Sensomotorische Einlagen werden von vielen Anwendern als Versorgung der Zukunft angesehen, wohingegen die Kostenträger oft skeptisch bleiben und Evidenznachweise fordern, bevor über eine Kostenerstattung nachgedacht wird. Eine große Begriffsverwirrung macht es Patient, Orthopädie-Techniker und Arzt schwer, die vielfältigen Konzepte auf dem Markt zu unterscheiden und zu bewerten.
Von einer sensomotorischen Wirkung kann man dann sprechen, wenn durch die Einlage Änderungen im sensorischen (afferenten) Input ins Zentralnervensystem (ZNS) erfolgen, die Änderungen in der Muskelaktivität nach sich ziehen. Aktuell sind diese Mechanismen nicht in Gänze identifiziert; es werden Konzepte formuliert, die noch wissenschaftlich geprüft werden müssen. Vom neurobiologischen Standpunkt aus kommen mehrere Rezeptorsysteme in Frage, die in der Lage sind, motorische Änderungen zu bewirken (Tab. 1) 1 2 3.
Die einfache Übersicht führt zwei Aspekte vor Augen:
- Auch konventionelle Einlagen können über Stellungsänderungen in den Fußgelenken unspezifische muskuläre Reaktionen hervorrufen 4. Die Besonderheit sensomotorischer Elemente muss jedoch – im Gegensatz zu rein afferenzstimulierenden Einlagen – die spezifische Wirkung auf eine definierte Muskelgruppe sein. Demzufolge muss sich die medizinisch gesicherte Wirkung einer sensomotorischen Einlage in einer Matrix mit den Komponenten „Muskel“, „Schrittphase“ und „Aktivitätsänderung“ darstellen lassen (Abb. 1). Nur dann kann streng genommen von einer Einlage mit zielgerichteter sensomotorischer Wirkung gesprochen werden.
- Da die Muskelspindeln adaptierbare Sensoren sind, über die das Zentralnervensystem einen Muskeltonus einstellen kann, muss zwischen kurz- und mittelfristigen Wirkungen unterschieden werden 5.
Der zuletzt genannte Punkt ist aus physiotherapeutischer Sicht bekannt. Eine Verlängerung des Muskels durch gezielte Behandlungstechniken führt anfangs zu einer reflektorischen Gegenreaktion (Verkürzung), auf Dauer aber zu einer Tonusverminderung und Muskelverlängerung 6 7 8 9. Aus neurokybernetischer Sicht sind also kurzfristige Reflexantworten (spinale Ebene) von mittel- und langfristigen Sollwert-Änderungen (supraspinale Ebene) zu unterscheiden. Demzufolge ist es wichtig, ob durch sensomotorische Versorgungen ein langfristiges Umprogrammieren des Regelungsmechanismus stattfindet.
Bei der Betrachtung der wissenschaftlichen Evidenz muss differenziert werden, welche bewegungskorrigierende Funktion eine sensomotorische Einlage übernehmen kann. Von einem pragmatischen Standpunkt aus ist es sinnvoll, die Muskelgruppen zu betrachten, die sich primär sensomotorisch beeinflussen lassen. Daraus leiten sich in einem zweiten Schritt dann mögliche Indikationen ab. Dabei kommen primär folgende Muskelgruppen in Frage:
- Zehenbeugemuskulatur Eine Kontraktur der Zehenbeuger kann zu einer spastischen Verkrümmung des Fußes führen. In der Physiotherapie konnte eine erfolgreiche mittelfristige Detonisierung der plantaren Muskulatur über manuelle Therapien und über Orthesen belegt werden 9 10. Bei der sensomotorischen Einlagenversorgung ist eine vergleichbare Wirkung über retrocapitale Elemente bzw. Zehenstege in verschiedener Ausführung nachvollziehbar. Plausibel ist dies, wenn im Laufe der Schrittabwicklung durch die Gewichtsverlagerung auf und über das Element ein Zug auf die plantaren Sehnenstrukturen ausgeübt wird, der den physiotherapeutischen Grifftechniken nahekommt. Dazu ist eine spezifische Form der Elemente wichtig.
