Beson­de­re Schaft­ge­stal­tun­gen und ‑tech­ni­ken für beson­de­re Stümpfe

R. Botta, C. Schneider
Die Operationstechnik für Amputationen an der unteren Extremität ist weitestgehend standardisiert, somit lassen sich die meisten Stümpfe ebenfalls standardisiert versorgen. Bisweilen fordern aber die Begleitumstände der Amputation Kompromisse bei der Stumpfgestaltung, oder die Stumpfform ergibt sich aus einem angeborenen Gliedmaßendefekt. Um einen solchen atypischen Beinstumpf zu versorgen, gibt es verschiedenste Arten und Herangehensweisen – die Auswahl an Materialien und Techniken vergrößert sich von Tag zu Tag und eröffnet immer neue Möglichkeiten. Eine erfolgreiche Versorgung atypischer Stümpfe hängt aber in erster Linie von den Fähigkeiten und dem Geschick der Technikerinnen und Techniker und erst in zweiter Linie vom Material und der Technik ab. Im folgenden Artikel werden anhand von sechs Fallbeispielen die Herausforderungen und Lösungsansätze bei der Versorgung besonderer Stümpfe geschildert und diskutiert.

Ein­lei­tung

Bei allen Ver­sor­gun­gen von Men­schen mit Ampu­ta­ti­on der unte­ren Extre­mi­tät lau­tet das Ziel, ihnen weit­ge­hen­de Selbst­stän­dig­keit und ein mög­lichst nor­ma­les Leben im All­tag zu ermög­li­chen 1. Daher ver­lan­gen ins­be­son­de­re spe­zi­el­le Stumpf­for­men und Aus­gangs­la­gen auch beson­de­re Schaft­for­men und Schaft­tech­ni­ken 2. Carbon‑, Sili­kon- und 3D-Druck-Tech­ni­ken allein erge­ben nicht auto­ma­tisch eine adäqua­te Pro­the­se, aber sie unter­stüt­zen die Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin­nen und ‑tech­ni­ker bei einer erfolg­rei­chen Ver­sor­gung auch schwie­ri­ger Fäl­le 3 4 5.

All­ge­mein­gül­ti­ge Gebrauchs­an­wei­sun­gen oder die ein­schlä­gi­ge Lite­ra­tur sind bei aty­pi­schen Bein­stümp­fen, um die es im Fol­gen­den geht, sel­ten hilf­reich, denn jeder Fall ist anders und die spe­zi­ell zu fer­ti­gen­den Lösun­gen indi­vi­du­ell sehr unter­schied­lich. Ande­rer­seits ist es in sol­chen Fäl­len manch­mal ziel­füh­rend, auf bekann­te und bewähr­te Tech­ni­ken zurück­zu­grei­fen. Auch bei Fol­ge­ver­sor­gun­gen lang­jäh­ri­ger Pati­en­ten wird oft­mals ein Pro­the­sen­typ genutzt, der ihnen schon bekannt ist. Denn bei einem Pro­the­sen­trä­ger, der seit 50 Jah­ren den glei­chen Pro­the­sen­typ trägt, ver­ur­sacht eine neue Art der Ver­sor­gung oft unnö­ti­ge Mühe für alle Betei­lig­ten und nicht zuletzt hohe Kos­ten, wenn man nach frus­tra­nen Ver­su­chen letzt­lich doch wie­der zum Bewähr­ten zurück­kehrt. Bis­wei­len lässt auch die mani­fes­te Adap­ti­on der Mus­ku­la­tur und Weich­tei­le an den lang­jäh­rig genutz­ten Pro­the­sen­typ kei­ne Umstel­lung auf neue Kon­zep­te zu. Ins­be­son­de­re bei der Ver­sor­gung älte­rer Pati­en­ten soll­te man dar­über hin­aus auch die Hand­ha­bung berück­sich­ti­gen 6; z. B. las­sen sich mit Bän­dern Ver­län­ge­run­gen an den Strümp­fen bzw. am Weich­wand­schaft schaf­fen oder even­tu­ell das Ven­til­loch bei einer Ober­schen­kel­pro­the­se ein­fach auf die ande­re Sei­te versetzen.

