Die grundsätzliche Herausforderung jeder prothetischen Versorgung der oberen Extremität besteht darin, Ästhetik und Funktion der Prothese so zu vereinen, dass möglichst wenige Verluste in beiden Kategorien hingenommen werden müssen. Die Kompatibilität der diversen einsetzbaren Passteile vermittelt dem Techniker weitreichende Möglichkeiten, für jeden Patienten eine optimale individuelle Versorgung zu kreieren. Kreativität, Ausdauer im Entwickeln detaillierter Lösungsansätze sowie Mut, neue Ideen konkret umzusetzen, sind dabei sein Handwerkszeug.
Patientenvorstellung
Der 60-jährige Patient mit Oberarmamputation hat bereits jahrelange Erfahrung im Umgang mit einer myoelektrischen Prothese. Die Stumpfverhältnisse stellen sich wie folgt dar: Es besteht ein Oberarmstumpf rechts (Abb. 1a u. b) mit zwei gut differenzierbaren und hohen Myosignalen. Der Patient soll mit einer myoelektrischen Oberarmprothese mit Vollkontaktschaft aus HTV-Silikon, einem „Dynamic-Arm“-Ellbogen, einem Handgelenk „MyoWrist 2 Act“ und einer Hand „Vari Plus Speed“ versorgt werden.
Ziele der Versorgungen
Die Angleichung an das physiologische Erscheinungsbild und die Wiederherstellung der Arm- und Handfunktionen konnten als wesentliche Ziele der Versorgung definiert werden. Im Fokus hierbei standen:
- die Verbesserung des Schaftkomforts,
- eine optisch und haptisch natürlichere kosmetische Verkleidung,
- die Umsetzung der Prothesenansteuerung,
- die sichere Umsetzung der Greifbewegung,
- die Ermöglichung des bimanuellen Greifens,
- die Sicherstellung/Ermöglichung von Alltagsaktivitäten,
- die Vermeidung/Reduzierung unphysiologischer Kompensationsbewegungen,
- die Vermeidung/Reduzierung der Überbeanspruchung der erhaltenen Extremität sowie
- die Vermeidung von Haltungsschäden 1.
Eine anatomisch nach Gipsabdruck geformte axillar umfassende Schulterbandage auf der Kontralateralseite war aufgrund der kurzen Stumpfverhältnisse unumgänglich. Diese sollte in ihrer Ausführung ebenso angenehm zu tragen wie auch einfach zu öffnen und zu schließen sein. Um den Gesamteindruck abzurunden und ein unauffälliges Erscheinungsbild mit Prothese zu erzeugen, durfte die Bandage nur dezent unter der Kleidung auftragen.
Die manuelle Verstellmöglichkeit des MyoWrist-2-Act-Handgelenkes, das in Palmarflexions- und Dorsalextensionsrichtung bewegt werden kann, ermöglicht eine annähernd physiologische Vorpositionierung der Hand bei Aktivitäten des täglichen Lebens (z. B. sicheres Greifen von Gegenständen unterschiedlicher Form in verschiedenen Höhen oder Drehen von gegriffenen Gegenständen). Diese Bewegungsrichtung trägt dazu bei, unphysiologische Ausgleichsbewegungen in Schultergürtel und Oberkörper zu verringern bzw. zu vermeiden 1.
Versorgungsvorbereitung
Die Ansteuerung des Ellbogens und der Hand erfolgt durch myoelektrische Signale, die mittels Elektroden von M. biceps brachii und M. triceps brachii abgegriffen werden. Die Suche nach den optimalen Elektrodenpunkten stellte sich aufgrund der kurzen Stumpfverhältnisse und der Narbeneinzüge als äußerst diffizil dar. Beim Test mit dem Muskelspannungsmessgerät „Myoboy“ zeigten sich dennoch ausreichend hohe und gut differenzierbare Muskelpotenziale, um die Prothese proportional ansteuern zu können.
Es war dem Patienten zudem möglich, eine Ko-Kontraktion, also ein gleichzeitiges Kontrahieren beider Muskeln, durchzuführen. Diese Funktion ist notwendig, um eine Umschaltung in den verschiedenen Ebenen von Ellbogen und Hand zu gewährleisten. Auf ein lineares Steuerungselement, welches in der Bandage platziert werden müsste, kann in diesem Fall verzichtet werden. Somit stehen dem Prothesenträger insgesamt sechs aktive (Extension und Flexion des Ellbogens, Öffnen und Schließen der Hand, Supination und Pronation des Handgelenkes) und zwei passive Funktionen (Palmarflexion und Dorsalextension des Handgelenkes) zur Verfügung.
