Bedeutung der Hand
„Die Berührung ist das Fundament jeder Beziehung“ (Pikler) 1; der amerikanische Neurologe Frank Wilson 2 bezeichnet die Hand als „Geniestreich der Evolution“. Diese Einschätzungen vermitteln einen Eindruck davon, welchen Stellenwert die menschliche Hand im Leben eines Menschen hat. Unsere Hände dienen uns als Werkzeug für die direkte Auseinandersetzung mit der Umwelt; mit ihnen setzen wir unsere Gedanken in die Tat um. Als sensibles Wahrnehmungsorgan vermittelt uns die Hand wichtige Informationen über die Umwelt. Die Fähigkeit, Formen und Oberflächen ohne Augenkontrolle zu identifizieren, wird nach Moberg als „taktile Gnosis“ bezeichnet 3.
Die Gestik als Bestandteil der nonverbalen Ausdruckform spielt eine wichtige Rolle im Umgang mit anderen Menschen. Als Teil der Körpersprache hat sie sich im Rahmen unterschiedlicher Gesellschaften und Kulturen entwickelt. Typische Bewegungen, die über verschiedene Kulturen hinweg die gleiche Bedeutung haben, sind z. B. der gestreckte Zeigefinger oder die zur Faust geballte Hand. Handrücken und Finger werden durch Schmuck hervorgehoben und so zur Demonstration von sozialer Stellung und Wohlstand genutzt. Die Bemalung der Hand mit Henna, lange, lackierte Fingernägel oder Handschuhe als Bestandteil der Kleidung legen hiervon beredtes Zeugnis ab 4 5.
Das individuelle kindliche Lernen ist eng mit körperlicher Bewegung und dabei insbesondere mit der sensiblen Wahrnehmung durch die Hände verbunden 6. Kinder erfahren und erleben durch das aktive Ertasten ihre Umwelt und lernen so zu differenzieren. Ausdrücke wie „begreifen“ oder „erfassen“ stehen in engem Zusammenhang mit dem Prozess des Verstehens und Denkens und werden in diesem Kontext verwendet. Angeborene Fehlbildungen der Extremitäten können betroffene Kinder – je nach Ausmaß – in ihrer psychomotorischen Entwicklung daher erheblich behindern.
Angeborene Fehlbildungen in der Geschichte
Bereits sehr früh in der Menschheitsgeschichte finden sich Hinweise auf Fehlbildungen, wie Abbildung 1 eindrücklich belegt. Eine angeborene Fehlbildung wurde bis weit ins 16. Jahrhundert als böses Omen gedeutet und als bedrohlich empfunden. Erst der französische Chirurg Ambroise Paré, der als Wegbereiter der modernen Chirurgie gilt, gibt in seinem 1573 veröffentlichten Werk „Deux livres de chirurgie“ als mögliche Ursachen für Fehler in der pränatalen Entwicklung unter anderem Vererbung, mechanische Einwirkung und eine mögliche Erkrankung des Fetus an 7. Durch die Einnahme des Schlafmittels Thalidomid (bekannt unter anderem unter dem Markennamen „Contergan“) während der Schwangerschaft kam es in den 1960er Jahren in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern zu einer Häufung von Fehlbildungen bei Neugeborenen.
Auswirkungen angeborener Fehlbildungen
Praktische Einschränkungen
Für ein Kind mit einer angeborenen Fehlbildung der oberen Extremität sind viele Aktivitäten nur schwer oder sogar unmöglich durchzuführen, z. B. Dreirad- oder Fahrradfahren, Festhalten an einer Schaukel oder am Klettergerüst. Um den Körper zu stabilisieren und einen Sturz zu verhindern, benötigt das Kind beide Hände. Diese Situation kann zu verstärkter Abhängigkeit von Bezugspersonen führen 8.
Auswirkungen im sozialen Bereich
Eine asymmetrische Erscheinung, ein ungewöhnlicher Hand- oder Armstumpf – Kinder leiden unter dem Star-ren und den Fragen ihrer Mitmenschen und werden oft Opfer sozialer Ausgrenzung. Als Konsequenz wird die Hand in der Tasche oder im Ärmel versteckt. Die ungewollte Aufmerksamkeit führt in der Folge nicht selten zu funktioneller Beeinträchtigung und einem Vermeidungsverhalten in sozialen Situationen 9.
