Code-Set für eine ICF-basier­te Ver­sor­gung mit Unter­schen­kel­or­the­sen (AFOs) – wie aus Schei­tern Erkennt­nis­ge­winn wird

B. C. Vehse, A. Espei, G. Kandel, B. Püttmann, P. Fröhlingsdorf
Unterschenkelorthesen sind eine häufige Versorgung bei Kindern mit neurologischen Grunderkrankungen. Auf der Grundlage der Domänen Struktur, Funktion, Aktivität und Teilhabe des biopsychosozialen Modells der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) sollte in der Arbeitsgruppe „Hilfsmittelversorgung“ des Netzwerks Cerebralparese e. V. eine Zuordnung festgelegter Orthesentypen zu Befundkonstellationen erarbeitet werden. Im Verlauf der Diskussionen zeigte sich, dass die Variabilität der Befunde und Versorgungsziele keine spezifische Differenzierung der Orthesenzuordnung über die ICF erlaubt. Um dennoch eine ICF-basierte Entscheidung bei der Auswahl einer geeigneten Unterschenkelorthese treffen zu können, wurde ein Code-Set als Orientierungshilfe entwickelt. Der aus diesem Prozess hervorgehende Erkenntnisgewinn unterstreicht die individuelle Versorgung unter Berücksichtigung der im Mittelpunkt stehenden Teilhabeziele der Kinder.

Ein­lei­tung

Die Arbeits­grup­pe „Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung“ des Netz­werks Cere­bral­pa­re­se e. V. hat mit der Erar­bei­tung einer Hilfs­mit­tel­ma­trix einen erfolg­rei­chen Bei­trag zur Sys­te­ma­ti­sie­rung der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung bei Zere­bral­pa­re­se in Deutsch­land geleis­tet 1. Was im Bereich der Reha- und Ortho­pä­die­tech­nik gut gelun­gen ist, soll­te nun für einen spe­zi­el­len Aspekt der Orthe­sen­ver­sor­gung ver­tieft wer­den: Das Ziel lau­tet, die Kri­te­ri­en der Inter­na­tio­na­len Klas­si­fi­ka­ti­on der Funk­ti­ons­fä­hig­keit, Behin­de­rung und Gesund­heit (Inter­na­tio­nal Clas­si­fi­ca­ti­on of Func­tio­ning, Disa­bi­li­ty and Health, ICF) der WHO 2 auf einen funk­tio­nel­len Bereich der Ver­sor­gung anzuwenden.

Die Arbeits­grup­pe aus Ortho­pä­die­tech­ni­kern, Ärz­ten sowie The­ra­peu­tin­nen und The­ra­peu­ten begann zu die­sem Zweck zunächst damit, die Eigen­schaf­ten ver­schie­de­ner Model­le von Unter­schen­kel­or­the­sen mit­tels der drei Domä­nen der ICF (Struktur/Funktion, Akti­vi­tät, Teil­ha­be) 2 zu beschrei­ben. Wäh­rend des Pro­zes­ses stell­te sich jedoch her­aus, dass die Struk­tur der Hilfs­mit­tel­ma­trix 1 nicht sche­ma­tisch auf hoch­in­di­vi­dua­li­sier­te Unter­schen­kel­or­the­sen über­tra­gen wer­den kann. Die mög­li­chen Beschrei­bungs­ka­te­go­rien bil­den die Eigen­schaf­ten zu undif­fe­ren­ziert ab, sodass eine indi­vi­du­el­le Kate­go­ri­sie­rung unmög­lich erschien. Durch inten­si­ve Dis­kus­sio­nen in der Grup­pe wur­de klar, dass die Eigen­schaf­ten der Orthe­sen viel­mehr in Bezug auf die indi­vi­du­el­len Pati­en­ten­be­dürf­nis­se beschrie­ben wer­den soll­ten, damit die ICF als Rah­men­kon­zept ver­wen­det wer­den kann und zu einem Erkennt­nis­ge­winn führt. Des­halb wird in die­sem Arti­kel kei­ne Produktma­trix beschrie­ben, son­dern der Pro­zess dis­ku­tiert, der zum vor­lie­gen­den Code-Set führ­te. Das erar­bei­te­te Code-Set dient der Erwei­te­rung des bestehen­den Set­tings bei Hilfs­mit­tel­ver­sor­gun­gen; es ersetzt nicht die Ana­mne­se- und Befund­er­he­bungs­stan­dards aus den Berei­chen Kör­per­funk­ti­on und ‑struk­tur wie etwa den Mus­kel­sta­tus und die Win­kel­stel­lun­gen der Gelen­ke in den sagittal‑, fron­tal- und trans­ver­sal-rota­to­ri­schen Bewe­gungs­ebe­nen (SFTR-Notie­rung mit­tels Neutral-Null-Methode).