Die Ver­fas­ser haben im Jahr 2020 mehr als 150 Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit Bein­pro­the­sen ver­sorgt. Die ver­schie­de­nen Typen tei­len sich wie folgt auf:

  • 50 % Liner-Prothesen,
  • 25 % Pro­the­sen mit Soft­so­cket und
  • 25 % sons­ti­ge Pro­the­sen, dar­un­ter fal­len „Hybrid­pro­the­sen“ (mit Liner und Aus­gleich­soft­so­cket), ISNY-Schäf­te (fes­ter Rah­men mit fle­xi­blem Innen­schaft für Knie-Ex), Oberschenkel‑, Hüf­tex- und Fußprothesen.

Im Fol­gen­den wird anhand von sechs Fall­bei­spie­len erläu­tert, wel­che Vor­ge­hens­wei­sen bei der Ver­sor­gung beson­de­rer Stümp­fe sinn­voll sind, um den Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mehr Lebens­qua­li­tät zu bie­ten. Die gewähl­ten Bei­spie­le rei­chen vom ange­bo­re­nen Unter­schen­kel­stumpf bis zum kur­zen Ober­schen­kel­stumpf mit beson­de­rer Herausforderung.

Fall­bei­spiel 1: Ange­bo­re­ner Unter­schen­kel­stumpf ohne Tibia mit late­ra­ler Knie­hy­per­la­xie (Abb. 1)

Bei der heu­te 56-jäh­ri­gen Pati­en­tin zeigt sich eine Glied­ma­ßen­fehl­bil­dung in Form eines ange­bo­re­nen Unter­schen­kel­stumpfs mit feh­len­der Tibia. Das vor­han­de­ne Waden­bein wur­de kurz nach der Geburt ope­ra­tiv distal unter dem Femur plat­ziert. Dabei ist die Fibu­la sehr kurz, sodass sich der Stumpf als sehr wei­che, ver­schieb­li­che Mas­se dar­stellt. Aus der Dys­me­lie ergibt sich, dass kein Tibia­pla­teau vor­han­den ist und kei­ne Bän­der das Knie sta­bi­li­sie­ren – Sta­bi­li­sa­ti­on und Füh­rung erfol­gen ein­zig über die Mus­ku­la­tur, was eine sehr gro­ße, nicht kon­trol­lier­ba­re Beweg­lich­keit in der Fron­tal­ebe­ne ergibt (Abb. 1a). Die Ver­fas­ser ent­schie­den sich zur Lösung die­ses Pro­blems für eine klas­si­sche Ver­sor­gung mit Soft­so­cket, denn mit einem Stan­dard­li­ner oder einem Liner nach Maß wäre das Anzie­hen sehr schwie­rig, da der Stumpf beim Ver­such, den Liner über den Stumpf zu rol­len, immer wie­der weg­kip­pen wür­de. Über den Soft­so­cket wird zunächst eine stei­fe inne­re Scha­le gezo­gen, die die Weich­tei­le des Stump­fes bis ober­halb des late­ra­len Kon­dylus sta­bi­li­siert (Abb. 1b). Mit die­ser inne­ren Scha­le steigt die Pati­en­tin in den äuße­ren Schaft, der die Kon­dylen in gewohn­ter Wei­se von medi­al über­greift und in Ver­bin­dung mit der inne­ren Scha­le das Knie seit­lich sta­bi­li­siert. Durch die­se Zwei-Scha­len-Tech­nik wird das Hand­ling der Pro­the­se erheb­lich erleich­tert (Abb. 1c), da der Stumpf in der Ein­stiegs­rich­tung sta­bi­li­siert ist. Zudem war dadurch viel weni­ger Aus­gleich am Soft­so­cket nötig, was zu einer schlan­ke­ren Kos­me­tik im Knie­be­reich führ­te. Mit die­ser gelun­ge­nen Kos­me­tik fühlt sich die Pati­en­tin nach eige­ner Aus­kunft wie­der „rich­tig wohl“ (Abb. 1d), und die gelun­ge­ne Fixie­rung des Knies erlaubt ihr dar­über hin­aus wie­der ein siche­res (und selbst­si­che­res) Gehen im Alltag.

