OT: Mit welchem Versorgungsbedarf kam die Patientin zu Ihnen?
Lisa Seehuber: Bei der Patientin hat die MS die Auswirkung, dass die Kraft im Unterarm und in der Hand reduziert ist. Beim Greifen knickt das Handgelenk unkontrolliert in die Palmarflexion und Ulnardeviation weg, sodass sie kaum noch Kontrolle über ihre Finger hat. Die Finger bewegen sich dann in die Hyperextension, was zur Folge hat, dass ihr gegriffene Gegenstände unvorhersehbar aus der Hand fallen. Da sich die Patientin nicht mehr auf ihre Hand verlassen kann, nutzte sie diese, bevor sie zu uns kam, kaum noch. Zusätzlich hatte sie zu diesem Zeitpunkt Schmerzen im Handgelenk.
OT: Ist es gelungen, die Funktionen der Hand zu verbessern
Seehuber: Ja, nachdem die Patientin mit der Orthese bei uns im Haus und auch zuhause mit ihrer Physiotherapeutin trainiert hatte, konnten die Bewegungen, also das gezielte und kraftvolle Greifen, wieder ausgeführt werden. Zudem haben sich die Schmerzen reduziert.
OT: Warum haben Sie sich für eine 3D-gedruckte Orthese entschieden?
Seehuber: Durch die 3D-Drucktechnologie lässt sich ein ästhetisches Hilfsmittel mit erstklassiger Funktionalität erstellen. Durch eine sehr leichte, schlanke und luftdurchlässige Konstruktion ist der Tragekomfort der Printorthese sehr hoch. Der Hygienefaktor ist natürlich auch nicht zu vernachlässigen. Da es sich um eine Orthese im Handbereich handelt, muss sie gut zu reinigen sein. Dafür reichen warmes Wasser, Seife und eine weiche Bürste aus. Zudem überzeugt die Spiralorthese durch das geringe Gewicht und die hohe Stabilität bei minimalem Materialaufwand. Die Gestaltungsmöglichkeiten der Printorthesen sind nahezu unbegrenzt, sodass das Produkt auch zu einem Schmuckstück für die Patient:innen werden kann. Nur wenn ihnen die Orthese auch gefällt, wird sie tagtäglich getragen. Neben dem Muster und der Farbe besteht auch die Möglichkeit, eine Uhr, Glitzersteine oder ein Emblem in die Orthese zu integrieren. Unserer MS-Patientin war jedoch eine neutrale Optik wichtig. Bewusst hat sie sich für die schwarze Variante und das Spiralenmuster entschieden. Durch die 3D-Technologie konnten wir zudem auf einen Gipsabdruck verzichten und den Arm stattdessen mithilfe des Simbrace-Verfahrens scannen.
OT: Dafür wurde der Patientin ein Korrekturgestell angelegt. Welche Vorteile hatte das?
Seehuber: Durch das Simbrace-Verfahren, das wir bei uns im Haus entwickelt haben, können wir die Korrektur der Orthese schon im Vorfeld simulieren. Das Simbrace verfügt über verschiedene Pelotten. Diese werden nach dem bewährten Drei-Punkt-Korrekturprinzip angeordnet. Die Stellung wurde so lange verändert, bis die bestmögliche Funktion der Hand erreicht wurde. Dabei wurden mit der Patientin verschiedene Greifübungen durchgeführt. Als die perfekte Stellung gefunden war, konnte der Scan erfolgen.
OT: Welches Material kam zum Einsatz?
Seehuber: Gefertigt wurde die Orthese mittels SLS-Druck aus Polyamid 11, einem sehr leichten, teilkristallin und linear aufgebauten thermoplastischen Kunststoff.
OT: Die Orthese sollte es ermöglichen, dass die Patientin mit ihrer rechten Hand beispielsweise einen Stift halten kann. Die Orthese sollte also stabilisieren, aber auch nicht überkorrigieren. Wie gelingt es, die Balance bei der Ausführung solcher feinen Bewegungen zu finden?
Seehuber: Durch eine zu starke Korrektur des Handgelenks in die Dorsalextension wird in vielen Fällen die Funktion der Finger reduziert. Wird das Handgelenk jedoch zu weit in die Palmarflexion eingestellt, ist die Muskelkraft der Finger reduziert. Da die Spiralorthese eine Funktionsorthese ist, steht die Korrektur eher im Hintergrund. Der Fokus wurde darauf gelegt, dass die Patientin die bestmögliche Beweglichkeit und Funktion der Hand mit der Orthese erhält.
OT: Wurden weitere Disziplinen in den Prozess miteinbezogen?
Seehuber: Beim Einstellen des Simbrace werden wir Orthopädietechniker:innen immer von Physiotherapeut:innen unterstützt. Diese waren auch bei der Anprobe dabei und haben mit der Patientin die verschiedenen Griffarten geübt. Die Physiotherapeut:innen, Ergotherapeut:innen und Betreuer:innen unserer Patient:innen können bereits beim Abdruck ihre Vorstellungen und Anforderungen an die Orthese miteinbringen. Sie müssen in die Funktion und Handhabe unserer Orthesen eingewiesen werden. Eine enge Zusammenarbeit ist sehr wichtig, um für unsere Patient:innen eine bestmögliche Versorgung und Betreuung zu ermöglichen.
OT: Wie war das Feedback der Patientin?
Seehuber: Bei der ersten Anprobe der Orthese sagte die Patientin: „Ich konnte heute das erste Mal seit einem Jahr mit meiner rechten Hand ein Glas hochheben und daraus trinken.“ Einige Wochen später haben wir die Patientin im Rahmen unserer Nachsorge noch einmal telefonisch befragt, wie sie mit der Orthese zurechtkommt. Ihre Antwort war sehr aussagekräftig: „Mit der Orthese kann ich mein Kind endlich wieder auf den Arm nehmen, ohne mir Sorgen machen zu müssen, dass es mir aus der Hand rutscht.“
OT: Deckt sich das mit den Rückmeldungen anderer Patient:innen?
Seehuber: Ja, das Feedback unserer Patient:innen ist durchweg positiv. Durch die individuelle Gestaltung ist die Orthese für viele ein Schmuckstück und kein „nerviges“ oder „unschönes“ Hilfsmittel.
OT: Werden mit fortschreitender Erkrankung Anpassungen der Orthese notwendig sein?
Seehuber: Da MS eine Erkrankung ist, die sehr individuell verläuft, ist das schwer zu sagen. Kleinere Änderungen in Form und Volumen sind durch thermoplastisches Umformen bzw. Aufpolstern aber jederzeit möglich. Ist eine komplett neue Stellung notwendig, muss eine neue Orthese gefertigt werden.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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