OT: Wie kam es 1875 zur Gründung des Familienbetriebes?
Werner Dierolf: Die Geschichte um unseren Familienbetrieb kenne ich nur aus den Erzählungen meiner leider schon lange verstorbenen Oma. Meine Familie betrieb, wie das damals so üblich war, eine kleine Landwirtschaft. Ab 1875 zogen sie auch offiziell als Schuhmacher von Bauer zu Bauer. Sie fertigten auf den Bauernhöfen aus dem Leder der Tiere Schuhe für den gesamten Haushalt. Die Kenntnisse rund um das Schuhhandwerk wurden von Generation zu Generation weitergegeben. In der Generation meiner Eltern gestaltete sich das dann schon professioneller. Meine Eltern führten eine gut gehende Schuhhandlung und betrieben nebenher ein wenig Landwirtschaft.
OT: Loyalität oder Herzensangelegenheit? Wie sah Ihr Weg zur Orthopädie-Schuhtechnik aus?
Dierolf: Ich habe bereits mit 14 Jahren die Schule verlassen, also die klassischen acht Jahre Volksschule absolviert. Da ich mich für das Machen von Schuhen interessierte, begann ich eine Lehre als Schuhmacher im Landkreis. Dort kam ich auch mit der Orthopädie-Schuhtechnik erstmals in Berührung. Allerdings ging es damals vor allem um die Versorgung von Kriegsversehrten. Als Geselle wechselte ich dann in den orthopädieschuhtechnischen Betrieb Reuter in Bad Mergentheim, um Kenntnisse auf diesem Gebiet zu vertiefen. Die Vorbereitungen für meinen Meister im Bereich der Orthopädie-Schuhtechnik liefen bei der Firma Schön & Endres in Würzburg. Gleich nach dem Erhalt des Meisterbriefes stieg ich 1974 im elterlichen Geschäft ein. Voller Ungeduld wollte ich das Geschäftsmodell ändern, den Betrieb vom Schuhladen zu einem orthopädieschuhtechnischen Betrieb entwickeln. Gleich die Eröffnung wurde ein großes Ereignis und ein Erfolg. Man muss eben in der Öffentlichkeit sichtbar sein, übrigens nicht nur über Marketing, sondern vor allem über gesellschaftliches Engagement.
OT: Wie blicken Sie auf die Entwicklung Ihres Unternehmens seit Ihrem Eintritt in den Familienbetrieb im Jahr 1974 zurück?
Dierolf: Meine Eltern hatten eine Mitarbeiterin in ihrem Laden. Heute sind 30 Menschen in unseren drei Filialen Dierolf Orthopädie-Schuhtechnik und unseren zwei Sanitätshäusern Dierolf Orthopädie, von denen wir eins gemeinsam mit einem Apotheker führen. Wobei ich in den Sanitätshäusern keine Orthopädietechnik-Meister beschäftige. Es gibt nicht so viele in unserer eher ländlichen Region. Die entsprechenden Patienten schicken wir zu den Orthopädie-Technik-Kollegen. Den Kunden hilft es am meisten, wenn er gute Ratschläge bekommt und nicht, wenn ich nur das Geld im Kopf habe. Wir konzentrieren uns auf die Orthopädie-Schuhtechnik, Maßschuhe, Einlagen, Laufanalyse und die Podologie sowie im Bereich der Orthopädie-Technik auf Kompressionsstrümpfe, Bandagen, Orthesen und Rehatechnik/Pflege.
Machen, nicht träumen
OT: Worauf sind Sie in Ihrem Berufsleben besonders stolz?
Dierolf: Als Betriebsinhaber, egal in welcher Branche, muss man sich in der Öffentlichkeit zeigen, am besten mit Engagement für die Gemeinschaft. Genau das habe ich getan, zum Beispiel für das Handwerk als Kreishandwerksmeister, in der Handwerkskammer, ehrenamtlicher Arbeitsrichter, im OST-Verband bundesweit und international. Ich bin Mitglied in 30 Vereinen oder saß für meine Partei, die CDU, im Gemeinderat Obersontheim und Kreistag Schwäbisch-Hall. Es freut mich, dass meine Tochter Katja ebenfalls diesen Weg beschreitet. Und selbstverständlich gehören Weitblick, der Blick nach vorne, aber auch der Blick auf andere Bereiche dazu. So stellt man fest, was man im eigenen Beruf besser machen kann. Man träumt nicht, man macht. Ich bin stolz, dass unser Betrieb Marktführer auf seinem Gebiet ist und das ohne Konkurrenzdenken mit den Kollegen.
OT: Ihr Haus hat auch eigene Linien im Bereich Einlagen, Bandagen und Halskrausen im Angebot. Warum setzen Sie bei der Vielfalt der Produkte auf dem Markt auf Eigenentwicklungen?