Ziel des Projekts

Die Arbeits­grup­pe schlägt das erar­bei­te­te Code-Set als Gedan­ken­stüt­ze in der neu­ro­päd­ia­tri­schen, ortho­pä­di­schen und neu­ro­lo­gi­schen – im bes­ten Fall inter­dis­zi­pli­nä­ren – Sprech­stun­de vor. Es soll dazu ein­ge­setzt wer­den, die ganz­heit­li­che Sicht­wei­se, für die die ICF mit ihrem bio­psy­cho­so­zia­len Modell 2 steht, in den All­tag zu imple­men­tie­ren – gera­de in einem so funk­tio­nell gepräg­ten Bereich wie der Orthe­sen­ver­sor­gung. Durch eine geziel­te Berück­sich­ti­gung der drei gleich­be­rech­tig­ten Domä­nen (Struktur/Funktion, Akti­vi­tät, Teil­ha­be) wird die Fokus­sie­rung auf die Struk­tur- und Funk­ti­ons­ebe­ne ver­mie­den. Viel­mehr gilt es, den Pati­en­ten in sei­ner Gesamt­heit und in den für ihn rele­van­ten Aspek­ten sei­nes All­tags­le­bens zu berück­sich­ti­gen, ins­be­son­de­re in Bezug auf den Aspekt der Partizipation.

Beschrei­bung des Projekts/Methodik

Die Arbeits­grup­pe hat sich zur Erar­bei­tung eines Code-Sets zur ICF-basier­ten Ver­sor­gungs­struk­tur für AFOs zwei- bis drei­mal jähr­lich getrof­fen. Die 11 Mit­glie­der sind Ärz­te, The­ra­peu­tin­nen und The­ra­peu­ten sowie Tech­ni­ke­rin­nen und Tech­ni­ker, die teils in Kli­ni­ken, teils in Unter­neh­men tätig sind und auf unter­schied­li­che Wei­se in Orthe­sen- und Hilfs­mit­tel­ver­sor­gun­gen invol­viert sind. Alle Betei­lig­ten sind mit dem Grund­kon­zept der ICF gut ver­traut. Die Grund­zü­ge des bio­psy­cho­so­zia­len Modells und die die­sem zuge­ord­ne­ten Lebens­do­mä­nen und ‑kom­po­nen­ten wur­den zu Beginn des Pro­jekts durch ein Impuls­re­fe­rat ver­deut­licht, sodass alle Mit­glie­der der Pro­jekt­grup­pe mit dem glei­chen Grund­wis­sen in die Arbeit starteten.

Ers­ter Schritt: Über­tra­gung der Unterschenkel­orthesentypen in eine ­Hilfs­mit­tel­ma­trix – Aus­gangs­punkt Orthesentyp

Der ers­te Schritt bestand in einer Über­tra­gung der ver­schie­de­nen Typen von Unter­schen­kel­or­the­sen (s. die Lis­te unten) in eine Hilfs­mit­tel­ma­trix. Die drei Grund­do­mä­nen der ICF (Struktur/Funktion, Akti­vi­tät, Teil­ha­be) wur­den inner­halb der Matrix auf die y‑Achse auf­ge­tra­gen, auf der x‑Achse die GMFCS-Level 1 bis 5 (GMFCS = Gross Motor Func­tion Clas­si­fi­ca­ti­on Sys­tem) 3. Als drit­te Dimen­si­on kam das Alter der zu Ver­sor­gen­den hinzu.