Fall­bei­spiel 2: Ange­bo­re­nes Feh­len des Unter­schen­kels mit mar­kan­ten Kno­chen­en­den (Abb. 2)

Die heu­te 52-jäh­ri­ge Pati­en­tin mit der Dia­gno­se „Kon­ge­ni­tale Ame­lie am rech­ten Unter­schen­kel und Dys­me­lie der Hän­de beid­seits“ wird schon seit Jahr­zehn­ten in Biel betreut. In den ers­ten Jah­ren bis zum Schul­ab­schluss der Pati­en­tin wur­de mehr­mals ver­sucht, ihre bei­den Hän­de mit Hand­wur­zel­pro­the­sen zu ver­sor­gen, was aber mehr hin­der­lich als för­der­lich war. Bei der Wahl der Ver­sor­gungs­tech­nik für die Ame­lie des Unter­schen­kels müs­sen sowohl die Stumpf­be­schaf­fen­heit als auch die ein­ge­schränk­ten Mög­lich­kei­ten der Hand­ha­bung einer Ver­sor­gung berück­sich­tigt wer­den. Ange­sichts der sehr knö­cher­nen Form des Stump­fes mit ellip­ti­schem Quer­schnitt ent­fal­len die meis­ten Stan­dard­pro­duk­te von vorn­her­ein (Abb. 2a). Unter Berück­sich­ti­gung der mar­kan­ten, kaum weich­teil­ge­deck­ten Kno­chen­en­den wur­de ent­schie­den, einen Soft­so­cket zu ver­wen­den. Damit besteht die Mög­lich­keit, die auf­fäl­li­gen Druck­stel­len effek­ti­ver zu bet­ten. Auf­grund der Miss­bil­dung bei­der Hän­de war das An- und Aus­zie­hen bei etli­chen Ver­su­chen mit Linern bereits geschei­tert. Die Ver­wen­dung von Sili­kon­strümp­fen ist eben­falls nicht mög­lich, da schon nach kur­zer Tra­ge­dau­er die bei­den dista­len Kno­chen den Strumpf durch­ste­chen wür­den (Abb. 2b). Der Soft­so­cket mit sei­ner Sta­bi­li­tät hilft der Pati­en­tin jetzt beim An- und Aus­zie­hen, zudem kann sie mit den Strümp­fen klei­ne­re Volu­men­schwan­kun­gen auf­fan­gen. Somit stellt die gewähl­te Lösung für sie eine adäqua­te Ver­sor­gung dar.

Eine sol­che Fehl­bil­dung lässt sich erfah­rungs­ge­mäß nie stan­dard­mä­ßig ver­sor­gen – erst die Fle­xi­bi­li­tät der Ortho­pä­die­tech­ni­ker sorg­te am Ende für eine opti­ma­le Ver­sor­gung (Abb. 2c). Selbst Ski­fah­ren ist damit für die Pati­en­tin mög­lich: Dazu mon­tiert sie eine abnehm­ba­re Ober­schen­kel­hül­se auf die Pro­the­se, was ihr mehr Sta­bi­li­tät und Sicher­heit im Knie­ge­lenk ver­leiht. Zudem wur­den die Ski­stö­cke an die Dys­me­lie der bei­den Hän­de angepasst.

Fall­bei­spiel 3: Trau­ma­ti­sche Unter­schen­kel­am­pu­ta­ti­on (Abb. 3)

