Einleitung
Entwicklungsstand der Prothetik
Die Entwicklung der Prothetik hat ein hohes Maß an Innovation zu verzeichnen, sei es in der Materialtechnologie oder der Integration elektronischer Komponenten in das Prothesensystem. Dem Thema der Thermoregulation im Prothesenschaft wurde jedoch bis heute keine allzu große Bedeutung zugemessen, wobei aber einige wissenschaftliche Arbeiten die Wichtigkeit dieses Themas unterstreichen.
Thermosituation und Thermoregulation
Die durch den Stoffwechsel produzierte Energie des menschlichen Körpers wird zu ungefähr 75 bis 80 Prozent in Wärme umgesetzt 1 2. Nach Messungen von Koralewski wird die Wärmeproduktion u. a. beeinflusst durch Geschlecht, Nahrungsaufnahme, Aktivität, Muskelbewegung und Tageszeit 1. Der menschliche Körper produziert aufgrund der Stoffwechselprozesse durchschnittlich 120 Watt an Wärme; diese Wärmeleistung kann bei schwerer Arbeit auf 300 Watt ansteigen 2. Überschüssige Körperwärme kann grundsätzlich über Konduktion, Konvektion, Radiation und Evaporation abgeführt werden 1. Eine Umgebungstemperatur von 26 °C wird im Mittel als angenehm empfunden, bei niedrigeren Temperaturen muss eine Wärmeisolierung durch z. B. Kleidung vorgenommen werden, bei höheren Temperaturen wird mit vermehrtem Schwitzen die Temperatur gesenkt 2. Studien zeigen, dass diabetische Patienten oftmals Anzeichen einer beeinträchtigten Thermoregulation aufgrund einer gestörten sympathischen neuronalen Kontrolle von Blutdruck und Schweiß haben 3 4 5 6. Bei traumatischer Amputation können ebenfalls Störungen vorliegen, abhängig von der neuralen Schädigung.
Prothesenschaft
Der Prothesenschaft ist der einzige Anbindungspunkt einer Prothese an den menschlichen Körper. Dieser Umstand bedingt, dass der Schaft als solcher auf der einen Seite ausreichend Haftung bieten muss, um die Prothese sicher steuern zu können, und auf der anderen Seite einen hohen Tragekomfort ermöglichen muss, da er ganztägig getragen wird. In heutigen Prothesenschäften kommt eine Vielzahl von Materialien und Formen zum Einsatz, um diesen Anforderungen gerecht zu werden.
Der Prothesenschaft wirkt dennoch als thermische Barriere und kann besonders bei heißen und feuchten Umgebungsbedingungen zu einer signifikanten Minderung der Lebensqualität aufgrund der angestauten Hitze bzw. des Schweißes im Schaft führen 7. Die Schweißbildung ist aufgrund des geschlossenen Schaftes erhöht. Durch die dadurch vermehrte Feuchtigkeit kann es zu einer Reihe von entzündlichen Reaktionen der Haut kommen 8. Schweiß im Prothesenschaft wird oftmals als negativer Faktor für den Halt der Prothese angegeben 9. Dies kann im schlechtesten Fall zum Verlust der Prothese führen.
Studien belegen, dass die Temperatur im Schaft schon beim Anziehen der Prothese ansteigt, auch ohne zusätzliche körperliche Aktivität. Bei körperlicher Belastung steigt die Temperatur weiter an 10 11. Huff et al. 10 zeigen bei einer Messung der Temperatur im Schaft, dass selbst nach Belastungsende keine Abkühlung im Schaft stattfindet (Abb. 1).
Eine effektive Möglichkeit zur Verringerung der Körper- bzw. Hauttemperatur wird in einer Studie von Barwood et al. 12 aufgezeigt. Hierbei wird mittels Ventilationssystem unter der Kleidung eine Temperaturminderung der Haut und des gesamten Körpers beschrieben.