Sodann wur­den die Unter­schen­kel­or­the­sen durch Abstim­mung in der Grup­pe mit­tels Del­phi-Pro­zess in die­ses Koor­di­na­ten­sys­tem ein­ge­ord­net. Zunächst redu­zier­te die Arbeits­grup­pe die ver­schie­de­nen Unter­schen­kel­or­the­sen­for­men, ‑kon­zep­te und ‑prin­zi­pi­en im Kon­sens­ver­fah­ren auf eine hand­hab­ba­re Anzahl. Es han­delt sich dabei um fol­gen­de acht Orthesentypen:

  1. AFO mit dyna­misch korrigie­ren­dem Knöchelgelenk
  2. AFO mit Car­bon­fe­der dorsal
  3. AFO aus Poly­pro­py­len (PP) sowie AFO aus PP mit Plantaranschlag
  4. DAFO
  5. Spi­ral­or­the­se
  6. Sili­kon­or­the­se
  7. Innen­schuh, umfas­send versteift
  8. Car­bon-Fer­tig- bzw. ‑Halb­fer­tig­erzeug­nis

Das Alter der Pati­en­ten erwies sich als Dimen­si­on zur Kate­go­ri­sie­rung bzw. Klas­si­fi­ka­ti­on von Unter­schen­kel­or­the­sen als wenig aus­sa­ge­kräf­tig. Des­halb wur­de die­se Dimen­si­on durch die Glie­de­rung einer all­ge­mein aner­kann­ten Struk­tur ersetzt – die Ams­ter­dam Gait Sca­le (AGS) 4. Somit bil­den GMFCS-Level, AGS und die Domä­nen der ICF die Dimen­sio­nen, mit denen die Eigen­schaf­ten der Unter­schen­kel­or­the­sen inner­halb der ent­wor­fe­nen Matrix beschrie­ben wer­den können.

Die­ser Pro­zess war sehr auf­schluss­reich, denn es wur­de deut­lich, inwie­fern das unter­schied­li­che Erfah­rungs­wis­sen der Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer die Aus­wahl der Unter­schen­kel­or­the­sen bestimm­te und wie indi­vi­du­ell die ver­schie­de­nen Kri­te­ri­en gewich­tet wur­den. Beson­ders bei den per­son­zen­trier­ten Dimen­sio­nen zeig­te sich die Sub­jek­ti­vi­tät der Beur­tei­lung: Die Mit­glie­der der Grup­pe hat­ten sehr unter­schied­li­che Auf­fas­sun­gen zu die­sem The­men­kom­plex, und es erwies sich als Heraus­forderung, die Orthe­sen in Bezug auf die­se Dimen­sio­nen dif­fe­ren­ziert zu beschreiben.

Bei der Zuord­nung der Orthe­sen­ei­gen­schaf­ten wur­den vie­le Aspek­te im Zusam­men­hang mit Kör­per­funk­tio­nen und ‑struk­tu­ren genannt – bei der Par­ti­zi­pa­ti­on dage­gen wur­de über­wie­gend der Aspekt des selbst­stän­di­gen oder zumin­dest leich­ten Anle­gens der Orthe­se ange­führt. In die­sem Zusam­men­hang wur­de inner­halb der Grup­pe kri­tisch ver­merkt, dass die ICF an die­ser Stel­le kei­ne stär­ke­re Dif­fe­ren­zie­rung erlaubt, obwohl die­ser Aspekt ein wich­ti­ges Aus­wahl­kri­te­ri­um in Bezug auf den Typ der AFO sein soll­te. Ledig­lich die Aspek­te „Lässt sich leicht anle­gen“ und „Lässt sich nur mit Auf­wand und Fach­kennt­nis anle­gen“ waren in die­sem Zusam­men­hang dif­fe­ren­zier­bar. Die Arbeits­grup­pe bestärk­te dies in der Wahr­neh­mung, dass die ICF mög­li­cher­wei­se kein geeig­ne­tes Instru­ment zur Beschrei­bung funk­tio­nell-par­ti­zi­pa­ti­ver Aspek­te kör­per­na­her Hilfs­mit­tel ist.

Zwei­ter Schritt: Ver­or­tung von AFOs in der Ori­en­tie­rungs­hil­fe „Hilfs­mit­tel­ma­trix 2.0“ – Aus­gangs­punkt Partizipation