Eine heu­te 43-jäh­ri­ge Ärz­tin erlitt im Jahr 2009 einen Fahr­rad­un­fall mit einem Lkw. Dar­auf­hin muss­te der Unter­schen­kel not­fall­mä­ßig ampu­tiert wer­den. Die beson­de­re Her­aus­for­de­rung ergibt sich bei die­ser Pati­en­tin aus der Haut­si­tua­ti­on am Stumpf: Fast die gesam­te Ober­flä­che des Stump­fes zeigt sich bis in den Ober­schen­kel­be­reich stark ver­narbt – nur ganz distal befin­den sich belast­ba­re Haut­area­le, die vom Fuß auf den Stumpf trans­plan­tiert wor­den waren. Zudem fehlt ein gro­ßer Teil der Ober­schen­kel­mus­ku­la­tur, und die Beweg­lich­keit des Knie­ge­len­kes ist stark ein­ge­schränkt. Auch ist die Weich­teil­de­ckung im Bereich Patel­la und Tibia mini­mal (Abb. 3a u. b.). Ers­te Ver­sor­gungs­ver­su­che in einem Ortho­pä­die­zen­trum mit Sili­kon­aus­gleich, Maß­li­ner, Unter­druck­sys­tem und Kniem­an­schet­te schlu­gen fehl: Die Ver­sor­gung ver­ur­sach­te bei der Pati­en­tin durch Rei­bung und Druck zusätz­li­che Haut­de­fek­te, schränk­te die Beweg­lich­keit des Knies stark ein und war zudem außer­or­dent­lich schwer. Da die Haut im Knie­be­reich der Pati­en­tin nur eine sehr ein­ge­schränk­te Belas­tung zulässt, wur­de seit dem Jahr 2010 ver­sucht, den gan­zen Stumpf zu umfas­sen und gleich­mä­ßig zu belas­ten. Um dies zu errei­chen, wur­den im direk­ten Haut­kon­takt die Vor­tei­le des Sili­kons genutzt, um dar­über dann einen Soft­so­cket anzu­pas­sen. Der Effekt: Die Nar­ben wur­den auf die­se Wei­se durch das ange­pass­te Sili­kon geschützt, die Gefahr einer Pseud­arthro­se wur­de ver­min­dert, und es ist eine bes­se­re Adhä­si­on der Pro­the­se gege­ben. Die Haut am Stumpf ist aller­dings nach wie vor sehr dünn. Die Pati­en­tin wird des­halb aktu­ell mit einem simp­len Sili­kon­strumpf und einem Soft­so­cket (Abb. 3c) ver­sorgt. Wenn sich im Tages­ver­lauf das Volu­men ändert, kann die Pati­en­tin dies mit einem Nylon­strumpf kom­pen­sie­ren. Die Haut hat sich in den letz­ten Jah­ren aber gut ent­wi­ckelt. Dank des Soft­so­cket-Sys­tems konn­te die Pati­en­tin ihr Knie immer mehr beu­gen, was ihre Mobi­li­tät ver­bes­sert – ein Liner, evtl. noch mit Kniem­an­schet­te, wür­de die­se Knie­be­weg­lich­keit behin­dern. Nun, nach eini­gen Jah­ren, kann die Pati­en­tin das Knie wie­der so weit beu­gen, dass sie sich nor­mal hin­set­zen kann.

Wie gezeigt wer­den konn­te, ist es mög­lich, auch der­art her­aus­for­dern­de Stümp­fe adäquat zu ver­sor­gen. Manch­mal, wenn eine sub­op­ti­ma­le Stumpf­si­tua­ti­on die Lebens­qua­li­tät zu stark ein­schränkt, kann es aber sinn­voll sein, über eine Revi­si­ons­ope­ra­ti­on nach­zu­den­ken 7.

Fall­bei­spiel 4: Unter­schen­kel­am­pu­ta­ti­on mit hohem Weich­teil­an­teil und adi­pö­sem Ober­schen­kel (Abb. 4)