Körperliche Auswirkungen
Eine nichtkompensierte hohe Fehlbildung kann durch einseitige Belastung zu einer asymmetrischen Körperhaltung beitragen und im weiteren Verlauf zu körperlichen Problemen führen. Der Einsatz des betroffenen Armes verlangt ein Vorneigen des Körpers und/oder eine Rotation des Rumpfes, um die Verkürzung des Armes auszugleichen (Fahrradfahren oder das Arbeiten am Tisch) (Abb. 2). Viele Erwachsene mit angeborener Fehlbildung klagen daher über Schulter- bzw. Nackenbeschwerden. Zudem kann eine mechanische Fehlbelastung zu Überlastungssyndromen des nichtbetroffenen Armes führen 10 11. Häufig betroffen sind:
- Schulter: Tendinitis der Rotatorenmanschette (Supraspinatussehne), Bursitis subacromialis
- Ellbogen: Epicondylitis humeri radialis, Epicondylitis humeri ulnaris
- Handgelenk: Karpaltunnelsyndrom
- Hand/Finger: Tendovaginitis de Quervain, Trigger-Finger
Behandlungsstrategie bei angeborener Fehlbildung
Die Geburt eines Kindes mit einer angeborenen Fehlbildung stürzt Eltern häufig in ein emotionales Chaos. Befürchtungen über die Zukunft des Kindes in Bezug auf unterschiedliche Lebensbereiche wie Spiel, Partnerschaft, Selbstständigkeit oder Familiengründung stehen im Vordergrund. Häufig fühlen sich Eltern für die Behinderung ihres Kindes verantwortlich oder schuldig daran 12. Die Information und Unterstützung der Eltern steht daher an erster Stelle aller Maßnahmen 13. In dieser Situation kann auch der Einbezug eines spezialisierten Physio- oder Ergotherapeuten hilfreich sein. Therapeuten unterstützen die motorische und kognitive Entwicklung des Kindes und können z. B. bei sich andeutender Fehlhaltung intervenieren.
Behandlungsstrategie/ prothetische Versorgung
Eine erste Konsultation mit einem spezialisierten Handchirurgen ist sinnvoll und sollte so früh wie möglich erfolgen, um zu klären, ob operative Korrekturmaßnahmen sinnvoll sind. So können Zusammenhänge erläutert, Unsicherheit innerhalb der Familie reduziert und ein ungefährer Zeitplan für einen möglichen operativen Eingriff oder die prothetische Versorgung erstellt werden. Durch die Verbesserung mikrochirurgischer Techniken sind heute unterschiedliche Behandlungsverfahren zur Korrektur angeborener Fehlbildungen möglich. Die jeweilige Intervention ist abhängig von Art und Ausmaß der Fehlbildung.
Entscheidend ist eine möglichst umfassende Aufklärung der Eltern, die so in die Lage versetzt werden, die entsprechende Entscheidung für ihr Kind zu treffen und mitzutragen. Dies setzt einen Austausch im multidisziplinären Team voraus, bei dem die Teilnehmer über die Inhalte und Möglichkeiten der jeweils anderen Berufsgruppe informiert sind (Abb. 3). Einerseits sollte der Chirurg wissen, welche funktionellen Lösungen von Seiten der aktuellen Prothesentechnologie zur Verfügung stehen, andererseits ist ein ausgeprägtes Interesse und Verständnis von Seiten des Orthopädie-Technikers für die Möglichkeiten, die dem Handchirurgen zur Verfügung stehen, erforderlich. So kann im Gespräch auch geklärt werden, ob ein chirurgischer Eingriff die Ausgangslage für eine prothetische Versorgung verbessern würde.
Sobald Eltern ausreichende Informationen erhalten haben, werden weitere Maßnahmen in Betracht gezogen. Kann durch chirurgische Maßnahmen keine funktionelle Verbesserung erreicht werden, stellen Prothesen u. U. eine Option dar, um die fehlende Funktion auszugleichen, die Integration ins soziale Umfeld zu unterstützen und so ein selbstständiges Leben zu ermöglichen.
