OT: Herr Dr. Helmig, der Terminplan steht, ab 1. Juli 2026 ist die elektronische Verordnung für die Hilfsmittelversorger verpflichtend. Nehmen die Betriebe das Thema ernst genug, bereiten sie sich vor?
Dr. Jan Helmig: Da ist die Lage sehr heterogen. Vor allem große Sanitätshäuser setzen sich damit auseinander. Etliche sind schon neugierig auf den 1. Januar 2024, wenn sich die Betriebe bereits freiwillig an die TI anschließen können. Bei kleineren Unternehmen stehen zurzeit andere Probleme wie die Medical Device Regulation (MDR) im Vordergrund. Sie müssen sich erst einmal informieren, was das E‑Rezept für sie bedeutet. Mit der äußerst tatkräftigen AG Telematik ist der BIV-OT hierfür gut aufgestellt. Die AG ist sehr aktiv dabei, die Anforderungen für die nötigen Prozesse zu beschreiben. Der Austausch zwischen allen Beteiligten läuft sehr gut. Unsere gemeinsame Arbeit ist letztlich die Basis für umfassende Schulungen und Handreichungen, die der BIV-OT seinen Mitgliedern künftig liefern kann. Deshalb können sich speziell kleine Betriebe aktuell zurücklehnen, müssen noch keine konkreten Maßnahmen umsetzen, sondern sich vielmehr informieren – zum Beispiel über die konkreten Inhalte und Ergebnisse aus der AG Telematik.
OT: Wie viele Leistungserbringer sind an der AG beteiligt?
Helmig: Im Arbeitsgremium sitzen sieben Leistungserbringer verschiedener Größenordnung.
In drei Phasen zum funktionierenden Prozess
OT: Woran arbeitet die AG Telematik gerade und was ist in Zukunft geplant?
Helmig: Die AG hat beim Projekt elektronische Verordnung/Hilfsmittel gerade die 1. Phase der Prozessanalyse eingeläutet und nimmt die bisher in den Sanitätshäusern und orthopädietechnischen Werkstätten gängigen Vorgehensweisen unter die Lupe. Gemeinsam beurteilen wir, wo kritische Punkte sind und was sich in Zukunft ändern muss. In der 2. Phase ermitteln wir die daraus resultierenden technologischen Konsequenzen, Definitionen von Schnittstellen oder Anforderungen an den Datenfluss. Hier ergänzen Abrechnungsdienstleister und Anbieter von ERP-Lösungen die Gruppe. Phase 3 überführt alle Erkenntnisse in einen Feldversuch. Der Gesamtprozess wird in einem begrenzten Umfang mit echten Verordnungen und alles was dranhängt real durchgespielt. Dabei sollen all die heterogenen Partner einbezogen werden, die an der Versorgung beteiligt sind – inklusive Arztpraxen und Krankenkassen. Dann zeigt sich, ob die neuen Prozesse funktionieren oder an welchen Stellen nachjustiert werden muss.
OT: Wann sollen die einzelnen Phasen abgeschlossen sein?
Helmig: Mit Phase 1 – der Prozessanalyse – sind wir bis zum Sommer beschäftigt. Da arbeitet die AG sehr ausführlich, denn jeder einzelne Prozess, jeder Input soll detailliert aufgenommen werden. Phase 2 mit der Einbeziehung verschiedener Abrechnungsdienstleister und Schnittstellenanbieter ist für die 2. Jahreshälfte geplant. Ende 2021 möchten wir dann mit Kostenträgern ins Gespräch kommen. Die 3. Phase des Feldtests mit Krankenkassen und Ärzten kann erst starten, wenn die äußeren Rahmenbedingungen abgeklärt sind – wie zum Beispiel Ausgabe und Einsatz von Authentifizierungskarten der Sanitätshäuser für den Zugang zur TI. Dies wird wohl frühestens 2022 geschehen. Der Endpunkt des Projekts hängt schlussendlich von der Pandemielage ab. Vorgesehen ist Ende 2022, damit wir genügend Vorlauf haben, um der Gematik GmbH, die für Aufbau, Betrieb und Weiterentwicklung der TI verantwortlich ist, Gestaltungsideen für die Prozesse in der Hilfsmittelversorgung zu liefern. Der Austausch mit der Gematik wird ergänzend dazu schon während der Laufzeit der Phasen 1 und 2 regelmäßig gesucht, um so eine hohe Übereinstimmung zwischen den Ergebnissen der Arbeitsgruppe und den Vorstellungen der Gematik zu erzielen.