Im Lau­fe der wei­te­ren Dis­kus­si­on wur­de immer deut­li­cher, dass der Aspekt der Par­ti­zi­pa­ti­on bei einer Ver­sor­gung mit Unter­schen­kel­or­the­sen in den Vor­der­grund zu stel­len ist. Beim Aspekt der Par­ti­zi­pa­ti­on geht es um die Belan­ge des Orthe­sen­nut­zers. Es ist zu ver­mu­ten, dass die Ursa­che für die unzu­rei­chen­de Dif­fe­ren­zie­rung in ers­ter Linie dar­in bestand, ein Pro­dukt mit­tels der Kate­go­rien der ICF zu beschrei­ben. Im Gegen­satz dazu beschreibt die ICF Gesund­heits­stö­run­gen von Per­so­nen. Ein kli­en­ten­zen­trier­ter Blick erfor­dert Ziel­for­mu­lie­run­gen auf Par­ti­zi­pa­ti­ons­ebe­ne; die Orthe­se muss sich die­ser Ziel­set­zung unter­ord­nen. Da die zu ent­wi­ckeln­de Matrix ein prak­ti­scher Weg­wei­ser zur im jewei­li­gen Fall geeig­ne­ten Unter­schen­kel­or­the­se sein soll­te, die eine Teil­ha­be am bes­ten ermög­licht, sam­mel­te die Arbeits­grup­pe zunächst gän­gi­ge Par­ti­zi­pa­ti­ons­zie­le, zum Bei­spiel: „In ver­schie­de­nen Orten und Situa­tio­nen zu gehen und sich fort­zu­be­we­gen, wie in einem Haus oder Gebäu­de von einem Raum in einen ande­ren gehen oder auf einer Stra­ße einer Stadt gehen“ (ICF-Code d460).

In der zu ent­wi­ckeln­den Matrix soll­ten die Eigen­schaf­ten beschrie­ben wer­den, die eine Orthe­se erfül­len muss, um die­se Zie­le zu errei­chen. Hier zeig­te sich jedoch, dass ein gro­bes, all­ge­mein­gül­ti­ges Teil­ha­be­ziel zur Beschrei­bung zu vie­ler Eigen­schaf­ten führt, das heißt, die Matrix wird auf die­se Wei­se zu sehr aus­ge­dehnt. Im indi­vi­du­el­len Fall las­sen sich die Par­ti­zi­pa­ti­ons­aspek­te so unter­schied­lich aus­le­gen, dass jeweils eine Viel­zahl von Orthe­sen­ver­sor­gun­gen zur Wahl steht. Ein Weg­wei­ser im Umfang von mehr als einer Sei­te böte nach all­ge­mei­ner Ein­schät­zung der Arbeits­grup­pe jedoch in kei­ner Sprech­stun­de oder Bera­tungs­si­tua­ti­on eine sinn­vol­le Hilfestellung.

Drit­ter Schritt: Umwand­lung der Matrix in ein Code-Set

Die Mit­glie­der der Arbeits­grup­pe for­mu­lier­ten dar­auf­hin eine neue Ziel­set­zung: Es galt nun­mehr, sich auf die ver­schie­de­nen Aspek­te der ICF zu kon­zen­trie­ren, um das Pati­en­ten­an­lie­gen in den Mit­tel­punkt zu stel­len. So ent­stand das vor­lie­gen­de Code-Set (Abb. 1): In einem kon­sens­ge­steu­er­ten Ver­fah­ren wur­den die rele­van­tes­ten Codes aus der ICF zusam­men­ge­fasst. Die­se Codes hat­ten sich in den Vor­ar­bei­ten der Grup­pe durch die gegen­sei­ti­ge Vor­stel­lung von Fall­bei­spie­len bereits her­aus­kris­tal­li­siert. Auch hier muss­te ein Aus­wahl- und Reduk­ti­ons­pro­zess durch­ge­führt wer­den, um das Code-Set hand­hab­bar zu hal­ten. Das letzt­lich ent­wi­ckel­te Arbeits­blatt ent­hält die rele­van­tes­ten ICF-Codes in Bezug auf die Ver­sor­gung mit Unter­schen­kel­or­the­sen und soll als Struk­tur­hil­fe in der Sprech­stun­de genutzt wer­den, um die mehr­schich­ti­gen Ver­sor­gungs­aspek­te im Blick zu behalten.

Das Arbeits­blatt erhebt kei­nen Anspruch auf Voll­stän­dig­keit. In Abbil­dung 1 ist das Code-Set detail­liert abge­bil­det. Im Fol­gen­den wird anhand zwei­er Fall­bei­spie­le die Anwen­dung des erar­bei­te­ten Code-Sets dar­ge­legt und somit des­sen Eig­nung für kon­kre­te Ver­sor­gungs­fäl­le aufgezeigt.

