Einführung
Ziel der Versorgung war es, eine funktionelle Verbesserung der aktuellen Alltagssituation des Patienten zu erreichen. Der linke Arm war nur im Schultergelenk stabil positionierbar, und nur eine eingeschränkte Greiffunktion der Hand war möglich. Mit dem fehlgebildeten Oberarm rechts (Abb. 2) konnte der Patient eine aktive Bewegung der Ellenbogenflexion und ‑extension durchführen. Eine stabile Haltefunktion des distalen Stumpfes war nicht möglich, die Stumpflänge betrug 12 cm.
Für die Konstruktion der Prothesenversorgung waren die messbaren EMG-Signale eine wichtige Voraussetzung. Erste Myo-Tests im thorakalen Bereich führten leider nicht zu einem verwendbaren Ergebnis. Die EMG-Signale waren nicht stabil, und die notwendige Co-Kontraktion konnte nicht gesteuert werden.
Die EMG-Testung wurde deshalb am rechten Oberarmstumpf fortgeführt (Abb. 3). Durch die aktive Bewegungsmöglichkeit des vorhandenen Ellenbogengelenkes konnten stabile und zuverlässige EMG-Potenziale der Bizeps-Trizeps-Muskulatur definiert werden. Die Co-Kontraktion war ebenfalls zuverlässig steuerbar.
Konstruktion der Prothese
Der Patient erfüllte aufgrund der EMG-Potenzialmessung alle Voraussetzungen für ein Axon-Bus-Prothesensystem mit Axon-Arm-Hybrid-Ellenbogenpassteil, multiartikulierender „Michelangelo Hand” und einer elektronischen Drehsteuerung. Da der Oberarmstumpf rechts keine aktive Positionierungsmöglichkeit hatte, musste zusätzlich ein elektronisch blockierbares Schultergelenk eingebaut werden (Abb. 4). Mit diesem Gelenk war eine passive Einstellmöglichkeit der Abduktion/Adduktion des Schultergelenks möglich. Die Flexion/Extension konnte elektronisch blockiert werden, der Betrieb war aber auch im Freischwung möglich.
Das Ellenbogengelenk war in der Flexion/Extension durch den Patienten uneingeschränkt positionierbar. Die elektronische Sperrung/Entriegelung wurde über eine lange Co-Kontraktion myoelektrisch gesteuert.
Beantragung der Prothese
Es wurden erste Testvideos mit dem Prothesensystem erstellt, bei denen die Funktionssteuerung der Prothesenkomponenten dokumentiert wurde. Eine ausführliche Patientenanamnese, die Videodokumentation und die Myo-Tests wurden dem Kostenvoranschlag beigelegt. Die Kalkulation einer so komplexen Prothesenversorgung ist nach aktuellem BPL-Standard nicht möglich. Die gesamte Versorgung wurde daher in einer freien Kalkulation nach den neu definierten Richtlinien des „Qualitätsstandards im Bereich Prothetik der oberen Extremität” erstellt.
Anfertigung der Diagnoseschäfte
Nach der Genehmigung durch den Kostenträger wurden die Diagnoseschäfte angepasst. Der Oberarm-Diagnoseschaft rechts mit der Elektrodensteuerung wurde zunächst mit einem Thermolyn-Clear-Material angefertigt. Die Anpassung des thorakalen Prothesenschaftes erfolgte mit dem gleichen Material. Ziel der Diagnoseschäfte ist eine Volumen- und eine Druckbelastungskontrolle der jeweiligen Belastungszonen im Prothesenschaft.
Bei den Anproben wurden bereits die notwendigen Zuschnitte und Fixierungen für Schaftränder und Elektroden vorgenommen. Zusätzlich wurden Elektroniktests durchgeführt.
Anfertigung Testschäfte/Testprothese für Werkstattkontrolle
Bei der Herstellung und Anpassung der Testschäfte wurden bereits alle Änderungen und Zuschnitte aus der Diagnoseschaftphase übernommen und ausgeführt. Der Testschaft für den rechten Oberarmstumpf wurde aus Thermoflex-Material, die Thoraxschale aus Polyethylen gefertigt. Der Aufbau der Testprothese mit allen Passteilkomponenten und der notwendigen Bandagentechnik konnte im Anschluss durchgeführt werden (Abb. 5).
