Einleitung
Neuromuskuläre und neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall, Zerebralparese, Verletzung des Plexus brachialis, Verletzung des Rückenmarks oder Multiple Sklerose gehen oft mit einem Funktionsverlust der oberen Extremitäten einher. Um die Patienten darin zu unterstützen, diesen Funktionsverlust zu kompensieren, wurde am Massachusetts Institute of Technology (MIT) (Cambridge, MA, USA) in Zusammenarbeit mit der Harvard Medical School (Boston, MA, USA) bereits 2006 eine motorisierte Arm- und Handorthese entwickelt. Über mehrere Evolutionsstufen entwickelte sich daraus die inzwischen auch in Deutschland verfügbare „MyoPro“-Orthese (Hersteller: Myomo, Inc, Boston, MA, USA). Konventionelle Orthesen bewirken häufig keine signifikanten Verbesserungen für die Betroffenen 1. Für eine myoelektrische Ellbogen-Handgelenk-Hand-Orthese hingegen konnte bei Schlaganfallpatienten eine Verbesserung der manuellen Geschicklichkeit und der Leistungsfähigkeit bei bestimmten funktionellen Aufgaben nachgewiesen werden 2 3. Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Versorgung werden im Folgenden anhand eines Fallbeispiels verdeutlicht.
Funktionsweise einer myoelektrischen Orthese
Myoelektrische Steuerungen sind im Bereich der Armprothetik schon lange bekannt und etabliert 4. Bislang weniger verbreitet ist diese Technik im Bereich der Armorthetik. Auch hier werden EMG-Signale über Oberflächenelektroden abgenommen, verstärkt und als Steuerimpulse für Motoren verwendet, die dann an der Orthese die gewünschte Funktion ermöglichen. Konkret werden die Signale des M. triceps brachii und des M. biceps brachii verwendet, um den Ellbogen der Orthese zu strecken bzw. zu beugen; die Signale der Unterarmmuskulatur dienen dazu, die Hand zu öffnen bzw. zu schließen. Die jeweiligen Elektroden sind in eine Manschette für den Oberarm und eine Spange für den Unterarm eingearbeitet. Für die Fingerbewegung werden Zeige- und Mittelfinger gemeinsam von der Orthese geführt. Sie bewegen sich im Dreipunktgriff auf den feststehenden Daumen zu, dessen Grundposition einstellbar ist. In der Standardversion bleiben der Ringfinger und der kleine Finger frei und werden nicht in die Bewegung integriert. Die Stellung des Handgelenkes im Sinne der Extension/Flexion und der Pronation/Supination kann manuell positioniert und bei Bedarf fixiert werden, um sie so der jeweiligen Aufgabe anzupassen. An der Außenseite der Oberarmschale befinden sich sowohl der Ellbogenmotor und die Steuerungselektronik als auch das Akkufach mit den Bedientasten. Der Motor für die Handbewegung befindet sich am Handrücken. Das Gewicht der Testorthese (ca. 2,5 kg) wird über eine Bandage auf die Schulter übertragen. Über die Einstellung der Gurte kann der Grad der Lastübernahme durch die Bandage angepasst werden (Abb. 1).
Das Programm für die Steuerungselektronik ist individuell an den Patienten anpassbar. So können sowohl der erforderliche Schwellenwert für die Bewegung als auch die erforderliche Unterstützung passend abgestimmt werden; eine Limitierung des freigegebenen Bewegungsumfangs ist ebenfalls möglich. Die einzelnen Funktionen (Beugung/Streckung im Ellbogen, Öffnen/Schließen der Hand) sind in der Elektronik getrennt oder in Kombination aktivierbar. Dies erleichtert in der Trainingsphase die Konzentration auf ein einzelnes Steuerungselement.
Da es sich bei der hier vorgestellten Versorgung um eine Testorthese (Abb. 2) handelt, ist deren Passform noch nicht optimal; in diesem Fall waren eine Unterlagerung des Schultergurtes und eine Auspolsterung der Oberarmschale erforderlich. So konnten Schmerzen und ein nicht optimales Alignment im Schultergelenk verhindert werden. In der inzwischen erfolgten definitiven Versorgung ließen sich durch die individuelle Passform sowohl die Aufhängung als auch die Kraftübertragung deutlich verbessern.
Kurze Anamnese
Die Patientin ist 1953 geboren und erlitt 2004 einen Hirninfarkt. Es zeigt sich das Bild einer ausgeprägten armbetonten Hemiparese rechts mit einer deutlichen Tonuserhöhung in der rechten oberen Extremität, verstärkt in der Hand. Aus diesem Grund wird die Patientin regelmäßig – in dreimonatigen Intervallen – mit Botox behandelt. Die Schwerpunkte der Behandlung liegen im Bereich der schulterumgebenden Muskulatur, im Bizeps-Bereich und im Bereich der Unterarmmuskulatur.