Fall­bei­spiel 1: Tethe­red-Cord-Syn­drom mit Hackenfußstellung

Pati­ent A ist 9 Jah­re alt. Er ist ein kraft­vol­ler und agi­ler Jun­ge mit ein­ge­schränk­ter Lauf­leis­tung und asym­me­tri­schem Gang­bild. Auf­grund einer Hacken­fuß­fehl­stel­lung links mit fer­sen­be­ton­ter Belas­tung bei Stel­lung des Fußes in Dor­sal­ex­ten­si­on wird er ortho­pä­die­tech­nisch ver­sorgt. Die ursäch­li­che ICD-codier­te Dia­gno­se 5 lau­tet „Ange­bo­re­ne Fehl­bil­dung des Rücken­marks“ (Q06.8). In die­sem Fall han­delt es sich um ein Tethe­red-Cord-Syn­drom und eine damit in Zusam­men­hang ste­hen­de erwor­be­ne pro­gres­si­ve Defor­mi­tät der Füße („Sons­ti­ge erwor­be­ne Defor­mi­tät des Knö­chels und des Fußes“, M21.6). Bei der Beob­ach­tung des Gang­bilds ist in der Stand­pha­se zu erken­nen, dass links­sei­tig kein Abroll- und Abstoß­ver­hal­ten vor­han­den ist. Im täg­li­chen Leben ist der Pati­ent dadurch zwar nur wenig beein­träch­tigt, aller­dings haben sich sei­ne Leis­tun­gen im Schul­sport sowie beim Spie­len in der Frei­zeit verschlechtert.

Kör­per­funk­tio­nen

Die Waden­mus­ku­la­tur des Pati­en­ten ist zu schwach, um das obe­re Sprung­ge­lenk in Rich­tung Dor­sal­ex­ten­si­on als Ant­ago­nis­ten zu sta­bi­li­sie­ren. Sowohl Mus­kel­to­nus als auch Mus­kel­kraft der Fuß­sen­ker sind nicht aus­rei­chend und wei­chen erheb­lich von der nor­ma­len Funk­ti­on ab (b715).

Akti­vi­tä­ten und Par­ti­zi­pa­ti­on

Das Gang­bild des Pati­en­ten weicht wegen der Hacken­fuß­stel­lung von der Norm ab; die funk­tio­nel­le Ein­schrän­kung im All­tag ist aller­dings nicht sehr groß und lässt sich daher mit dem Grad 1 („mäßi­ge Abwei­chung“, d4508.2.1) beschreiben.

Da der Pati­ent angibt, dass sei­ne sport­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit abneh­me, wird als Codie­rung der Leis­tungs­fä­hig­keit Grad 3 aus­ge­wählt („erheb­li­che Ein­schrän­kung“, d9201.3.3). Für den Pati­en­ten hat das Trai­ning im Sport­ver­ein eine gro­ße sozia­le Bedeu­tung; des­halb bezif­fert er sei­ne Ein­schrän­kung dar­in mit einer 3. Des Wei­te­ren stört ihn die Auf­fäl­lig­keit sei­nes asym­me­tri­schen Gangbildes.

Umwelt­fak­to­ren

Die Orthe­sen­ver­sor­gung, die den Hacken­fuß kor­ri­giert und kon­trol­liert, ermög­licht dem Pati­en­ten ein unauf­fäl­li­ges Gehen im All­tag und ein Lau­fen beim Sport. Die Orthe­se ist daher ein erheb­li­cher För­der­fak­tor und wird somit mit „e120+3“ beschrieben.

Die Dar­stel­lung des Befun­des erfolgt in die­sem Fall­bei­spiel anschau­lich direkt im bio­psy­cho­so­zia­len Modell, um den Bezug zur ICF zu ver­deut­li­chen (Abb. 2). Die Anga­be der ent­spre­chen­den Codes in der Gra­fik des bio­psy­cho­so­zia­len Modells in die­sem Fall­bei­spiel dient der Ver­an­schau­li­chung des Zusam­men­hangs der ICF-Struk­tur mit dem Code-Set.

ICF-basier­te Zie­le für den Pati­en­ten

  • Teil­ha­be: Mit den neu­en Orthe­sen soll der Pati­ent in der Lage sein, beim Sport nach 3 Mona­ten Trai­ning wie­der an sein altes Leis­tungs­ni­veau anzu­knüp­fen. Sein Gang­bild soll sym­me­trisch und mög­lichst unauf­fäl­lig sein.
  • Akti­vi­tät: Die Waden­mus­ku­la­tur soll nach 6 Mona­ten so kräf­tig sein, dass die Schnell­kraft beim Lau­fen aus­reicht, um 50 Meter in 30 Sekun­den zu laufen.
  • Kör­per­funk­ti­on: Der Mus­kel­to­nus soll durch die Orthe­se so sti­mu­liert wer­den, dass er aus­reicht, um das OSG tags­über in Neu­tral­stel­lung zu halten.
  • Kör­per­struk­tur: Das Tra­gen der  Orthe­se soll einer Zunah­me der  Hacken­fuß­stel­lung vorbeugen.