Derzeit kann keine Prothese die Funktion einer Hand komplett ersetzen. Die Aufklärung der Eltern und Betroffenen – auch über die Nachteile einer Prothese – ist daher sehr wichtig, um die meist sehr hohe Erwartungshaltung der Betroffenen der Realität anzupassen. Diese Information kann Enttäuschungen und Probleme während des Anpassungsprozesses verhindern oder zumindest reduzieren. Sobald die Entscheidung für eine Prothese gefallen ist, ergeben sich weitere Fragen, die, wie man bei der Durchsicht der Literatur feststellen wird, nicht immer klar zu beantworten sind.
Zeitpunkt der ersten Prothesenversorgung
Es gibt keine einheitliche Evidenz in der Literatur, ob es vorteilhaft ist, bereits sehr junge Kinder mit einer passiven Prothese zu versorgen. Die entsprechenden Altersangaben sind unterschiedlich und empfehlen eine Anpassung ab dem 3. Monat bis zu 2 Jahren 14 15. Viele Autoren stimmen allerdings darin überein, dass eine frühzeitige Versorgung mit einer passiven Prothese ab dem 6. Lebensmonat förderlich für die Akzeptanz einer myoelektrischen Prothese sein kann 16 17 18. Auch das Alter für die Anpassung einer myoelektrischen Prothese ist in der Literatur nicht klar definiert. In den nordamerikanischen Ländern wird die Anpassung bereits mit 10 bis 15 Monaten empfohlen, in den skandinavischen Ländern erfolgt die erste Abgabe einer myoelektrischen Prothese mit ca. zweieinhalb bis vier Jahren. Eine kürzlich veröffentlichte prospektive Studie von Sjöberg et al. konnte keine zusätzlichen Vorteile für die Anpassung einer Prothese vor dem 2. Lebensjahr nachweisen. Unter Berücksichtigung der psychosozialen und motorischen Entwicklung des einzelnen Patienten wird daher die Anpassung myoelektrischer Prothesen bei Kindern im Zeitraum von zweieinhalb bis vier Jahren empfohlen 19.
8.–12. Monat: Passive Prothese („Patschhand“)
In der sogenannten sensomotorischen Phase sammelt ein Kind Erfahrungen mit seinen Sinnesorganen und seinen Bewegungen. Die Babyhand „Physolino“ (Otto Bock) wird häufig für die Erstversorgung von Babys und Kleinkindern eingesetzt (Abb. 4). Spielsachen lassen sich so mit beiden Händen halten 20. Vorteile:
- Erhalt der Körpersymmetrie durch Gewichtsausgleich
- Verbesserung der Körperhaltung
- Vermeidung eines Schulterschiefstands
- Einsatz beider Arme beim Stützen und Krabbeln
- Einsatz beider Hände beim Halten
- Gewöhnung an die Länge und an das Tragen einer Prothese
3.–4. Jahr: Zuggesteuerte oder myoelektrische Prothese („Kinderhand 2000“, Otto Bock)
Nach der ersten Versorgung kann eine zuggesteuerte oder eine myoelektrisch gesteuerte Prothese eingesetzt werden (Abb. 5). Viele Eltern lehnen allerdings eine zuggesteuerte Versorgungsart aus ästhetischen Gründen ab. Vorteile:
- Unterstützung bei der Entwicklung von Greifmustern und Feinmotorik
- intuitives, bilaterales Greifen von Objekten
- Integration ins Körperbild und ‑schema (mit ca. 3 Jahren wissen Kinder, wo sich ihre Hand im Raum befindet)
- natürlichere Bewegungsabläufe und Körperhaltung
- Reduktion von Kompensationsbewegungen des Armes
Ab ca. 6–7 Jahren: Myoelektrische Prothese
Auch die Zeit vor dem Schuleintritt hat sich als günstiger Zeitpunkt für die Anpassung einer Prothese erwiesen. So hat das Kind ausreichend Zeit, sich mit den Eigenschaften und den Funktionen des Hilfsmittels vertraut zu machen. Neben dem spielerischen Einsatz ist es bei größeren Kindern sinnvoll, die Prothese ins soziale Umfeld und in den häuslichen Alltag zu integrieren (Schule und Hobbys wie z. B. Sport oder Musik) (Abb. 6). Beidhändige Tätigkeiten sind für die Entwicklung von Bewegungsmustern mit Prothese ebenfalls besonders wichtig. Für ein optimales Ergebnis sollte parallel zur Abgabe einer Prothese ein therapeutisches Training erfolgen. Studien 21 22 konnten belegen, dass eine therapeutische Intervention die Akzeptanz und damit das Tragen und die Nutzung einer Prothese signifikant verbessert. Eltern sind hier die wichtigsten Ansprechpartner; sie unterstützen das Kind im Hinblick auf das regelmäßige tägliche Tragen und den Einsatz der Prothese.