Im kind­li­chen Alter von 10 Jah­ren erlitt die Pati­en­tin einen Unfall in der Land­wirt­schaft. Dar­auf­hin muss­te ihr der rech­te Unter­schen­kel ampu­tiert wer­den. Als beson­de­re Her­aus­for­de­rung in der Ver­sor­gung stellt sich zum einen der dista­le Weich­teil­über­hang dar (Abb. 4a), zum ande­ren die deut­li­che Umfangs­zu­nah­me vom Unter­schen­kel in Rich­tung Ober­schen­kel. Bevor die mitt­ler­wei­le 70-jäh­ri­ge Pati­en­tin sich in das Haus der Ver­fas­ser begab, ver­such­ten sich meh­re­re Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin­nen und ‑tech­ni­ker an einer Ver­sor­gung mit Liner und mit Soft­so­cket-Sys­tem. Dabei zeig­ten sich neben Pro­ble­men hin­sicht­lich Halt, Sta­bi­li­tät und Scheu­er­stel­len auch Schwie­rig­kei­ten beim Anzie­hen der Ver­sor­gung: Ein star­kes Abschnü­ren im Ober­schen­kel­be­reich ver­ur­sach­te eine Art Pseud­arthro­se, also ein Schein­ge­lenk mit einer Bewe­gung an der Stel­le, an der der Druck bzw. der Halt des Liners in den star­ken Weich­tei­len des Ober­schen­kels am größ­ten war. Zudem übte die­se Ver­sor­gung einen uner­träg­li­chen Druck auf das Tibiaen­de aus. Auf­grund die­ser Pro­ble­me konn­te die Pati­en­tin nur mit zwei Geh­hil­fen gehen.

Die Lösung stell­te sich wie folgt dar: Damit kei­ne Abschnü­rung auf Höhe des Ober­schen­kels zustan­de kommt, wur­de von einer Liner­ver­sor­gung (auch mit einem koni­schen Liner) Abstand genom­men. Also kon­zen­trier­te das Team sich auf eine Ver­sor­gung mit einem Soft­so­cket. Um ein ein­fa­ches Anzie­hen zu ermög­li­chen, wur­de ein Soft­so­cket ver­wen­det, der distal einen Schlitz auf­weist. Durch die­sen Schlitz zieht die Pati­en­tin ihren Stumpf mit Hil­fe eines Strump­fes in den Soft­so­cket hin­ein. Dadurch ver­bleibt der Weich­teil­über­hang am Stump­fen­de und schiebt sich beim Ein­stieg nicht nach pro­xi­mal, was wie­der­um ein Pum­pen ver­ur­sa­chen und zudem eine sehr gro­ße Span­nung am Tibiaen­de pro­vo­zie­ren wür­de (Abb. 4b). Ein Schlitz hat gegen­über einem Loch den Vor­teil, dass er kein Fens­ter­ödem ver­ur­sa­chen kann. Die­se Aus­füh­rung erlaub­te es der Trä­ge­rin sogar, wie­der das Alpin­ski­fah­ren aufzunehmen.

Fall­bei­spiel 5: Sehr kur­zer Ober­schen­kel­stumpf (Abb. 5)

Nach einer Tumor­re­sek­ti­on und Bestrah­lung als 9‑Jährige ent­stand ein Ultra­kurz­stumpf mit nur 4 cm Fem­ur­län­ge und weit­ge­hen­der Ein­stei­fung des Hüft­ge­len­kes in Abduk­ti­on. Der gesam­te Ober­schen­kel­stumpf der heu­te 49-jäh­ri­gen Pati­en­tin misst 12 cm in der Län­ge und 25 cm im Umfang. Die Becken­bein­mus­ku­la­tur ist völ­lig atroph. Die Beweg­lich­keit ist sowohl in Flexion/Extension als auch in Adduktion/Abduktion stark ein­ge­schränkt. Ins­be­son­de­re im Tuber­be­reich ist die Haut stark geschä­digt und so dünn wie Ziga­ret­ten­pa­pier (Abb. 5a). Vie­le Jah­re lang wur­de die­se Pati­en­tin mit einem kon­ven­tio­nel­len Ober­schen­kel­schaft ver­sorgt. Nach eini­gen Jah­ren ertrug die Haut dies jedoch nicht mehr so gut. Die Lösung bestand in einem Maß­li­ner, denn einen kon­ven­tio­nel­len Liner für sol­che Maße gibt es nicht. Pro­ble­me bestehen aller­dings nach wie vor im Bereich des Tubers und im Schritt. Da nun die Pro­ble­me der Sta­bi­li­tät und der Haut durch den Maß­li­ner mehr oder weni­ger gelöst sind, rekla­miert die Pati­en­tin eine man­geln­de Füh­rung durch den kur­zen Hebel und damit ver­bun­de­ne Unsi­cher­hei­ten beim Gehen, die bei der zuvor ver­wen­de­ten Tech­nik nicht auf­tra­ten. Aktu­ell (Stand: August 2021) scheint es, als sei gemein­sam mit der Pati­en­tin ein geeig­ne­ter Kom­pro­miss zwi­schen all die­sen Pro­ble­men gefun­den wor­den und als sei die Pati­en­tin zufrie­den mit der jet­zi­gen Lösung (Abb. 5b).