Im Rahmen eines Projektes in Zusammenarbeit zwischen der Otto Bock HealthCare GmbH und Andreas Radspieler wird ein thermoregulierendes Schaftsystem entwickelt. Ziel dieser Untersuchung ist es, erste klinische Erfahrungen mit diesem neu entwickelten thermoregulierenden Schaftsystem (im Folgenden als „Klimaschaft” bezeichnet) zu erhalten.
Methode
Die experimentelle Untersuchung des Klimaschaftes (Abb. 2) wird an zwei Testanwendern, einer weiblichen Person im Alter von 48 und einer männlichen Person im Alter von 31 Jahren, durchgeführt. Beide Testanwender sind transfemoral und unilateral amputiert. Der Zustand des Stumpfes kann als sehr gut bewertet werden, es sind keine weiteren körperlichen Beeinträchtigungen bzw. Erkrankungen zum Testzeitpunkt bekannt.
Der Klimaschaft besteht aus einem Carbonschaft mit innenliegendem, durchgängigem Silikon-Inlay und einem integrierten Wärmetauschersystem, bestehend aus einem elektronischen Lüfter und einer definierten Menge an Phase-Change-Material (PCM). Phase-Change-Material besitzt die Eigenschaft, den physikalischen Materialzustand, beispielsweise von fest nach flüssig, innerhalb eines definierten Temperaturbereichs zu ändern. Während dieses Phasenwechsels absorbiert und speichert das Material eine große Menge an latenter Wärme. Die Temperatur des Phase-Change-Materials und dessen Umgebung bleibt während dieses Prozesses annähernd konstant 13. Dieser Effekt bietet den Vorteil, dass beim Einsatz derartiger Materialien im Prothesenschaft die Temperatur für eine von Material und Menge des verwendeten Phase-Change-Materials abhängige Zeitspanne konstant gehalten werden kann. Somit werden kurzfristige Wärmeschübe aufgenommen, die Temperatur des Innenschafts stabilisiert und bei erhöhten Außentemperaturen ein Speicher für Kälteleistung zur Verfügung gestellt.
Der Klimaschaft ist zweilagig aufgebaut: Die innenliegende Schaftwandung übernimmt die strukturtragende Funktion sowie die Aufnahme des Phase-Change-Materials und der Temperatursensoren, die äußere Schale dient als äußere Hüllstruktur des Schaftes, welche zudem die Aufnahme des elektronischen Lüfters übernimmt und weiterhin als Luftbarriere der durch den Klimaschaft geführten Außenluft dient. Zur Erfassung der Schafttemperaturen ist der Schaft mit vier gleichmäßig am Umfang und in mittlerer Schafthöhe positionierten Temperatursensoren vom Typ LM35 ausgestattet. Die Temperatursensoren sind auf der Außenseite der innenliegenden Schaftwandung appliziert. Um eine Messwertverfälschung der Temperaturmesswerte durch den Luftstrom zu vermeiden, werden sie gegenüber dem Luftstrom isoliert. Das PCM-Material ist in diesem Aufbau streifenförmig auf der innenliegenden Schaftwandung des Prothesenschaftes angebracht.
Die Messwertaufnahme erfolgt über eine distal am Prothesenschaft angebrachte elektronische Messeinheit zur Datenerfassung. Es werden vier Temperaturwerte und die Lüfterdrehzahl, jeweils mit einer Frequenz von einem Hertz, aufgezeichnet.
Zur Beurteilung der Effektivität des Klimaschaftes wurden drei in Tabelle 1 angegebene Testdurchläufe durchgeführt. Die einzelnen Testphasen der Testdurchläufe wurden direkt nacheinander durchlaufen. Die Umgebungstemperatur lag zum Testzeitpunkt bei 22 bis 23 °C.
2‑Minuten-Gehtest
Beim 2‑Minuten-Gehtest hat der Proband einen festgelegten Parcours zu absolvieren. Nach 2 Minuten wird gemessen, welche Distanz er zurückgelegt hat. Die Gehgeschwindigkeit wird vom Patienten selbst gewählt. Dieser Test gibt u. a. Aufschluss über die Leistungsfähigkeit des Patienten.