Befundaufnahme
Einleitend erfolgt die umfassende Befundaufnahme mit Beurteilung der Wirbelsäule und der Funktion der Skapula. Die ausführliche Anamnese beinhaltet die Beurteilung der betroffenen Seite. Sie gibt Auskunft über die Belastbarkeit des Stumpfes, die Weichteilabdeckung, die Gelenkbeweglichkeit, die Sensibilität und den Muskelstatus. Handelt es sich um eine bilaterale Fehlbildung oder ist evtl. auch die untere Extremität betroffen, muss auch die besondere Anforderung bedacht werden, die in einer solchen Situation an die Prothese gestellt wird.
Eine genaue Befragung über das soziale Umfeld, den Beruf, Interessen und Hobbys ist besonders bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen von Bedeutung, damit eine adäquate Prothese ausgewählt werden kann. Die standardisierten Befundbögen des Vereins zur Qualitätssicherung in der Armprothetik e. V. (VQSA) stellen eine wertvolle Hilfe im Evaluationsprozess dar 23. Auf der Grundlage der detaillierten Befunderhebung wird dabei ein Behandlungsplan mit Nah- und Fernzielen festgelegt.
Phasen des Prothesentrainings
Das Training selbst wird in drei Phasen unterteilt, die systematisch aufeinander aufbauen 24. Den Abschluss bildet die Ergebnismessung, die in regelmäßigen Abständen wiederholt wird:
- präprothetisches Training
- Grundlagentraining
- fortgeschrittenes Training/ „long-term follow-up“
- Assessment
Im Folgenden werden die einzelnen Phasen genauer erläutert.
Präprothetisches Training
Der sogenannte Myotest prüft, ob das Kind in der Lage ist, eine myoelektrisch gesteuerte Armprothese zu kontrollieren (Abb. 7). Anhand des Tests und beim anschließenden Myotraining wird festgelegt, welche Prothese geeignet ist bzw. welche Steuerungsform gewählt wird. Das in dieser Phase empfohlene physische Training zur Kräftigung der proximalen Muskulatur dient der Vorbereitung des Körpers und des Stumpfes zum Tragen einer Prothese. Einhändertraining und Hilfsmittelversorgung (Abb. 8) sind dabei besonders wichtig, denn nicht immer steht die Prothese zur Verfügung. Zudem soll damit auch einer Überlastung der erhaltenen Extremität vorgebeugt werden. Kinder mit einer angeborenen Fehlbildung müssen nicht „umlernen“ – sie haben Strategien zur Kompensation entwickelt und zeigen sich dabei oftmals äußerst erfinderisch.
Grundlagentraining
Während des sich anschließenden Grundlagentrainings wird zunächst das selbstständige An- und Ausziehen geübt (Abb. 9). Mit dem Öffnen und Schließen der Hand macht sich der Anwender mit der Technik vertraut und erlangt Kontrolle über die Prothese und ihre Komponenten. Die Annäherung an ein Objekt, das gezielte sichere Greifen und Loslassen von Objekten vermittelt erste Erfolgserlebnisse. Rundhölzer, Kegel, Würfel sowie Objekte unterschiedlicher Größe und Form sind geeignetes Übungsmaterial für den Anfang. Um die Fähigkeit der Griffkontrolle zu erhöhen, wird die Aktivität wiederholt und graduiert gesteigert. Konnte ausreichend Sicherheit im Umgang mit der Prothese gewonnen werden, trainiert der Einsatz diverser Materialien mit unterschiedlicher Festigkeit (z. B. Schaumstoff oder Papp-becher) den dosierten Krafteinsatz und die proportionale Kontrolle.