Schlussfolgerungen/Reflexion

Die Dar­stel­lung eines Befunds mit den Codes der ICF ist mög­lich, um die Ver­sor­gung aus­rei­chend zu begrün­den. Für detail­lier­te Aus­sa­gen über Fehl­stel­lun­gen etc. ist die ICF jedoch nicht geeig­net; des­halb bleibt ein aus­sa­ge­kräf­ti­ger kli­ni­scher Befund unver­zicht­bar. Die gra­fi­sche Dar­stel­lung im bio­psy­cho­so­zia­len Modell ver­deut­licht etwa­ige Lücken im Befund und gibt so den Hin­weis, die­se Bef­und­da­ten­a­ten zu ergänzen.

Im beschrie­be­nen Fall ist der Aspekt der Teil­ha­be für den Pati­en­ten von über­ge­ord­ne­ter Bedeu­tung. Dies führt zu einem inter­ven­ti­ons­lei­ten­den Teil­ha­be-Ziel. Die Orthe­se (Abb. 3) unter­stützt den Pati­en­ten des­halb da, wo sie für sei­ne Teil­ha­be ent­schei­dend ist. Als Effekt wird er sie ger­ne tra­gen und Unter­stüt­zung von sei­nem fami­liä­ren und sozia­len Umfeld erhalten.

Fall­bei­spiel 2: Ent­wick­lungs­ver­zö­ge­rung nach postpar­ta­ler Sep­sis mit mus­ku­lä­rer Hypo­to­nie und aus­ge­präg­tem Pes planovalgus

Pati­ent B ist 3 Jah­re und 5 Mona­te alt. Bei ihm wur­de eine mus­ku­lä­re Hypo­to­nie und eine Ent­wick­lungs­ver­zö­ge­rung nach postpar­ta­ler Sep­sis mit kon­se­ku­ti­vem Knick­senk­fuß beid­seits dia­gnos­ti­ziert. Die ent­spre­chen­den ICD-Codes lauten:

  • ICD P36 (Bak­te­ri­el­le Sep­sis beim Neugeborenen)
  • ICD M21.61 (Erwor­be­ner Knick-Platt­fuß [Pes planovalgus])
  • ICD M 21.06 (Genu val­gum bzw. Val­gus­de­for­mi­tät, ande­ren­orts nicht klas­si­fi­ziert: Unter­schen­kel [Fibu­la, Tibia, Kniegelenk])

Der Pati­ent ist ein agi­ler Jun­ge; er geht frei und ohne beson­de­re Ein­schrän­kun­gen. Aller­dings schafft er maxi­mal 200 m Geh­stre­cke – dann geht er wegen zuneh­men­der Schmer­zen im Sprung­ge­lenk und Erschöp­fung nicht wei­ter (schmerz­be­ding­te Geh­stre­cken­be­gren­zung, inef­fi­zi­en­tes Gang­bild). Die Dar­stel­lung des Befunds erfolgt in die­sem zwei­ten Fall­bei­spiel direkt im bio­psy­cho­so­zia­len Modell, um den Bezug zur ICF zu ver­deut­li­chen (Abb. 4).

Die Zie­le der Neu­ver­sor­gung mit „Cama­fo®“-Orthe­sen 6 (Abb. 5) wer­den bezo­gen auf die drei Domä­nen der ICF wie folgt formuliert:

ICF-basier­te Zie­le

  • Teil­ha­be: 4 Wochen nach Aus­lie­fe­rung der Orthe­sen soll der Pati­ent gemein­sam mit sei­nen Freun­den unter­schied­lich lan­ge Geh­stre­cken von bis zu 1.000 m schmerz­frei bewäl­ti­gen können.
  • Akti­vi­tät: Der Pati­ent soll nach 6 Wochen Nut­zungs­dau­er der Orthe­sen pro­blem­los auf Spiel­ge­rä­te und eine Wel­len­bahn klet­tern können.
  • Kör­per­funk­ti­on: Über­las­tungs­schmer­zen sol­len nach 2 Wochen Nut­zungs­dau­er nicht mehr auftreten.
  • Kör­per­struk­tur: Die ange­streb­te Kor­rek­tur­stel­lung des unte­ren Sprung­ge­lenks soll bei einem Bewe­gungs­um­fang von 30°-0°-40° (PF-0-DE) im OSG erhal­ten bleiben.