OT: Wie oft trifft sich die AG Telematik und welche besonderen Herausforderungen haben sich bisher für den Einsatz des E‑Rezepts in der Hilfsmittelversorgung herauskristallisiert?
Helmig: Wir treffen uns in einem zwei- bis dreiwöchigen Rhythmus – und jeder Termin hat neue Überraschungen parat. Wir sprechen hier von „Knackpunktprozessen“, die knifflig sind, weil sie zum Beispiel derzeit noch viel Papier erfordern aufgrund von Dokumentationsvorschriften oder viele Abstimmungsrunden benötigen, beziehungsweise speziellen abrechnungstechnischen Details entsprechen müssen. Aktuell zählen wir fünf derartige Knackpunktprozesse. Häufig haben die verschiedenen Betriebe verschiedene Ansätze, damit umzugehen. So mancher Prozess für ein und denselben Vorgang unterscheidet sich von Unternehmen zu Unternehmen. Hier werden wir letztlich abstrahieren müssen.
OT: Welche Beispiele gibt es für diese „Knackpunktprozesse“?
Helmig: Dazu gehört die digitale Signatur, welche die Unterschrift per Hand ersetzen soll. Hier könnte beispielsweise ein Fingerprint auf einem Tablet vieles vereinfachen. Zu den offenen Fragen, die wir bearbeiten, zählen ebenso die Inhalte des Leistungserbringerverzeichnisses. Dabei geht es zum Beispiel um die Festlegung, wie vollständig dieses Verzeichnis sein soll, wer Einfluss darauf hat. Nicht zuletzt ist relevant, wann die jeweilige elektronische Verordnung für die Kostenträger erstmals sichtbar ist und ab wann sie darauf zugreifen können. Im Gegensatz zum Arzneimittelrezept läuft die Bewilligung über den Leistungserbringer und nicht ausschließlich über den Arzt. Die freie Wahl des Leistungserbringers durch die Versicherten muss zudem künftig gewährleistet sein.
Niemanden benachteiligen
OT: Wie arbeitet die AG mit der Gematik konkret zusammen?
Helmig: Unter anderem findet über die Gremien des BIV-OT ein intensiver Austausch statt. Die Gematik ist sehr offen für Informationen und Erkenntnisse, fordert diese ein, lässt sich aber nicht in die Karten schauen. Denn die Gematik sieht sich der Neutralität verpflichtet, will sich nicht von irgendeiner Seite vereinnahmen lassen. Das ist im Sinne eines klaren Prozesses auch genau richtig. Allerdings strömen derzeit aufgrund der Vielzahl der Aktivitäten der Gematik mit allen Leistungserbringern im Gesundheitswesen viele Anforderungen auf die Gematik ein und hier zeichnet sich ein Kapazitätsproblem ab. Insofern stellen wir die Ergebnisse der Arbeitsgruppe für den Hilfsmittelbereich der Gematik gern als Hilfestellung zur Verfügung.
OT: Was heißt das für die Arbeit der AG?