Fall­bei­spiel 6: Ober­schen­kel­am­pu­ta­ti­on bei ange­bo­re­ner Venen­schwä­che (Abb. 6)

Die 63-jäh­ri­ge Pati­en­tin aus Frank­reich lei­det seit ihrer Geburt an einer sel­te­nen Gefäß­schwä­che. Im Kin­des­al­ter erfolg­te eine Ober­schen­kel­am­pu­ta­ti­on links (Abb. 6a). Das Pro­blem wur­de damit aber nicht gelöst: Ohne zir­ku­lä­re Kom­pres­si­on, sei es durch Wick­lung oder Pro­the­se, schwillt der Stumpf in weni­gen Sekun­den auf ein­drück­li­che Wei­se an und nimmt inner­halb von 30 Sekun­den ca. 2 cm an Umfang zu. Gleich­zei­tig kol­la­biert der Kreis­lauf, sodass sich die Pati­en­tin hin­le­gen muss, um nicht bewusst­los zu wer­den und zu stür­zen. Ein kon­ven­tio­nel­ler Gips­ab­druck des Stump­fes ist daher nicht mög­lich. Auch mit einem Liner konn­te das rich­ti­ge Volu­men nicht erreicht wer­den. Hier schien des­halb eine klas­si­sche Ver­sor­gung mit Anfer­ti­gung eines Holz­schaf­tes nach per Maß­band erho­be­nen Umfän­gen am ehes­ten mög­lich. Das Maß­neh­men mit dem Maß­band dau­ert nur eini­ge Sekun­den (Abb. 6b), und Anpas­sun­gen am Schaft las­sen sich ein­fach und schnell durch­füh­ren. Kom­bi­niert mit einem C‑Leg-Gelenk 8 trägt die Pati­en­tin die Pro­the­se so oft wie mög­lich (Abb. 6c). Dabei nutzt sie ihren Schaft nicht nur als Pro­the­se, son­dern auch als Kom­pres­si­ons­hilfs­mit­tel, denn sie hat nur die Wahl zwi­schen Pro­the­se, Kom­pres­si­ons­ban­da­ge und Ohn­macht. Sie sucht ein- bis zwei­mal jähr­lich das Sani­täts­haus in Biel von Frank­reich aus für klei­ne Unter­halts­ar­bei­ten an Schaft, Kos­me­tik oder für den Gelenk-Ser­vice auf. Nach eige­ner Aus­kunft emp­fin­det sie ihre aktu­el­le Ver­sor­gung als her­vor­ra­gend; das Gehen mit der Pro­the­se sei wie eine Therapie.

Fazit

Bei unge­wöhn­li­chen Stumpf­for­men und ‑grö­ßen muss auch unge­wöhn­lich gehan­delt und ver­sorgt wer­den 9. Dabei hel­fen Team­ar­beit und Team­den­ken, und es soll­te kei­ne Scheu vor Impro­vi­sa­tio­nen bestehen. Lei­der sind sol­che Ver­sor­gun­gen zunächst oft­mals nicht kos­ten­de­ckend, da kei­ne Posi­tio­nen in den Preis­ka­ta­lo­gen für sie exis­tie­ren – die Fol­ge­ver­sor­gun­gen hel­fen aber in der Regel, eine sol­che Lücke nach eini­gen Jah­ren auszugleichen.

Die Autoren:
Remy Bot­ta, Clé­ment Schneider
Bot­ta Ortho­pä­die AG
Karl-Neu­haus-Stras­se 24
CH-2502 Biel, Schweiz
info@bottaweb.ch

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
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