Eva­lua­ti­on

  1. Aus Tech­ni­ker­sicht: Mit den Orthe­sen bleibt die Gelenk­be­weg­lich­keit erhal­ten, die Gelenk­sta­bi­li­tät wird erhöht, und die patho­lo­gi­sche Abwei­chung wird aus­ge­schlos­sen. Die Mus­ku­la­tur kann ziel­ge­rich­tet arbei­ten. So wird ein öko­no­mi­sche­res Gang­bild erreicht und die Geh­stre­cke erwar­tungs­ge­mäß auf mehr als 1.000 m erweitert.
  2. Aus Pati­en­ten­sicht: Die Orthe­sen füh­len sich gut an, das Tra­gen wird pro­blem­los akzep­tiert, die Benut­zung der Spiel­ge­rä­te ist mög­lich, und der Pati­ent erwei­tert mit gro­ßer Freu­de sei­nen Aktionsradius.

Schlussfolgerungen/Reflexion

Auch in die­sem Fall­bei­spiel zeigt sich die Begrenzt­heit der ICF bei der Befund­be­schrei­bung: Geht es etwa um kon­kre­te Grad­zah­len der Gelenk­stel­lung und deren Ver­än­de­rung, so kön­nen die­se nicht ange­ge­ben wer­den. Auch hier ist ergän­zend die Anwen­dung eines klas­si­schen Befund­bo­gens bzw. Assess­ments nötig. Die Bedeu­tung des eigens ent­wi­ckel­ten Code-Sets „ICF und Orthe­sen“ besteht auch hier in der Beto­nung des Teil­ha­be­aspekts: Die Eva­lua­ti­on der in Fra­ge kom­men­den Orthe­sen erfolgt anhand der aus Pati­en­ten­sicht beson­ders bedeut­sa­men Akti­vi­tät der Benut­zung von Spiel­ge­rä­ten. Zwar ist es dar­über hin­aus sicher vor­teil­haft für den Pati­en­ten, wenn er län­ge­re Stre­cken gehen kann – der Aspekt der Nut­zung von Spiel­ge­rä­ten ist in die­sem Fall aber hand­lungs­lei­tend für die Aus­wahl der kon­kre­ten AFO.

Ergeb­nis

Um das Arbeits­blatt mit dem hier vor­ge­stell­ten Code-Set hand­hab­bar zu gestal­ten und es im All­tag sinn­voll anwen­den zu kön­nen, wur­de der Kon­sens erzielt, sich auf die drei­stel­li­gen Codes aus der ICF zu beschrän­ken. Dies hat den Vor­teil einer guten Hand­hab­bar­keit und Über­sicht­lich­keit: Es ist auf einen Blick fest­zu­stel­len, ob aus jedem der vier far­big mar­kier­ten Berei­che der ICF-Struk­tur min­des­tens ein Code ver­wen­det wird. Die Bef­und­do­ku­men­ta­ti­on soll­te nach Bedarf ergänzt wer­den, zum Bei­spiel im Fal­le von Versorgungsbegründungen.

Fazit

Durch den hier vor­ge­stell­ten Ansatz einer Anwen­dung der ICF auf einen spe­zi­el­len Ver­sor­gungs­be­reich hat sich gezeigt, dass dabei stets der Mensch im Mit­tel­punkt der Betrach­tung ste­hen muss – nicht das zu ver­ord­nen­de Hilfs­mit­tel. Dies ist eine Erklä­rung, war­um der ursprüng­li­che Plan, eine ICF-basier­te AFO-Matrix inklu­si­ve der Zuwei­sung bestimm­ter Orthe­sen­ty­pen zu ent­wi­ckeln, nicht umzu­set­zen war. Die Dis­kus­si­on in der Pro­jekt­grup­pe und die aus­gie­bi­ge Beschäf­ti­gung mit der Mate­rie hat einen tie­fer­grei­fen­den Erkennt­nis­ge­winn erbracht: Eine Ver­sor­gung mit Unter­schen­kel­or­the­sen für Kin­der und Jugend­li­che kann nicht sche­ma­ti­siert wer­den und muss wei­ter­hin indi­vi­du­ell erfol­gen – und zwar unter Berück­sich­ti­gung aller Teil­aspek­te des bio­psy­cho­so­zia­len Modells der ICF. Eine brei­te Anwen­dung des hier vor­ge­stell­ten Code-Sets in den (inter­dis­zi­pli­nä­ren) Sprech­stun­den ist aus Sicht der Autoren geeig­net, den Weg in eine kli­en­ten­zen­trier­te­re und teil­ha­be­ori­en­tier­te­re Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung zu weisen.