Probeschaftphase
Bei der Erstellung des Gipsabdruckes wurden die ermittelten Elektrodenkontaktstellen auf der Haut gekennzeichnet und übertragen. Der Abdruck wurde nach BUFA-Richtlinien modelliert: Besonderes Augenmerk lag dabei auf einer längsovalen Form, einer Umfassung des Schulterdaches sowie einer vorderen und hinteren Abstemmplatte zur Gewährleistung der Rotationsstabilität (Abb. 2a u. b). Daraufhin wurde der erste Probeschaft gefertigt.
Um die Prothese bestmöglich am Körper fixieren zu können, sollte ein Vollkontaktschaft angepasst werden. Durch die kurzen Stumpfverhältnisse war es jedoch nur in kleinen Schritten und mit diversen Probeschäften möglich, das gesteckte Ziel und somit eine optimale Schaft- und Passform zu erreichen. Die Hauptproblematik bestand in der Definition der Schaftlänge, der Höhe der medialen axillaren Anlage und der Volumenanpassung (Abb. 3).
Im Anschluss an die Formfindung wurden die Elektroden in den Testschaft eingesetzt und die Myosignale erneut überprüft. Die Elektroden-Kontaktpunkte mussten dezent versetzt werden, da sich unter den Vollkontaktschaft-Verhältnissen eine andere Positionierung der Elektroden als notwendig erwies. Es folgte die Festlegung der Bandagenbefestigungspunkte am Prothesenschaft, die in Höhe des Drehpunktes des Humeruskopfes angeordnet wurden. Hierdurch wird die optimale Stellung für die Beweglichkeit der erhaltenen Schulter gewährleistet, ohne funktionelle Einbußen bei der Ansteuerung der Prothese hinnehmen zu müssen.
Definitive Fertigung
Auf Basis des Testschaftes konnte nun ein HTV-Silikon-Innenschaft mit einer niedrigen Shore-Härte gefertigt werden. Die Silikontechnik bietet ein dauerhaftes form- und volumenkongruentes Schaftsystem mit flexiblem Adaptionsverhalten und härtevariablen Bettungsmöglichkeiten, hoher Adhäsion und hautverträglichen, hygienischen Materialeigenschaften 1.
An den Fixierungspunkten der Bandage folgte die Einarbeitung von Gewinderosetten. Der HTV-Silikon-Innenschaft wurde übergossen und damit eine formstabile Basis für die weiteren Fertigungsprozesse der Oberarmprothese geschaffen. Unter Berücksichtigung der Anteversion und der Abduktion des Stumpfes konnte der lotgerechte Aufbau ermittelt werden (Abb. 4 a u. b). An dem auf die physiologisch angeglichene Länge gekürzten Hartschaum wurde der Dynamic-Arm-Ellbogen befestigt. Lotgerecht erfolgte die Ausrichtung des Ober- und Unterarmes in der Frontalund Sagittalebene am Patienten. Somit konnte in der Anprobe sowohl die optimale Stellung als auch die von der erhaltenen Seite vorgegebene Länge des Armes ermittelt werden. Wichtig war hierbei, die Funktionalität der Armpassteile nochmals zu kontrollieren und die Komponenten gemeinsam mit dem Patienten in der entsprechenden Software zu programmieren.
Eine Testversorgung zur Überprüfung und Optimierung des statischen Aufbaus, der Körpersymmetrie und der Funktion war unumgänglich 1. Die festgelegte Stellung des Oberarmes konnte in der Folge mit dem Eingussring des Dynamic-Arm-Ellbogens verbunden und der zugeschliffene Schaumkonus nach Herstellerangaben übergossen werden (Abb. 5). Nach dem Gießvorgang wurde der Eingussring freigelegt und die Schaftränder zurechtgetrimmt.
Kosmetische Verkleidung
Es folgte der kosmetische Ausgleich: Durch Polsterung des festen Gießharzrahmens entstand eine weichere Haptik und ein angenehmeres Gefühl beim Berühren der Außenwandung. Um das Ergebnis zu komplettieren, wurde auch der Unterarm mit einem hart-weich-kombinierten abnehmbaren kosmetischen Ausgleich versehen (Abb. 6) und alle Komponenten mit SuperSkin beschichtet.
