3D-Druck-Pio­nier: „Erfolgs­quo­te liegt bei annä­hernd 100 Prozent“

Ruth Justen sprach mit einem der Digitalisierungspioniere, dem Orthopädieschuhmacher-Meister Martin Jaeger, über seinen Weg in die Digitalisierung und seine Erfahrungen damit.

OT: Herr Jae­ger, wel­che Erfah­run­gen haben Sie mit addi­ti­ven Her­stel­lungs­ver­fah­ren gemacht?

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Mar­tin Jae­ger: Wir haben bereits 2004 mit 3D-Scans ange­fan­gen. Das hat von Anfang an ganz gut geklappt. Den ers­ten D‑Drucker haben wir 2016 ange­schafft, aller­dings mit mäßi­gem Erfolg. Für 400 Euro hat­te ich den Dru­cker im Inter­net bestellt und ihn nie zum Lau­fen gebracht. Nun gebe ich ungern auf. Das The­ma schien mir zu zukunfts­träch­tig, sodass es mir kei­ne Ruhe gelas­sen hat. Im nächs­ten Schritt kauf­te ich einen 3D-Dru­cker inklu­si­ve Soft­ware für 10.000 Euro. Mein Dru­cker trug die Gerä­te­num­mer 001. Tat­säch­lich nutz­te mich der Her­stel­ler als Beta-Tes­ter. Erst nach­dem ich ihn voll­stän­dig aus­ein­an­der­ge­nom­men und wie­der zusam­men­ge­baut hat­te, funk­tio­nier­te der Dru­cker. Übri­gens habe ich die­sen Gerä­te­typ als Ein­zi­ger ans Lau­fen gebracht. Über die Jah­re habe ich mich so in die Mate­rie ein­ge­gra­ben, dass ich inzwi­schen als ein gefrag­ter Spea­k­er auf Kon­gres­sen oder in Kli­ni­ken wie der OTWorld 2018 oder zuletzt der Berufs­ge­nos­sen­schaft­li­chen Unfall­kli­nik Frank­furt am Main bin.

OT: Was fas­zi­niert Sie an den digi­ta­len Techniken?

Jae­ger: In den Jahr­zehn­ten mei­ner Tätig­keit als Ortho­pä­die­schuh­ma­cher bin ich immer wie­der an mei­ne Gren­zen gekom­men. Es gab so man­chen Fall für den ich kei­ne Ver­sor­gung mit Maß­schu­hen oder Orthe­sen anfer­ti­gen konn­te. Mit­hil­fe der addi­ti­ven Her­stel­lungs­ver­fah­ren gelingt es uns, in unse­rem Betrieb inzwi­schen Ver­sor­gun­gen mit Orthe­sen oder Maß­schu­hen durch­zu­füh­ren, bei denen ich mit den tra­di­tio­nel­len hand­werk­li­chen Metho­den regel­mä­ßig geschei­tert bin. Die Erfolgs­quo­te liegt bei uns heu­te, trotz der Kom­ple­xi­tät der Ver­sor­gun­gen, bei annä­hernd 100 Pro­zent! Ganz ehr­lich, ich fer­ti­ge kei­nen ein­zi­gen Leis­ten mehr aus Holz oder Schaum. 3D-Scans und ‑Druck sin­din die­sem Bereich viel genau­er, ver­bes­sern an vie­len Stel­len auch beim Orthe­sen­bau die Pass­form. Die Pati­en­ten gehen etwa mit ihrem neu­en Maß­schuh ein­fach los und brau­chen kei­ner­lei Nach­ar­beit mehr. Das sind beglü­cken­de Momen­te für mich und mei­ne Mit­ar­bei­ter eben­so wie für unse­re Kun­den. Den­noch: Addi­ti­ve Her­stel­lungs­ver­fah­ren sind kein Ersatz für das Hand­werk, aber eine her­vor­ra­gen­de Erweiterung.

OT: Lohnt sich die Anschaf­fung von eige­nen Maschi­nen für addi­ti­ve Her­stel­lungs­ver­fah­ren für Werk­stät­ten oder ist das eher ein The­ma für die Industrie?

Jae­ger: Das muss jeder für sich ent­schei­den. Für mich ist mein Weg klar: Ich wer­de, so weit, wie ich schon gekom­men bin, mit eige­nem Scan­ner und mit immer bes­ser wer­den­den CAD-Kennt­nis­sen mein eige­nes Ding machen und nur dort auf die Indus­trie zurück­grei­fen, wo es sich abso­lut nicht ver­mei­den lässt. Vor­teil an mei­ner Vor­ge­hens­wei­se ist die völ­li­ge gestal­te­ri­sche Frei­heit, was das Design und die Aus­wahl an Mate­ria­li­en angeht. Die Indus­trie muss immer – auch bei die­ser Tech­nik – Bau­kas­ten­sys­te­me anbie­ten und wer ein­mal die Frei­heit genos­sen hat, selbst Herr des Pro­zes­ses zu sein, will die­se auch nicht mehr auf­ge­ben. Außer­dem lässt sich die Indus­trie die­se Dienst­leis­tung teils fürst­lich bezah­len und die­ser Deckungs­bei­trag ist dann für den Betrieb ver­lo­ren. Es besteht nach mei­ner Mei­nung auch die Gefahr, dass die Indus­trie durch die­se Tech­nik schon bald ver­sucht, eige­ne Geschäfts­kon­zep­te am Markt zu instal­lie­ren und dann kann es schnell pas­sie­ren, dass der Tech­ni­ker vor Ort das Nach­se­hen hat.