Dierolf: Natürlich gibt es viele tolle Produkte wunderbarer Industriepartner. Dennoch ist das individuell gestaltete Einlagenfräsen besser, als Rohlinge zu bearbeiten, um ein Beispiel zu nennen. Deshalb arbeiten wir an einigen Stellen mit eigenen Linien. Im Übrigen bilden wir uns im Bereich neue Techniken immer weiter. Alles, was es an Technik in unserem Bereich gibt, haben und nutzen wir, so waren wir auch mit die Ersten in der Branche, die die 3D-Messtechnik eingeführt hatten. Wobei die Technik nur ein Mittel zum Zweck ist. Es geht um die bestmögliche Versorgung der Kunden. Das erreichen wir zum Beispiel, indem wir an Diabetes-Sprechstunden teilnehmen und die Ärzte zum Thema Verordnung beraten sowie Patienten Kollegen empfehlen. Ich sage ausdrücklich beraten, denn wir bestehen darauf, dass das vom Arzt erstellte Rezept an den Patienten geht. Dieser entscheidet allein, wo er das einlöst. Mir ist es wichtig, dass die Partner und Kunden wahrnehmen, der Dierolf ist in Ordnung, der ist ehrlich und hat nicht nur die Dollarzeichen im Auge. Wobei sich gerade diese Denke letztlich auszahlt. Wenn Patienten dann doch das Rezept bei uns einlösen und sich anschließend beim Arzt lobend über die handwerksgerechte Versorgung äußern, werden auch weitere Rezepte bei uns eingelöst.
Neue Gesellschafterstruktur
OT: Viele Ihrer Kollegen finden in der eigenen Familie keine Nachfolger. Wie sieht das bei Ihnen aus?
Dierolf: In unserer Branche treffen wir jeden Tag Menschen, die im Rollstuhl sitzen oder eine Amputation erlitten haben. Ich bin froh über jeden Tag, den ich aufstehen kann und andere zufriedenstellen darf. Insofern habe ich lange nicht ans Aufhören gedacht. Aber im nächsten Jahr soll es dann doch soweit sein. Mein Sohn Frank ist vom Fach. Er ist Geselle der Orthopädie-Schuhtechnik und arbeitet derzeit an seinem Bachelor of Engineering „Technische Orthopädie“ der Fachhochschule Münster. Im Moment schaut er sich international um, war länger in Israel und lernt derzeit indisch. Meine Tochter ist Diplom-Betriebswirtin, arbeitet aber auch schon länger im Betrieb mit. Wir sind gerade dabei, eine super Gesellschafterstruktur zu bauen. Eventuell beziehen wir sogar einige Meister mit ein, immerhin arbeiten derzeit fünf Meister, davon zwei Jungmeister, bei uns. Im nächsten Jahr, wenn die Struktur steht, ziehen meine Frau und ich uns noch mehr aus der Verantwortung unserer beider Geschäfte zurück. Meine Frau leitet ihr Steuerbüro. Allerdings sitze ich schon jetzt oft auf dem Kutschbock oder dem Rücken meines Pferdes, übrigens auch teilweise ohne Zaumzeug, aber in Begleitung meiner Tochter, die ebenfalls eine leidenschaftliche Reiterin ist. Ich bin überzeugt: Wer mit Tieren kann, kann auch mit Menschen.
OT: Was werden Sie Ihren Kindern mit auf den Weg geben, wenn Sie das Geschäft übernehmen?
Dierolf: Leistung muss sich lohnen. Als Inhaber ist man Vorbild. Außerdem muss man Ansprechpartner sein für Kunden, Mitarbeiter, Nachbarn, nicht nur in fachlichen Belangen. Daher ist gesellschaftliches Engagement wichtig.
OT: Sie haben sich ein Leben lang auch gesellschaftspolitisch engagiert, angefangen von der Jungen Union bis zum langjährigen Amt als Präsident des Zentralverbandes für Orthopädieschuhtechnik (ZVOS). Welches sind die größten Herausforderungen, die derzeit für Ihr Gewerk bzw. Ihre Partei anstehen?
Dierolf: Gemeinsam sind wir stark! Dieser Grundsatz gilt für die Branche genauso wie für meine Partei, die CDU. Nur wer gemeinsam nach vorne schaut, ist ein Vorbild und damit wählbar. Ob Partei oder Verband, Querelen muss man hinter sich lassen. Da ist die Orthopädie-Technik (OT) im Vergleich zur Orthopädie-Schuhtechnik einen Schritt voraus. Mir scheint auch, dass sich deutlich mehr Orthopädie-Techniker politisch oder anderswie engagieren als meine OST-Kollegen. Wenn man aber ehrlich in Netzwerken zusammenarbeitet, profitieren alle davon.
OT: Mit Blick auf die gerade in Leipzig zu Ende gegangene rein digitale OTWorld.connect: Was nehmen Sie für Ihr Unternehmen und Ihr Fach aus der Veranstaltung mit?
Dierolf: Kompliment an alle, die sich getraut haben, die OTWorld.connect durchzuziehen und natürlich an alle, die sie umgesetzt haben. Ich kann es nur wiederholen: Mein Kompliment an die Branche! Beim Zuschauen und ‑hören ist mir noch mal deutlicher geworden, dass wir in unserem Gewerk noch stärker an neuen Techniken und neuen Medien arbeiten müssen. Wir dürfen nicht an alten Formen festhalten.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
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