Trotz der Botox-Behandlung lassen sich ausreichende Steuerimpulse aus der Muskulatur ableiten. In der vorausgegangenen Therapie konnte eine ausreichende Schulterstabilität erarbeitet und eine Subluxation – eine bei Lähmungspatienten häufig auftretende Komplikation – verhindert werden. Ein Abruf leichter Funktionsansätze im Schulterbereich gegen die Schwerkraft (Elevationsbewegungen) ist möglich unter Abnahme der Schwerkraft, z. B. bei Nutzung einer Unterstützungsfläche wie eines Tisches oder auch durch Anteversions- und Retroversionsbewegungen. Im Ellbogen sind mittels Massensynergien, in diesem Fall der verstärkte Einsatz der schulterumgebenden Muskulatur, Flexion und Extension gegen die Schwerkraft abrufbar. Unter Abnahme der Schwerkraft, unter anderem bei einem passiv/assistiv eingestellten Alignment, sind leichte Ellbogenbewegungen sichtbar. Greif- oder Haltefunktionen mit der Hand sind jedoch nicht möglich. Der Zugriff auf die beschriebenen Funktionen ist am Ende des jeweiligen Botox-Zyklus (3 Monate) für die Patientin deutlich erschwert.
Erprobungszeitraum
In einem ersten Vorgespräch untersuchte ein für das „MyoPro“-System geschulter Orthopädietechniker, ob die Patientin für das System geeignet ist. Die wichtigsten Kriterien dabei sind ausreichende Myosignale, funktionelle Gelenkbeweglichkeiten und eine genügende Schulterstabilität. In der anschließenden Erprobungsphase wurde die Patientin mit einer Testorthese versorgt und in 40 Therapieeinheiten à 60 Minuten therapeutisch betreut. Die 40 Einheiten wurden in einem vorher besprochenen Zeitraum von 3 Monaten durchgeführt. Sie umfassen Einheiten zum Handtraining, zum Ellbogentraining und zu einem Kombinationstraining, die per Video dokumentiert wurden. Diese werden im Folgenden genauer erläutert.
Therapieeinheiten
Handtraining
In den einzelnen Therapieeinheiten wurde zu Beginn der Erprobungsphase die aktive Flexion der Hand trainiert. Dabei waren die anderen Sensoren – die Oberarmsensoren für aktive Flexion und aktive Extension im Ellbogen sowie der Unterarmsensor für die aktive Extension der Finger – inaktiv geschaltet. Es wurde wie folgt verfahren: In sitzender Position konnte die Patientin zunächst in pronierter Handgelenkstellung, die über das multiaxiale Handgelenk der Orthese fixiert wurde, die aktive Flexion der Finger und das Nachlassen der Spannung trainieren. In dieser Einstellung erfolgt das Öffnen der Hand automatisch bei Nachlassen des Myosignals. Dieser Prozess stellte sich für die Patientin als gut geeigneter Einstieg in die Therapie dar.
Im weiteren Verlauf der Erprobungsphase wurde sowohl die Handgelenkstellung von der Pronations- zur Supinationsstellung als auch die Ausgangsposition der Patientin vom Sitz zum Stand verändert. Gleichzeitig wechselten die zu haltenden Gegenstände von therapeutischen Materialien (u. a. Schaumstoffwürfel in unterschiedlicher Stärke, verschiedene Bälle) zu Alltagsgegenständen (Banane, Taschentuchpäckchen, Mandarine) (Abb. 3a u. b). Hierzu sei erwähnt, dass das aktive Halten von Gegenständen aus nicht nachgebendem Material und/oder bei zu großem Durchmesser der zu greifenden Gegenstände (z. B. bei Flaschen) stark erschwert bzw. überhaupt nicht möglich war. Ein möglicher Grund dafür ist das verwendete Material der Daumenauflage und der Fingerauflagen sowie das Öffnungsvolumen der Hand an der „MyoPro“-Orthese. Die oben beschriebene Mechanik eines feststehenden Daumens in Kombination mit dem für die Auflagen verwendeten Material lässt nicht nachgebende Gegenstände – z. B. runde Besteckgriffe oder Gegenstände mit zu großem Durchmesser, etwa einen Keramikbecher – aus der Hand gleiten. Insofern war eine Auswahl passender Gegenstände wichtig, um einen Nutzen für die Patientin zu erzeugen.
Ellbogentraining
Aufbauend auf und ergänzend zu den erarbeiteten Fähigkeiten in der Hand im Bereich des aktiven Schließens wurde im zweiten Schritt das aktive Beugen des Ellbogens im Stand trainiert. Wichtig zu erwähnen ist, dass es sich auch hierbei zunächst um ein isoliertes Training handelte.
