„Es braucht mehr als einen 2D-Scan, wie er gerade in der Online-Einlagenversorgung eingesetzt wird. Auch ein zusätzlicher Fragebogen liefert nicht alle relevanten Daten“, erklärt Dr. Annette Kerkhoff, Projektleiterin des Kompetenzzentrums Orthopädieschuhtechnik (KomZet O.S.T.), die zusammen mit Jürgen Stumpf, Mitglied im OST-Beratungsausschuss der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e. V. (DGOU), auf Initiative zahlreicher Fachverbände und ‑gesellschaften die Versorgungswelt für die OTWorld geplant hat. An fünf Stationen können die Besucher:innen die Komplexität des gesamten Prozesses der Versorgung von Patient:innen mit medizinischen Einlagen erleben – eine Gemeinschaftskonzeption des KomZet O.S.T., dem Zentralverband Orthopädieschuhtechnik (ZVOS) und dem Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT).
„Ich brauche deutlich mehr Daten“, sagt Jan Philipp Nollmann, Orthopädieschuhmacher-Meister und Dozent an der Bundesfachschule für Orthopädie-Schuhtechnik, und demonstriert an einem Freiwilligen der Besuchergruppe, dass es bereits zehn bis 15 Minuten der Befundung bedarf, bis der 2D-Scan überhaupt ins Spiel kommt: „Testet die Beweglichkeit der Gelenke, ertastet das Fettgewebe und die Sehnenspannung“, zählt der OTS einige der Parameter der Anamnese – Inspektion im Stehen, im Gehen sowie im Sitzen – auf. „Wenn ich nie einen Fuß in der Hand hatte, weiß ich nicht, was da los ist. Wenn ich Strukturen gesehen habe, kann ich mit dem Scan viel mehr anfangen.“ Auch nach dem Scan sei die Palpation noch nicht abgeschlossen und gehe über in die Untersuchung auf der Liege: „Kann ich im Beckenbereich etwas finden oder im Bereich der Schulter oder der Hüfte etwas erkennen? Was ergibt der Check der Kniegelenke und der Beinlängen?“, sensibilisiert Nollmann für ein genaues Hinschauen.
Erst dann komme mit der Bewegungsanalyse Dynamik ins Spiel. „Nicht bei jedem Patienten wird eine Gang- oder Videoanalyse gebraucht. Das hängt von dem Versorgungsziel ab“, so Nollmann. Gleiches gelte für die Druckmessung. „Aber den Gang sollte man sich schon anschauen.“
Ob man sich anschließend für die digitale Fertigung der Einlage oder die Fräse entscheidet: „Der Rohling muss individualisiert werden. Ich sollte die Einlage nicht einfach aus der Schublade ziehen. Standards sind gut, aber Anpassungen notwendig“, betont Nollmann. „Unser Anspruch ist es, bei jedem Patienten an die 100%-Grenze zu kommen“, ergänzt Kerkhoff.
Nach den Erfahrungen von Nollman ist dies auch der größte Aha-Effekt bei den meisten Besucher:innen am Ende des Rundgangs: „Wir müssten individueller arbeiten“, hört er bei seinen Führungen als Rückmeldung. „Oft hat sich in den Betrieben eine Routine eingeschliffen. Die Wichtigkeit des Patienten ist verlorengegangen“, so der Orthopädieschuhmacher-Meister. „Wenn ich einfach einen Rohling in den Schuh stecke und nichts verändere, bin ich selbst schuld. Einen Rohling kann man mit einfachen Mitteln individualisieren.“
Doch um eine gute Einlage abgeben zu können, ist nicht nur die richtige Produktauswahl wichtig. „Wenn ich den Schuh nicht kenne, kann ich keine gute Einlagenversorgung machen. Schuh und Einlage müssen eine Einheit bilden“, hebt Kerkhoff einen weiteren wesentlichen Unterschied zur Online-Versorgung heraus. Unerlässlich neben der Vorbereitung mit ihrer intensiven Datenerhebung und Definition von Versorgungszielen sei auch die Nachbereitung. Die Schlaufe – Kontrolle der Versorgungsziele und Anpassungen – werde so lange durchlaufen, bis das Produkt zu den Patient:innen passt. „Alle Schritte haben ihre Berechtigung und sollten eingehalten werden, angepasst an die Versorgungsziele“, unterstreicht das Versorgungswelt-Team unisono.
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