Eine strukturierte Steigerung ergibt sich durch die Variation der Aufgaben, die zunächst im Sitzen, später im Stehen und Gehen ausgeführt werden (Abb. 10). Durch veränderte Positionen in Bezug auf den Körper und den Einsatz unterschiedlicher Materialien werden Übungen variiert und den Fähigkeiten des Kindes entsprechend kontinuierlich angepasst. Bei der von Liselotte Hermansson 19 22 entwickelten „Skills Index Ranking Scale“ (SIRS) handelt es sich um eine auf Beobachtung basierende Methode, die es ermöglicht, die Fähigkeiten eines Kindes bei der Prothesennutzung zu bestimmen. Die Trainingsinhalte können dabei schrittweise erhöht werden, sodass die Anforderungen den Fortschritten des Kindes entsprechend angepasst sind. Darüber hinaus erleichtert die SIRS dem Therapeuten die Dokumentation und die Kommunikation über die Fähigkeiten des Kindes im Umgang mit der myoelektrischen Prothese innerhalb des therapeutischen Teams (Abb. 11).
Die Prothese vermittelt keine sensible Rückmeldung, der Anwender erhält lediglich propriozeptive Empfindungen. Eine Korrektur des einmal gewählten Griffes während des Greifvorgangs ist daher nicht möglich. Eine vorausschauende Planung, d. h. eine Entscheidung über den zu wählenden passenden Griff, erleichtert den flüssigen Ablauf einer Bewegung und Tätigkeit. Die visuelle Kontrolle ist aus diesem Grunde ebenfalls sehr wichtig, um die Auge-Hand-Koordination zu schulen. Die Stellung des Handgelenks und des Ellenbogens können während einer Tätigkeit ebenfalls nicht oder nur unzureichend korrigiert werden; das wiederholte Üben von Bewegungsabläufen führt im Verlauf des Trainings zu einer Generalisation von Greif- und Bewegungsmustern. Parallel dazu wird die Muskulatur ausdauernd trainiert und so auf das längerfristige Tragen der Prothese vorbereitet. Ein Prothesentraining ist kognitiv und physisch sehr anstrengend, Pausen und Ruhephasen müssen daher regelmäßig eingeplant werden. Kinder erlernen am besten im Spiel, ihre entsprechenden Muskeln zu kontrahieren. Sobald das Kind die Aktivierung des Griffes erlernt hat, wird dies in verschiedenen Spielsituationen wiederholt. Das Kind wird ermutigt, den Griff auszulösen und auch beim bilateralen Greifen einzusetzen. So erlernt es intuitiv den Gebrauch der Prothese.
Fortgeschrittenes Training/„long-term follow-up“
Hat sich die Kontrollfähigkeit durch Ansteuerungstraining und Wiederholung verbessert, richtet sich der Fokus vermehrt auf die Verwendung der Prothese in Alltagssituationen. Der Einbezug von Alltagsaktivitäten ist sinnvoll; die Bewältigung alltäglicher Aufgaben – z. B. Essen mit Messer und Gabel, Anziehen und Waschen – schafft Gewöhnung, Akzeptanz und Integration ins Körperschema (Abb. 12). Die Zubereitung einer kompletten Mahlzeit trainiert komplexe Bewegungsabläufe, bimanuelle Tätigkeiten und den Einsatz von Präzisionsgriffen. So werden Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gefördert. Auch in dieser Phase kann der Einsatz von Hilfsmitteln, z. B. einer Knopfhilfe, eines speziellen Winkelmessers oder einer sogenannten Non-Slip-Folie, demonstriert werden. Die Tragedauer der Prothese wird individuell bis zur vollständigen Integration in den Alltag gesteigert.
Das Fortgeschrittenentraining ist der ideale Zeitpunkt, um in verstärktem Maße auf die individuellen Bedürfnisse und die persönliche Motivation des Prothesennutzers einzugehen und die Trainingsinhalte auf Schule, Beruf, Sport, und Hobbys abzustimmen (Abb. 13). Entsprechen die Übungen der jeweiligen Lebenssituation und können sie einen tätigkeitsspezifischen Nutzen verdeutlichen, so wird dies die Mitarbeit und Motivation des Anwenders erhöhen. Ein Training im persönlichen Umfeld sowie die Vermittlung von Erfolgserlebnissen auch außerhalb des geschützten Rahmens einer Klinik oder Praxis führen darüber hinaus zu einer verstärkten Akzeptanz der Prothese.