Dank­sa­gung

Die Autoren dan­ken allen Exper­tin­nen und Exper­ten des Hilfs­mit­tel­mo­duls des Netz­werks Cere­bral­pa­re­se e. V. für die enga­gier­te Zusammenarbeit.

Für die Autoren:
Peter Fröh­lings­dorf, OTM 
Vor­stands­mit­glied
Netz­werk Cere­bral­pa­re­se e. V. – Ver­ein zur För­de­rung ver­netz­ter CP-Versorgung
Lüt­gen­dort­mun­der Str. 153
44388 Dort­mund
peter.froehlingsdorf@web.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Veh­se BC, Espei A, Kan­del G, Pütt­mann B, Fröh­lings­dorf P. Code-Set für eine ICF-basier­te Ver­sor­gung mit Unter­schen­kel­or­the­sen (AFOs) – wie aus Schei­tern Erkennt­nis­ge­winn wird. Ortho­pä­die Tech­nik, 2022; 73 (3): 34–39
  1. Fröh­lings­dorf P, Veh­se BC, Herz D, Stein­e­bach S. Hilfs­mit­tel­ma­trix Cere­bral­pa­re­se – eine Ori­en­tie­rungs­hil­fe für die Behand­lung von Kin­dern mit CP. Ortho­pä­die Tech­nik, 2016; 67 (7): 56–61
  2. Die Inter­na­tio­nal Clas­si­fi­ca­ti­on of Func­tio­ning, Disa­bi­li­ty and Health (ICF) ist eine Klas­si­fi­ka­ti­on der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on (WHO). Die deutsch­spra­chi­ge Über­set­zung: Inter­na­tio­na­le Klas­si­fi­ka­ti­on der Funk­ti­ons­fä­hig­keit, Behin­de­rung und Gesund­heit. Stand Okto­ber 2005. https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Kodiersysteme/klassifikationen/icf/icfbp2005_zip.html?nn=841246&cms_dlConfirm=true&cms_calledFromDoc=841246 ) (Zugriff am 07.02.2022)
  3. Rosen­baum PL, Pali­s­a­no RJ, Bart­lett DJ, et al. Deve­lo­p­ment of the gross motor func­tion clas­si­fi­ca­ti­on sys­tem for cere­bral pal­sy. Dev Med Child Neu­rol, 2008;  50 (4): 249–253
  4. Rod­da, H. K. Gra­ham Aus. Clas­si­fi­ca­ti­on of gait pat­terns in spas­tic hemi­ple­gia and spas­tic diple­gia: a basis for a manage­ment algo­rithm. Euro­pean Jour­nal of Neu­ro­lo­gy Rod­da. (11)2001; 8 Sup­pl, 5:98–108. doi: 10.1046/j.1468–1331.2001.00042.x. PMID: 11851738.
  5. Bun­des­in­sti­tut für Arz­nei­mit­tel und Medi­zin­pro­duk­te (Hrsg.). ICD-10, Inter­na­tio­na­le sta­tis­ti­sche Klas­si­fi­ka­ti­on der Krank­hei­ten und ver­wand­ter Gesund­heits­pro­ble­me. 10. Revi­si­on. Ger­man Modi­fi­ca­ti­on, Ver­si­on 2021 (ICD-10-GM, Ver­si­on 2021). Mit Aktua­li­sie­run­gen vom 11.11.2020 und 10.03.2021. https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/
    htmlgm2021/ (Zugriff am 07.02.2022)
  6. Kan­del G, Beh­rens K, Fröh­lings­dorf P. Eine neue Orthe­se für die Fuß­ver­sor­gung von Kin­dern – Ein Erfah­rungs­be­richt. Ortho­pädie Tech­nik, 2017; 68 (2): 36–39
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