Helmig: Wir müssen die Unterschiede des Rezepts in der Hilfsmittelversorgung zum Arzneimittelrezept in unseren Empfehlungen deutlich herausarbeiten, damit die Gematik „unseren“ Prozess grundsätzlich versteht. Wesentlich ist hier vor allem die Vervollständigung der vom Arzt verordneten Produktart (Siebensteller) durch den Leistungserbringer, dem die konkrete Auswahl des Einzelprodukts entsprechend des Therapiekonzepts obliegt (Zehnsteller). Bisher geht die Gematik davon aus, dass das Einzelprodukt von vornherein vorgegeben ist – vergleichbar mit dem Arzneimittelrezept. In diesem Bereich kommt das E‑Rezept ja zuerst zum Einsatz. Die Gestaltungsspielräume durch die Leistungserbringer und deren Einfluss auf die Therapie kennt der jetzige Gematik Entwurf, der auf die Verschreibung von Medikamenten ausgerichtet ist, noch nicht. In den kommenden drei Jahren müssen wir deshalb im Sinne der Leistungserbringer Einfluss auf die Gestaltung des digitalen Workflows nehmen. Der Gematik ist wichtig, dass kein Versicherter benachteiligt wird. Wir finden immer mehr Gehör, dass auf Seiten der Leistungserbringer ebenso wenig Benachteiligung stattfinden darf. Zugunsten der wohnortnahen Versorgung sind vielfältige Interessen zu berücksichtigen – vom kleinen Orthopädietechnikbetrieb bis zum großen Sanitätshaus.
Papier noch allgegenwärtig
OT: Wie schwer wird es für die Branche, sich von papierbasierten Vorgängen zu lösen und komplett auf digitale Prozesse umzusteigen?
Helmig: Papier ist noch allgegenwärtig, in kleineren und genauso in den größeren Betrieben. Schon allein aufgrund der Anforderungen der Krankenkassen. So ist die papierbasierte Verordnung nach wie vor Vorschrift – inzwischen verbunden mit zahlreichen Medienbrüchen. Also wird digital gesendet, ausgedruckt, unterschrieben, gefaxt und wieder eingescannt. Wenn bei den Krankenkassen das Papier noch ganz oben auf der Prioritätenliste steht, müssen die Leistungserbringer diesen Vorgaben folgen. Das wird durch die elektronische Verordnung sicher anders – aber da ist seitens aller Prozessbeteiligten wie zum Beispiel Ärzten, Softwarehäusern und Krankenkassen noch Vorarbeit zu leisten. Schließlich liegt großes Potenzial darin, den gesamten Prozess durch den Verzicht auf Medienbrüche zu entschlacken und zu beschleunigen.
OT: Könnte speziell für die bisher wenig digitalen Betriebe ein Vorteil darin liegen, im Zuge des E‑Rezepts einen ganz großen Sprung in Richtung Digitalisierung zu schaffen?
Helmig: Ja, durch die Einführung der elektronischen Verordnung könnten sie sogar einen doppelten Sprung machen: hinein in eine digitale Welt, in der mithilfe smarterer Prozesse zugleich der Verwaltungsaufwand reduziert wird. Die Voraussetzung sind Spezifikationen, die auf die Besonderheiten der Branche eingehen. Wenn wir einfach nur das umsetzen, was wir heute an teils umständlichen Verwaltungsvorgängen sehen, kann man diese Potenziale nicht heben.
OT: Müssen sich die Betriebe im Zusammenhang mit dem E‑Rezept auf große Umwälzungen ihrer Prozesse einstellen?
Helmig: Kein Betrieb wird seine Prozesse zu 100 Prozent ändern müssen. So gibt es bereits eine gute Infrastruktur für den elektronischen Kostenvoranschlag, die man weiterhin nutzen kann. Auch wer seine Abrechnungen selbst vornimmt, kann dies beibehalten. Wir berücksichtigen bei unseren Vorschlägen an die Gematik zudem die bisher verwendeten Datenstandards. Einiges ändern wird sich hingegen am Empfangstresen, wo die Verordnungen verarbeitet werden. Da soll kein Papier mehr hereinrauschen, stattdessen werden QR-Codes eingesetzt. In der AG Telematik möchten wir diese Schnittstelle so entwickeln, dass sie in die tägliche Arbeit gut hineinpasst. Um einen nachvollziehbaren, standardisierten Ablauf zu ermöglichen, analysieren wir die verschiedenen Interaktionspunkte zwischen den mit einem E‑Rezept befassten Parteien. Wir denken hierbei die gesamte Kette Arztpraxis – Patienten – Leistungserbringer – Kostenträger mit. Wir möchten einen so attraktiven Prozess entwerfen, dass die Betriebe nicht bis 2026 warten möchten, um ihn einzusetzen.