Ergebnismessung/ Assessment
Durch die Entwicklung neuer, multiartikulierender Prothesenarten sowie verbesserter Materialien für die Schaftgestaltung ist die systematische Ergebnismessung vermehrt in den Fokus des Interesses getreten. Die Anwendung standardisierter, reliabler und validierter Messinstrumente ermöglicht die folgenden Beurteilungen:
- die Identifikation von Problemen und Barrieren,
- die Evaluation der Effektivität von Behandlungsverfahren sowie
- die Beurteilung der Fortschritte in Bezug auf das Behandlungsziel.
Erst die Auswahl unterschiedlicher Messinstrumente erlaubt eine fundierte Aussage und ist am besten geeignet, ein Ergebnis zu beurteilen. Die Tests sollen sich dabei an den relevanten Bereichen der „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) der WHO 25 orientieren.
Lindner et al. 26 empfehlen für Kinder und Heranwachsende folgende Testverfahren:
- Assessment of Capacity for Myoelectric Control (ACMC)
- Child Amputee Prosthetics Project-Functional Status Inventory (CAPP-FSIP)
- Child Amputee Prosthetics Project-Prosthesis Satisfaction Inventory (CAPP-PSI)
- Prosthetic Upper Extremity Functional Index (PUFI)
- Unilateral Below Elbow Test (UBET)
- University of New Brunswick Test of Prosthetic Function (UNB)
Für Erwachsene werden die folgenden Testverfahren genannt:
- Assessment of Capacity for Myoelectric Control (ACMC)
- Southampton Hand Assessment Procedure (SHAP) (Abb. 14)
- Orthotics and Prosthetics Users’ Survey (OPUS)
- Short Form (36) Health Survey (SF-36)
- Disabilities of the Arm, Shoulder and Hand (DASH)
- Trinity Amputation and Prosthesis Experience Scales – Revised (TAPES‑R)
Der Fragebogen „Brief Activity Performance Measure for Upper Limb Amputees (BAM-ULA)“ (verkürzte Version) erhält aktuell im englischsprachigen Raum vermehrt Beachtung 27.
Akzeptanz einer Prothese
Folgende Faktoren haben sich als unterstützend für die Nutzung einer Prothese im Alltag erwiesen 28 29:
- physische/kognitive Voraussetzungen
- frühzeitige und korrekte Versorgung (Passform, Tragekomfort)
- Reiz des Ausprobierens einer fortschrittlichen Technologie/ eines neuen Systems
- ästhetisch ansprechende Prothese
- geringes Gewicht
- Zuverlässigkeit
- umfassende Informationen
- Compliance und Motivation
- therapeutisches Training
Fazit
Die korrekte Indikation sowie ein intensives Prothesentraining beeinflussen – neben anderen Faktoren, wie z. B. der Höhe der Fehlbildung – in erheblichem Maße, ob eine Prothese akzeptiert und ins Alltagsleben integriert werden kann. Bei einer frühzeitigen Prothesenanpassung sind es die Eltern, die im Sinne ihres Kindes entscheiden. Die besondere Bedeutung, die dem Einbezug und der umfassenden Information der Eltern zukommt, darf nicht unterschätzt werden. Eine Versorgung sollte daher immer im interdisziplinären und erfahrenen Team aus Ärzten, Orthopädie-Technikern und Therapeuten erfolgen.
Die Autorin:
Susanne Breier
Ergotherapeutin, zertifizierte Handtherapeutin (DAHTH, EFSHT)
Össur Deutschland GmbH
Langer Anger 3
69115 Heidelberg
sbreier@ossur.com
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024
- Rehabilitation aus orthopädietechnischer und physiotherapeutischer Sicht – Osseointegration und Schaftprothesen der unteren Extremität im Vergleich — 5. November 2024
- Belastungsprofile von knochenverankerten Oberschenkelimplantaten verbunden mit modernen Prothesenpassteilen — 5. November 2024
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