Kombinationstraining
Nach Festigung dieser isolierten Bewegungen wurden Kombinationsübungen erstellt. Dabei dienten Haltefunktionen der Hand bei gleichzeitiger Ellbogenbeugung als Einstieg. Eine weitere Steigerung bestand in einer Übung in Bewegung, z. B. im Tragen von Gegenständen durch den Raum. Im weiteren Verlauf wurden sowohl uni- als auch bimanuelle Aufgaben wie z. B. das Tragen eines Tabletts oder das Schneiden eines Lebensmittels trainiert.
Das aktive Strecken des Ellbogens und das aktive Öffnen der Hand waren die letzten fehlenden isolierten Bewegungen, die trainiert wurden. Die Zusammenführung aller isolierten Bewegungen bedeutete eine enorme Anforderung an die Patientin (Abb. 4a–c).
Diskussion
Um eine Manifestation der Leistungen zu ermöglichen, ist zunächst eine Festigung der isolierten Bewegungen unabdingbar. Die hier gewählte Vorgehensweise und der Aufbau der Therapieinhalte waren individuell an die vorgestellte Patientin, ihre speziellen motorischen Fähig- und Fertigkeiten sowie an die Möglichkeiten eines selbstständigen Trainings und des daraus resultierenden Nutzens angepasst. In diesem Fall wurde anhand der Videodokumentation der einzelnen Einheiten ein Abschlussvideo über den gesamten Erprobungszeitraum erstellt. Dieses diente unter anderem als Beleg für den Kostenträger, um sowohl die Fortschritte und das weitere Potenzial der Patientin zu visualisieren als auch die Notwendigkeit einer Genehmigung zu dokumentieren. Eine positive Rückmeldung seitens des Kostenträgers für die inzwischen erfolgte Individualversorgung gestattet es der Patientin jetzt, weiter zu trainieren und so eine wesentliche Verbesserung ihrer Lebensqualität im Alltag zu erreichen.
Limitierungen
Für die eher zierliche Patientin sind sowohl die Optik als auch das Gewicht der Orthese einschränkende Faktoren. Das Anlegen der „MyoPro“-Orthese erfordert Übung und nimmt etwas Zeit (3 bis 5 Minuten in diesem Beispiel; die Dauer korreliert mit den tagesformabhängigen Tonusverhältnissen) in Anspruch, um einen optimalen Sitz und eine gute Positionierung der Sensoren zu erreichen. Das Anziehen ist nur mit einer Hilfsperson möglich. Zudem werden nur der Zeigefinger und der Mittelfinger in die Bewegung integriert; der feststehende Daumen kann nur manuell in seiner Grundposition verändert werden. Im therapeutischen Setting erwies sich dies als hinderlich bezüglich der fehlenden Fingerauflage, was sich beim uni- und bimanuellen Greifen von runden Gegenständen wie z. B. eines Korbes oder eines Tabletts zeigte. Ein vollständiges Umgreifen des Korbhenkels – was eine physiologische Umsetzung darstellen würde – war nicht möglich. Während der Therapie wurde gemeinsam mit dem anwesenden Ehemann der Patientin eine individuelle Lösung (in Form einer Fingerauflage für alle Finger) erarbeitet, die sich mittels 3D-Drucker zeitnah realisieren ließ und anschließend an der Orthese befestigt wurde.
Eine weitere Limitierung bestand darin, dass ein schneller Wechsel von zu greifenden Gegenständen (von größeren auf kleinere Gegenstände) durch die erforderliche manuelle Umstellung des Daumens und den daraus resultierenden erhöhten Zeitaufwand stark erschwert bzw. gar nicht möglich war. Auf die Limitierungen bezüglich der Wahl der zu greifenden Gegenstände wurde weiter oben bereits eingegangen.
Fazit
Wie gezeigt wurde, verschafft die „MyoPro“-Orthese der vorgestellten Patientin eine gute Möglichkeit, um verlorengegangene Arm- und Handfunktionen zumindest zum Teil wieder auszugleichen. Eine „Verschlankung“ und eine Gewichtsreduktion der Orthese wären dabei sowohl aus therapeutischer als auch aus optischer Sicht (seitens der Patientin) erstrebenswert. Aus therapeutischer Sicht ist es zudem unabdingbar, dass eine ausreichende Schulterstabilität gegeben ist, um zum einen das Gewicht der Orthese tragen und zum anderen auch Bewegungen gegen die Schwerkraft trainieren zu können. Da es sich um eine Probeorthese handelte, war die Passform wie beschrieben noch nicht optimal. Mit der inzwischen erfolgten Individualversorgung lassen sich die in der Therapie erarbeiteten Fähigkeiten gut in Alltagsaktivitäten umsetzen, sodass für die Patientin eine deutlich erhöhte Selbstständigkeit im Alltag entstanden ist.
Die Autorin:
Kathrin Hano
Ergotherapeutin
Ambulanticum Herdecke
Leharweg 2
58313 Herdecke
kontakt@ambulanticum-herdecke.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Hano K. Testversorgung mit einer myoelektrischen Armorthese anhand eines Fallbeispiels. Orthopdädie Technik, 2021; 72 (4): 36–39
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