- Fuß-Supinatoren Die Sehnenbestandteile des M. tibialis posterior verlaufen oberflächlich, sodass es aus anatomischer Sicht möglich erscheint, einen spezifischen gerichteten Druck oder Zug auf ihre distalplantaren Anteile im Bereich des medialen Längsgewölbes auszuüben. Über eine Änderung der plantaren Druckverteilung konnte die kinetische Wirkung dieses Elementes im Schrittverlauf gezeigt werden 11.
- Fuß-Pronatoren Die Sehnen der Mm. peroneus longus und brevis sind von lateral und plantar durch ihren oberflächlichen Verlauf zugänglich für eine mechanische Zug- oder Druckbelastung. Dass es bei einer speziellen Ausformung lateraler Einlagenelemente zu einer offensichtlich reflektorischen Aktivierungssteigerung der Pronatoren kommt, konnte in eigenen Studien nachgewiesen werden 12.
- Wadenmuskulatur Eine Wirkung auf die Wadenmuskulatur kann indirekt über eine Stellungsänderung des Kalkaneus erfolgen. Eine funktionelle Muskelschlinge, die von der Plantarfaszie über das Fersenbein und die Achillessehne zur Wadenmuskulatur wirkt, ist bekannt 13. Ein verstärkter Zug der Plantarsehne scheint den oberen Teil des Kalkaneus etwas nach dorsal zu kippen und so den Zug auf der Achillessehne zu erhöhen. In diesem Kontext konnte gezeigt werden, dass über eine Detonisierung der Wadenmuskulatur eine erfolgreiche Ko-Behandlung der Plantarfasciitis, vermutlich durch Reduktion der Zugspannung, möglich ist 14. Fersenkeile wirken über eine entgegengerichtete Anhebung und Vorkippung des Fersenbeins mechanisch entlastend auf die Achillessehne 15. Sensomotorische Wirkungen einer Einlage könnten analog über eine Aufdehnung der Plantarsehne eine Stellungsänderung des Fersenbeins bewirken und so detonisierend auf das System Achillessehne/Wadenmuskulatur wirken.
In den Wirkungskonzepten einiger Hersteller sensomotorischer Einlagen werden weitere Mechanismen postuliert, unter anderem über komplexe Muskelschlingen, die anatomisch bis zur Halswirbelsäule hin wirken sollen. Hierbei muss jedoch bedacht werden, dass nicht alle anatomisch plausiblen Muskelschlingen neurologisch nachweisbar auch reflektorisch gleichsinnig aktiviert werden, also auch funktionell wirkungsvoll sind. Daher kann ein für eine medizinische Versorgung zu forderndes homogenes Wirkungsprinzip (gleiche Therapie → gleiche Wirkung) bislang nicht belegt werden 16. Es muss allerdings betont werden, dass aus wissenschaftlicher Sichtweise eine (noch) nicht belegte Wirkung nicht bedeutet, dass ein Effekt nicht existiert.
Mehrere Faktoren müssen bei der Konzipierung bedacht werden, wenn eine sensomotorische Einlagenversorgung erfolgen soll:
- Da die Kinematik des Fußes mit der des Beines und der Hüfte zusammenhängt 17 18, können Auswirkungen einer Einlagenversorgung (egal ob konventionell oder sensomotorisch) auf die gesamte untere Extremität erwartet werden 19. In einer wissenschaftlichen Studie konnte gezeigt werden, dass sensomotorische Einlagen ein innenrotiertes Gangbild verbessern konnten. Die Autoren vermuten biomechanische Effekte, die durch eine Rückfußaufrichtung bei verringerter Pronation im Subtalargelenk induziert werden 20.
- Der Einfluss der individuellen sensomotorischen Regelungsgüte auf die Muskelaktivierung und in deren Folge auch auf die Gelenkstabilisierung ist noch nicht gänzlich erforscht 21 22 23 24 25. Daher kann eine gewisse interindividuelle Variabilität des Ansprechens auf eine sensomotorische Versorgung erwartet werden 26.
- Fußform und Beinachsenform beeinflussen die Aktivität der Fußmuskeln und folglich das Gangbild 27 28. Im Umkehrschluss sind viele Gangbildvarianten nicht durch skelettäre Achsen erklärbar 29 30, sondern die Folge neuromuskulärer Defizite. Daher erscheint eine komplexe Analyse der statischen und dynamischen Variablen sinnvoll, bevor eine sensomotorische Einlage individuell konzipiert werden kann. Dafür muss ein entsprechender Zeitbedarf einkalkuliert werden.
