Das Bundesamt hat die Aufsicht über die bundesunmittelbaren Träger der gesetzlichen Kranken‑, Renten- und Unfallversicherung sowie der sozialen Pflegeversicherung. Im Gespräch mit der OT erklärt Antje Domscheit, Referatsleiterin 211 – Grundsatzfragen der Krankenversicherung, Wettbewerb und sonstige Verträge am BAS, wie sich die Arbeit unter Corona-Bedingungen verändert hat und wo sie in Zukunft Konfliktpotential zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen sieht.
OT: Frau Domscheit, wie viele Grundsatzprüfungen beziehungsweise Eingaben müssen Sie in Ihrem Referat des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS) aktuell bearbeiten?
Antje Domscheit: In unserer Abteilung haben uns im zurückliegenden Jahr insgesamt 3411 Eingaben und Petitionen erreicht, davon sind 340 auf den Hilfsmittelbereich entfallen. 2020 liegen dem Bundesamt für Soziale Sicherung bisher 308 Eingaben und 35 Grundsatzprüfungen gegen das Verwaltungshandeln von Krankenkassen im Hilfsmittelbereich zur Bearbeitung vor.
OT: Wie ist die Entwicklung der vergangenen Jahre zu beschreiben?
Domscheit: Im Vergleich zum Vorjahr sind die Zahlen im Hilfsmittelbereich gleichbleibend hoch; größere Schwankungen können nicht festgestellt werden.
Fehlende Transparenz beanstandet
OT: Was sind die häufigsten Beschwerden, die an Sie herangetragen werden?
Domscheit: Im Bereich der Versorgung mit Hilfsmitteln befasst sich das Bundesamt für Soziale Sicherung überwiegend mit Beschwerden darüber, dass keine bzw. ungenügende Vertragsverhandlungen geführt werden und eine Vielzahl von Einzelvereinbarungen geschlossen werden, obwohl vorrangig ein Vertragsschluss nach § 127 Abs. 1 SGB V zu erfolgen hat. Auch die fehlende Transparenz über Vertragspartner und Vertragsinhalt wird häufig beanstandet; ebenso auch die Verhinderung von Vertragsbeitritten durch Vereinbarung von Verträgen zu konkreten Hilfsmitteln (sogenannte 10-Steller).
OT: Können Sie einen Trend ausmachen, welche Bereiche aktuell besonders häufig Grund zur Beschwerde sind?
Domscheit: Aktuell befasst sich das Bundesamt für Soziale Sicherung im Bereich der Hilfsmittelversorgung schwerpunktmäßig mit der aufsichtsrechtlichen Begleitung der Umsetzung der Reformen zum Abschluss von Hilfsmittelverträgen. Wir verweisen insoweit auf unser Rundschreiben vom 17. Juni 2020. Derzeit werden die Antworten der Krankenkassen hierzu noch ausgewertet.
OT: Ganz aktuell beschäftigen die gescheiterten Verhandlungen zwischen der IKK Classic und der Arbeitsgemeinschaft der maßgeblichen Leistungserbringer zu einem neuen Reha-Vertrag die Branche. Wie schätzen Sie das Verhalten von den beiden Verhandlungsseiten ein?
Domscheit: Da das aufsichtsrechtliche Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, bitten wir um Verständnis, dass wir an dieser Stelle keine Stellungnahme zu Ihrer Frage abgeben können.
OT: Wie lässt sich so etwas vermeiden?
Domscheit: Losgelöst von diesem Einzelfall prüft das Bundesamt für Soziale Sicherung, ob Vertragsverhandlungen geführt werden. An dieser Stelle begrüßen wir das mit dem Medizinprodukte-Anpassungsgesetz-EU in § 127 Abs. 1a SGB V eingeführte Schiedsverfahren zur Konfliktlösung.
OT: Stichwort Einzelvertrag: Hat es der Gesetzgeber bisher hier verpasst, eine eindeutige Regelung zu schaffen?
Domscheit: Der BIV-OT vertritt in seiner Pressemitteilung vom 7. Dezember 2020 die Auffassung, dass ein Gesetz erforderlich sei, welches den Krankenkassen verbietet, Verhandlungen über die Versorgung von Versicherten mit jedem Einzelbetrieb zu führen, der Hilfsmittel liefern kann. Sie schlagen vor, Vertragsverhandlungen auf Verbände und bundesweite Zusammenschlüsse von Sanitätshäusern zu beschränken.