Prothesen-Training in der Werkstatt
Mit der erstellten Testprothese konnte nun eine intensive Prothesen-Gebrauchsschulung in der Werkstatt durchgeführt werden. Das Handling der Prothese beim An- und Ausziehen, individuelle proportionale Greifübungen (Abb. 6), die Umschaltung der „Michelangelo Hand”, die Umschaltung der elektronischen Drehsteuerung sowie die Positionierung des Ellenbogengelenks und des Schultergelenks wurden unter Anleitung des Technikers immer wieder trainiert. Bei diesen Übungen mussten die Elektronikparameter zudem immer wieder neu justiert werden.
Die Bizeps- und Trizeps-Elektroden wurden mit folgenden Funktionen belegt:
- Öffnen/Schließen der „Michelangelo Hand” (Vierkanal-Modus)
- Elektronische Handrotation (Vierkanal-Modus)
Kurze Co-Kontraktion:
- Umschaltung der Handfunktion zwischen „Lateral Modus” und „Opposition Modus”
- Lange Co-Kontraktion: Blockieren/Entriegeln des Ellenbogengelenks
Die Schultergelenksfunktion (Blockieren und Entriegeln) wird mit einem Kinn-Druckschalter elektromechanisch gesteuert. Die Steuerungselektronik für diesen Schalter wurde individuell angefertigt. Zu deren Versorgung musste ein zusätzliches Akkusystem eingebaut werden. Die exakte Ansteuerung der insgesamt 8 Elektroden bzw. Prothesenfunktionen wurde mit einem Video dokumentiert und dem Kostenträger zur Verfügung gestellt.
Testprothese für den externen Gebrauch
Zur externen Nutzung der Testprothese mussten noch umfangreiche Sicherungsmaßnahmen zur Stabilität und Bedienung im externen Bereich durchgeführt werden. Die Testprothese (Abb. 7) wurde dem Patienten für die externe Testphase 3 Wochen lang zur Verfügung gestellt.
Fertigung der Definitiv-Versorgung
Nach Abschluss der externen Testphase konnte die Definitiv-Fertigung der Prothese beginnen. Es wurden folgende Schaftkomponenten definitiv gefertigt:
- Oberarmschaft in HTV-Silikonschafttechnik (Abb. 8)
- Oberarm-Verbindungssegment in Carbon-Gießharztechnik
- Thoraxschaft in HTV-Silikonschafttechnik
- zusätzliches Silikongel-Polster im Schulterbereich zur besseren Druckverteilung (Abb. 9)
- Thorax-Containerschaft mit Carbon-Gießharztechnik (Abb. 10)
- Schultersegment zur Gelenksaufnahme mit Carbon-Gießharztechnik (Abb. 11)
Durch die individuelle HTV-Silikonschafttechnik konnte der Tragekomfort für den Patienten nochmals deutlich verbessert werden (Abb. 12a u. b). Zudem wurde das Verschlusssystem der Tragebandage angepasst, sodass ein selbstständiges An- und Ausziehen der Prothese durch den Patienten möglich war.
Schlussbemerkung
Die Entwicklung neuer Prothesensysteme und Passteilkomponenten erfordert auch vom Techniker ein hohes Maß an Kompetenz und fachlicher Qualifikation. Solche Systeme fachgerecht anzupassen und dadurch einen funktionellen Zugewinn für den Patienten zu erreichen sollte dem Spezialisten vorbehalten bleiben. Der Erfolg einer Versorgung ist zudem wesentlich abhängig von der Bereitschaft des Patienten, sich aktiv mit der Ansteuerung und Bedienung der Prothesenfunktionen auseinanderzusetzen.
Die beschriebene Versorgung wurde über einen Zeitraum von 4 Monaten durchgeführt. Das Ergebnis für den Patienten war sehr positiv: Insbesondere das bimanuelle Greifen verschaffte ihm neue Möglichkeiten der Alltagsgestaltung, die vorher nicht denkbar waren. Wesentlichen Anteil daran hatte die Umschaltung der Grifftechnik. Diese Entwicklung ist ein wichtiger Schritt in die Zukunft zur funktionellen Verbesserung unserer Prothesensysteme.
Der Autor:
Joachim Frühauf
Frühauf Armprothetik GmbH
Am Bahndamm 25/1
69256 Mauer
info@armprothetik.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Frühauf J. Prothetische Versorgung nach transversaler Fehlbildung der oberen Extremität – Stand der Technik nach dem „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität“. Orthopädie Technik, 2014; 65 (8): 32–34
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