Mobilität ermöglichen
OT: Viele Versorgungen finden nicht im Sanitätshaus oder orthopädietechnischen Betrieb, sondern in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen oder bei Patientinnen und Patienten zu Hause statt. Dort werden unter anderem Unterschriften benötigt. Wie wird sichergestellt, dass der Zugang zur TI mobil möglich ist?
Helmig: Die Mobilität ist noch ein Riesenproblem. In der verfügbaren Lösung für Ärzte und Apotheken ist alles stationär angelegt: Man geht von einem Tresen aus, auf dem das Datenlesegerät steht. Das geht natürlich an der Versorgungspraxis im Bereich Hilfsmittel vorbei. Bei Opta Data sind wir gerade in ein Projekt mit Hebammen eingebunden, die sich schon im Sommer dieses Jahres freiwillig an die TI anschließen können. Hier entwickeln wir Modelle, um mit Tablet oder Smartphone auf die TI zuzugreifen. Diese werden sicherlich auf die Hilfsmittelversorgung adaptierbar sein. Die Gematik hat das Problem erkannt und in ihrem Whitepaper zur TI 2.0 betont, dass der Zugang mobil möglich sein muss.
OT: Wie wird sich der Zugang zur TI verändern?
Helmig: Die Zukunft des gesamten Systems wird meines Erachtens auf einer Datencloud basieren, welche die heute noch nötigen Hardware-Konnektoren (technisches Herzstück, über das zum Beispiel die IT-Systeme der Ärzte, Krankenhäuser und Leistungserbringer mit der TI und den E‑Health-Kartenterminals verbunden werden) verzichtbar macht. Dies würde die Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung senken, denn die Konnektoren müssen alle vier Jahre ausgetauscht bzw. erneuert werden. Wenn sich die Hilfsmittelversorger ab 2024 anbinden können, wird die nötige Technologie anders aussehen als heute.
OT: Auf welche Weise wird die in den Startlöchern stehende elektronische Patientenakte (ePA) mit dem E‑Rezept verknüpft?
Helmig: Mit dem Anschluss an die TI haben die Betriebe automatisch Zugang zu den sogenannten Fachdiensten wie E‑Rezept und ePA. Bereits in diesem Jahr wird die ePA ausgerollt, noch in einer simplen Version. Bei der ePA bestimmen die Versicherten, ob sie diese nutzen, ob und wem sie Inhalte freischalten bzw. Schreibzugriff gewähren.
OT: Wie „dick“ sind die „Bretter“, die im Zuge der Einführung bzw. Ausweitung digitaler Prozesse noch zu bohren sind?
Helmig: Die Corona-Krise hat einen gewaltigen Digitalisierungsschub gebracht und viel Überzeugungsarbeit abgenommen. Viele Betriebe haben sich daran gewöhnt, dass die Digitalisierung eine gute Sache sein kann, die das Handwerk nicht infrage stellt und mehr Chancen als Risiken birgt.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
Am 7. Juli 2021, 15.00 bis 17.30 Uhr, plant der BIV-OT eine digitale Informationsveranstaltung für die ihm angeschlossenen Mitgliedsbetriebe der Innungen und Fachverbände, um sie in Sachen E‑Rezept auf dem Laufenden zu halten. Mit dabei: BIV-OT-Präsident Alf Reuter, BIV-OT-Vorstandsmitglied Thomas Münch, zuständig für den Bereich Digitalisierung und Vertreter der AG Telematik, Axel Sigmund, Leitung Berufsbildung, Digitalisierung und Forschung beim BIV-OT, Kirsten Abel, Sprecherin des Präsidiums des BIV-OT, sowie Dr. Jan Helmig von Opta Data. Zudem sind weitere Informationsveranstaltungen in Vorbereitung, beispielsweise nach der Sommerpause 2021 sowie auf der OTWorld 2022.
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