In diesem Punkt können wir Ihnen leider nicht beipflichten. Gerade auch kleinere Leistungserbringer müssen die Möglichkeit erhalten, Verträge mit Krankenkassen zu schließen, um eine wohnortnahe Versorgung zu gewährleisten. Für die Versicherten, die immer im Vordergrund des Versorgungsgeschehens stehen sollten, sehen wir keine Schlechterstellung, wenn eine Krankenkasse mit einem nur regional tätigen Leistungserbringer einen Versorgungsvertrag abschließt.
OT: Dürfen „Qualität in der Patientenversorgung“ und „Wirtschaftlichkeit“ ein Gegensatzpaar sein oder sollte hier nicht vielmehr auf ein Hand-in-Hand der beiden Bereiche geachtet werden?
Domscheit: Die Qualität in der Patientenversorgung und die Wirtschaftlichkeit sollten kein Gegensatzpaar sein. Seitens der Krankenkassen sind Qualitätsanforderungen in der Patientenversorgung zu definieren. Bei der vertraglichen Umsetzung muss dann natürlich im Sinne aller Versicherten die wirtschaftlichste Möglichkeit genutzt werden.
OT: Welche Maßnahmen können zu mehr Transparenz bei der Vertragsgestaltung beitragen?
Domscheit: Transparenz bei der Vertragsgestaltung setzt voraus, dass bekannt ist, welche Verträge bereits vorhanden sind. Über die Inhalte abgeschlossener Verträge sind andere Leistungserbringer auf Nachfrage gemäß § 127 Abs. 1 Satz 6 SGB V unverzüglich zu informieren. Ebenso müssen die Krankenkassen nach § 127 Abs. 6 SGB V die wesentlichen Inhalte der geschlossenen Verträge im Internet veröffentlichen. Transparenz bei der Vertragsgestaltung setzt damit voraus, dass die Krankenkassen ihrer rechtlichen Verpflichtung nachkommen. Die Auswertung der Antworten der Krankenkassen auf unser Rundschreiben vom 17. Juni 2020 machen jedoch deutlich, dass die Krankenkassen ihren Informationspflichten nach § 127 Abs. 6 SGB V aktuell noch nicht ausreichend nachkommen. Im Rahmen seiner Möglichkeiten wird das Bundesamt für Soziale Sicherung darauf hinarbeiten, dass die Krankenkassen ihren Pflichten nach § 127 Abs. 6 SGB V nachkommen, ggf. auch mit allen zur Verfügung stehenden aufsichtsrechtlichen Mitteln.
„Wir sehen eher ein Miteinander”
OT: Wie erleben Sie das Mit- bzw. Gegeneinander von Leistungserbringern und Krankenkassen?
Domscheit: Hier ist zu berücksichtigen, dass wir nur dann einen Einblick in das Miteinander von Leistungserbringern und Krankenkassen erhalten, wenn etwas im Argen liegt. Es gibt natürlich viele Beschwerden von Leistungserbringern. Unter Berücksichtigung der Vielzahl von Verträgen, die zwischen den Krankenkassen und Leistungserbringern reibungslos geschlossen werden, sehen wir aber eher ein Miteinander der Vertragspartner als ein Gegeneinander.
OT: Wo sehen Sie in Zukunft das größte Konfliktpotenzial zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen?
Domscheit: Die Krankenkassen werden mit immer mehr Innovationen im Bereich der Hilfsmittelversorgung konfrontiert, die natürlich auch einen Anstieg der Kosten zur Folge haben. Gleichzeitig steigt die Anzahl der Hilfsmittelversorgungen aufgrund der demographischen Entwicklung. Hier wird sich ein Konfliktpotential ergeben, da die Hilfsmittelversorgung bezahlbar bleiben muss.
OT: Wie beeinflusst die Corona-Pandemie Ihre Arbeit?
Domscheit: Das Bundesamt für Soziale Sicherung hat aufgrund der Verantwortung für die Auszahlung der Corona-Hilfen eine hohe Relevanz im Gesundheitssystem und in der Bewältigung der Corona-Krise. Aber auch aufgrund vermehrter Eingaben und Anfragen von Versicherten und Selbstständigen hat das Bundesamt für Soziale Sicherung deutlich mehr zu tun.
Die Corona-Pandemie führt aber auch zur Änderung der Kommunikation miteinander. Da, wo noch vor einem Jahr ein persönlicher Austausch möglich war, erfolgt dieser nun z. B. über Videokonferenzen. Dank der technisch guten Ausstattung des Bundesamtes für Soziale Sicherung ist dies aber auch problemlos möglich. Trotzdem freuen wir uns, wenn der Dialog mit den Krankenkassen und den anderen Akteuren im Gesundheitssystem wieder analog möglich ist.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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