„Timed up and go test”
Bei diesem Test muss der Proband eine definierte Gangstrecke und einen Aufsteh- und Niedersetzvorgang auf einem Stuhl absolvieren. Die hierfür benötigte Zeit wird gestoppt und kann u. a. Aufschluss über Mobilität und Sturzrisiko geben.
Ergebnisse
Abbildung 4 gibt die gemittelten Schafttemperaturen, welche aus den vier Einzelwerten der Temperatursensoren berechnet werden, für die Testdurchläufe 1 und 2 wieder. Die Messergebnisse zeigen, dass dabei die Schafttemperatur des Prothesenschaftes bei aktivierter Belüftung im Mittel um ca. 0,5 °C ansteigt. Die Nichtbelüftung des Klimaschaftes führt zu einem Anstieg der Schafttemperatur auf bis zu 29 °C. Vergleichend liegt die Differenz der Schafttemperatur zwischen Be- und Nichtbelüftung des Klimaschaftes bei ca. 4,5 °C. Subjektiv beschreiben beide Testanwender eine Verringerung der Schweißbildung mit aktiviertem Lüftersystem. Während des „two minute walk test” zeigt sich durch die verringerte Schweißbildung ein sichereres Tragegefühl des Klimaschaftes bei aktivierter Belüftung im Vergleich zum Klimaschaft ohne Belüftung.
Abbildung 5 gibt die gemittelten Schafttemperaturen für Testdurchlauf 3 an. Die Messergebnisse zeigen, dass sich ohne Belüftung die mittlere Schafttemperatur bei ca. 30 °C einstellt. Durch Aktivieren des Lüftersystems fällt die Temperatur innerhalb einer Zeitspanne von ca. 10 Minuten um 3 °C ab. Die Reduzierung der Schafttemperatur um 3 °C zeigt die sehr gute Wärmeleitfähigkeit des Schaftsystems. Subjektiv beschreibt die Testanwenderin bereits wenige Minuten nach Aktivierung des Lüftersystems eine Reduzierung der Schafttemperatur.
Fazit
Die ersten Testergebnisse zu Funktion und Leistungsfähigkeit des Klimaschafts sind sehr vielversprechend. Durch verschiedene Tests konnte gezeigt werden, dass der Klimaschaft effektiv einem Überhitzen des Stumpfes im Schaft entgegenwirkt, indem das Aufheizen des Schaftes deutlich hinausgezögert wurde. Über einen ausgedehnten Zeitraum konnten die Temperaturen im Schaft selbst bei körperlicher Belastung relativ konstant in einem für den Prothesenträger subjektiv angenehmeren Bereich gehalten werden.
Die Rückmeldungen der Probandin bestätigten nicht nur die gemessenen Temperaturen, sondern auch die erwartete Reduktion der Schweißbildung sowie damit einhergehend eine verbesserte Haftung im Schaft. Die gute Temperaturleitfähigkeit des Schaftsystems gewährleistet zudem auch bei wechselnden Umweltbedingungen eine effektive und schnelle Temperaturregulierung.
Die ersten individuellen Testergebnisse müssen nun im Rahmen längerfristiger Feldtests mit weiteren Probanden detailliert werden. Im Fokus werden dabei der Vorgang der Schweißbildung und der Nachweis von deren Verminderung stehen. Des Weiteren sollen Untersuchungen unter verschiedenen klimatischen Verhältnissen stattfinden. Anzunehmen ist beispielsweise, dass der Klimaschaft aufgrund des integrierten PCMs sowie der isolierenden Luftschicht zwischen innerer tragender Struktur und äußerer Verschalung auch bei geringeren Temperaturen Vorteile gegenüber herkömmlichen Schaftbauweisen bietet.
Die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen und die Relevanz des Themas werden auch durch die aktuelle Rechtsprechung des Sozialgerichts München bekräftigt, das entschied, dass ein Klimaschaft von der gesetzlichen Krankenkasse zu übernehmen ist.
Für die Autoren:
Dipl.-Ing. André Müller
Otto Bock HealthCare GmbH
Max-Näder-Straße 15
D‑37115 Duderstadt
andre.mueller2@ottobock.de
Begutachteter Artikel/reviewed paper
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