Die Medizin und letztlich auch die Kostenträger fordern zunehmend Evidenznachweise für orthopädietechnische Versorgungen. Bei konsequenter wissenschaftlicher Analyse sensomotorischer Einlagenkonzepte muss diese Fragestellung in zwei Teile differenziert werden:
- Es muss nachgewiesen werden, dass neurologische Mechanismen existieren, über die Änderungen der Rezeptorinformation zu Änderungen der Muskelaktivität führen. Diese neurologischen Mechanismen sind wissenschaftlich gut untersucht und zweifelsfrei nachgewiesen 5 31 32 33. Bereits durch unspezifische Änderungen der plantaren sensorischen Information können komplexe Auswirkungen auf das Gangbild beobachtet werden 34 35 36.
- Es muss gezeigt werden, dass es möglich ist, durch Einlagenelemente eine solche gezielte Veränderung der Rezeptorinformation vorzunehmen.
Zum letzten Punkt hat die Arbeitsgruppe des Verfassers für ein plantar/ lateral wirkendes Einlagenelement nachweisen können, dass eine gezielte Beeinflussung des M. peroneus im Schrittablauf möglich ist 12. Auch bei Morbus Charcot-Marie-Tooth konnte eine internationale Studie eine positive Veränderung kinetischer und kinematischer Parameter belegen 37.
Nach den oben getroffenen Annahmen ist es notwendig, dass eine sensomotorische Einlage spezifisch wirken muss. Das heißt, sie muss reproduzierbar einen definierten Muskel in einer definierten Schrittphase in einer definierten Art in seiner Aktivität ändern. Am Beispiel eines lateralen Keils mit komplexer Schliffform einer Proprio®-Einlage (Springer Aktiv AG, Berlin) konnte gezeigt werden, dass die Einlage in der Standphase einen zusätzlichen Aktivitäts-Spot der Peroneus-Muskeln bewirkt (Abb. 2). Die handwerkliche Ausformung des sensomotorischen Elements war gezielt so gewählt, dass es keine mechanisch anhebende Wirkung hatte, wie dies bei anderen Therapieformen eingesetzt wird 38. Dieser Effekt war reproduzierbar und ließe sich therapeutisch im Sinne einer Stabilisation gegen verstärkte Inversion/Supination einsetzen 39 40. Therapeutisch interessant sind vor allem langfristige Änderungen in der neuromuskulären Kontrolle, die durch eine Einlagenversorgung induziert werden 41 42 43.
Eine Eingruppierung sensomotorisch wirksamer Elemente einer Einlagenversorgung nach dem in Abbildung 1 genannten Schema wäre eine erste wichtige Voraussetzung zur Wirkungsbeurteilung anhand wissenschaftlicher Studien und zur Ableitung möglicher Indikationen. Den OT-Handwerkern vorliegenden positiven Erfahrungsberichten über sensomotorische Einlagen stehen bislang nur wenige wissenschaftliche oder klinische Studien gegenüber. Die vorhandenen Studien weisen allerdings in die gleiche Richtung: Sensomotorische Einlagen weisen ein interessantes Versorgungspotenzial auf. Hier besteht für die Zukunft ein intensiver Forschungsbedarf.
Der Autor:
Dr. rer. nat. Oliver Ludwig
Universität des Saarlandes
Sportwissenschaftliches Institut
Campus Geb. B 8.1
66041 Saarbrücken
oliver.ludwig1@uni-saarland.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Ludwig O. Sensomotorische Einlagen – Versorgung zwischen Erfahrung und Evidenz. Orthopädie Technik, 2015; 66 (9): 12–15
Wirkung des sensomotorischen Einlagen-Elementes | Primäre Rezeptorsysteme | Efferente Wirkung |
---|---|---|
Verlängerung des Muskels durch mechanischen Zug an der Sehne vom Muskel weg |
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Verkürzung des Muskels durch mechanischen Druck auf die Sehne zum Muskel hin |
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Stellungsänderung eines Gelenkteils | freie Nervenendigungen im Gelenk und in der Gelenkkapsel | unspezifisch |
Druck auf Haut und Gelenk | Druckrezeptoren, Nozizeptoren | komplexe Vermeidungsreaktion |
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