöhte Lieferkosten, gestiegene Personalkosten und Inflation nicht berücksichtigt.
OT: Es gilt also nicht: mehr Wettbewerb – weniger Ausgaben?
Stephan: Aus den Ausführungen des BAS lässt sich ja entnehmen, dass der Hilfsmittelmarkt mit seinen komplexen Strukturen für rein wettbewerbliche Ansätze nicht geeignet ist. Dazu muss man sich den Auftrag der GKV ins Gedächtnis rufen, eine flächendeckende und wohnortnahe Versorgung sicherzustellen. Die Betriebe im Hilfsmittelbereich haben eine enorme Verantwortung, besonders in einer Zeit des Fachkräftemangels. Sie müssen in Versorgungslücken an der Grenze von ambulantem und stationärem Sektor springen, Schnittstellenarbeit leisten und die häusliche Versorgung gewährleisten. Das ist konträr zu großflächigen Ausschreibungen, die ganze Bundesländer in die Hände nur eines Leistungserbringers legen, der mittels Marktmacht und Preisdruck gewinnt. Der trägt dann die Verantwortung für ein riesiges Gebiet. Geht da etwas schief – weil beispielsweise die Qualität nicht stimmt –, ist die Versorgung der Patient:innen, oft ältere oder in ihrer Mobilität behinderte Menschen, nicht sichergestellt. Über den Preis ist die qualitätsgesicherte und wohnortnahe Versorgung nicht zu regeln. Ergebnis wäre ein Qualitätsverlust.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
- Das Handwerk trauert um Werner Dierolf — 28. September 2024
- Die OTWorld und das große Rauschen — 16. Mai 2024
- OT an die Welt – Die OTWorld 2024 ist in Leipzig gelandet — 14. Mai 2024