Schulterbandage
Ein möglichst unauffälliges und anatomisch komfortabel geformtes axillar umfassendes Schulterelement aus HTV-Silikon wird den Ansprüchen an ein ganztägiges Tragen der Prothese gerecht 1. Die primäre Herausforderung bestand hierbei in der gleichmäßigen Kraftverteilung an der erhaltenen Schulter. Um diese gewährleisten zu können, wurde bei diversen Austestungen der Bandagenführung die für den Patienten angenehmste und harmonischste Verlaufsrichtung der Bandagenelemente festgelegt. Es entstand eine ringförmige Ausführung, mit der zum einen die Schulter frei beweglich bleibt und zum anderen Zugkraft über die Auflage am Rücken abgenommen wird (Abb. 7a u. b).
Überdies sollte ein neues Verschlusssystem kreiert werden, das eine einfache Handhabung beim Öffnen und Schließen ermöglicht. Wie zuvor erwähnt war die Reduzierung der Überbeanspruchung der kontralateralen Extremität ein weiterer wichtiger und zu berücksichtigender Aspekt. Es entstand in diesem Zusammenhang die Idee, einen Magnetverschluss einzusetzen (Abb. 8a u. b). Durch einfaches Aufeinanderlegen der Bandagenenden schnappt der Verschluss mittels der integrierten Magnete zu. Entstehenden Scherkräften wirken schmale eingesetzte Klettbänder entgegen. Durch die Einarbeitung der Magnete in verschiedenen Höhen ist es dem Patienten möglich, die Bandage enger oder weiter zu verschließen. So wird oft im entspannten Sitzen die Bandage etwas gelöst, bei starker Nutzung ist ein festerer Sitz angenehm.
Armfunktionen und Anziehtechnik
Nach Fertigstellung und Endmontage der Prothese wurde die Funktionalität sowohl der elektronischen als auch der mechanischen Passteile überprüft. Es folgte die individuelle Programmierung und Feinjustierung aller Armkomponenten. Das Anziehen der Prothese erfolgt durch das Einziehen der Weichteile in den Schaft mittels einer Anziehhilfe. Hierfür wird diese vorbereitet und auf den Stumpf gezogen. Eine Bandverlängerung erleichtert das Einführen der Anziehtüte durch die distale Öffnung. Es muss darauf geachtet werden, dass die Weichteile unter gleichmäßigem Zug in das Schaftsystem eingezogen werden. Am Ende erfolgt das Einschrauben des Schaftventils.
Fazit
Die Versorgung innerhalb der drei Wochen der Meisterprüfungsphase war ein von vielen Detaillösungen geprägter Prozess. Zahlreiche kreative Lösungsansätze und Überlegungen im Vorhinein und während des Aufbaus ließen schließlich die hier vorgestellte myoelektrisch gesteuerte Oberarmprothese entstehen (Abb. 9a–c).
Es stellt für jeden Techniker eine Herausforderung dar, unter alltäglichen Rahmenbedingungen eine physiologisch funktionelle, passgenaue und ästhetische Armprothese zu fertigen. Zeitlicher Druck und der jeweilige finanzielle Rahmen hemmen oftmals den Freiraum, neue Ideen reiflich auszutesten und umzusetzen. Die Versorgung nach dem Qualitätsstandard für Armprothetik hat sich hier bewährt und muss in unserer Branche ihren Platz finden. Letztendlich profitieren die Patienten von dieser vorgegebenen Struktur und den definierten Qualitätsparametern nachhaltig. Diese Arbeit zeigt, dass schon kleine neu gedachte Detaillösungen eine alltägliche Versorgung zu einem Meisterstück werden lassen.
Die Autorin:
Mona Seifert
Dipl.-Orthopädie-Techniker-Meisterin
Seifert Technische Orthopädie GmbH
Tulpenbaumallee 2a
79189 Bad Krozingen
m.seifert@seifert-to.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Seifert S. Versorgung der oberen Extremität – eine myoelektrisch gesteuerte Oberarmprothese als Meisterstück. Orthopädie Technik, 2016; 67 (3): 42–45
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