OT: Wie ist das aktu­ell bei Ihnen? Dru­cken Sie Hilfs­mit­tel im eige­nen Betrieb aus oder las­sen Sie bei Part­nern drucken?

Jae­ger: Im Bereich Fused Depo­si­ti­on Mode­ling, kurz FDM­Ver­fah­ren genannt, nut­zen wir unse­ren eige­nen Dru­cker für Pro­be­schu­he und Leis­ten­bau. Orthe­sen las­sen wir auf­trags- und mate­ri­al­be­zo­gen extern bei ver­schie­de­nen Dru­cker­dienst­leis­tern in Deutsch­land dru­cken. Für mei­ne Ver­sor­gungs­fäl­le kom­men drei ver­schie­de­ne Mate­ria­li­en und damit drei ver­schie­de­ne Dru­cker infra­ge. Der ein­fachs­te kos­tet 5.000 Euro, den habe ich bei uns in der Werk­statt ste­hen. Die ande­ren bei­den Dru­cker­ty­pen lie­gen bei 100.000 Euro bzw. 300.000 Euro Anschaf­fungs­kos­ten. Das sind Sum­men, die jen­seits der Wirt­schaft­lich­keit für einen ortho­pä­die­schuh­tech­ni­schen oder ortho­pä­die­tech­ni­schen Betrieb lie­gen, zumal wir die Maschi­nen nie­mals aus­las­ten könn­ten. Druck­dienst­leis­ter neh­men je nach Anfor­de­rung und Mate­ri­al zwi­schen 30 und 300 Euro pro Ver­sor­gung. Die­ses Preis- / Leis­tungs­ver­hält­nis ist rea­li­sier­bar für mei­nen Betrieb. Aber auch in der Zusam­men­ar­beit mit die­sen Dienst­leis­tern gab es eine lan­ge Lern­kur­ve. Inzwi­schen ver­fü­gen wir aber über ein Netz­werk ver­läss­li­cher, schnel­ler und bezahlbarer
Druckdienstleister.

OT: Kön­nen Sie uns ein paar Bei­spie­le für „unmög­li­che“ Ver­sor­gun­gen nennen?

Jae­ger: Ger­ne. Zwei Bei­spie­le fal­len mir spon­tan ein: Eine 50-jäh­ri­ge Pati­en­tin von uns mit einem inope­ra­blen Pes equi­no­va­rus links, wei­ger­te sich, unse­ren Maß­schuh zu tra­gen. Zuge­ge­ben, der war optisch jen­seits von Gut und Böse. Mit­hil­fe von 3D-gedruck­ten Orthe­sen und zuge­rich­te­ten Schu­hen konn­ten wir ihr hier eine optisch akzep­ta­ble­re Lösung anbie­ten. Eine jun­ge  Rheu­ma­ti­ke­rin haben wir mit einer Hand­la­ge­rungs­schie­ne ver­sorgt, die wir als Ring­or­the­se aus­ge­führt haben. Die­se Orthe­se ähnelt eher einem Schmuck­stück, sodass die Pati­en­tin sie mit Stolz in der Schu­le trägt. Tat­säch­lich dien­te mir der Arm­schmuck von Cleo­pa­tra, den ich in einem Film gese­hen hat­te, als Inspiration.

Vorbild Cleopatra: 3D-gedruckte Handlagerungsschiene versorgt und schmückt sogleich.
Vor­bild Cleo­pa­tra: 3D-gedruck­te Hand­la­ge­rungs­schie­ne ver­sorgt und schmückt sogleich.

OT: Sie haben auf dem Gebiet der Orthe­sen bereits mit der berühm­ten Bau­haus-Uni­ver­si­tät Wei­mar zusam­men­ge­ar­bei­tet. Wie kam es dazu?

Jae­ger: Mit­te des Jah­res 2016 habe ich bei dem Pro­dukt-Desi­gner und Spe­zia­lis­ten für Com­pu­ta­tio­nal Design, Hen­ning Sei­de, eine Schu­lung zur Rhi­no­ce­ros-Soft­ware, einer Soft­ware für die com­pu­ter­ge­stütz­te 3D-Model­lie­rung und das rech­ner­ge­stütz­te Kon­stru­ie­ren, gemacht. Danach war uns klar, dass wir unbe­dingt etwas zusam­men machen müs­sen. Von da an haben wir ange­fan­gen, gemein­sam ein­zel­ne Pro­duk­te zu ent­wi­ckeln. Bis Ende des Jah­res 2016 konn­ten so schon ver­schie­de­ne Kun­den mit 3D-gedruck­ten Orthe­sen ver­sorgt wer­den. Dabei haben wir sowohl das The­ma Mes­sen, als auch das The­ma Design und Para­me­tri­sie­rung, das heißt frei wähl­ba­re Schnit­te und Lochun­gen bear­bei­tet und die­se dru­cken las­sen. Mit ande­ren Wor­ten, wir ver­füg­ten schon damals über einen Erfah­rungs­schatz mit der Durch­füh­rung von ech­ten Kun­den­ver­sor­gun­gen – und zwar mit extrem posi­ti­ven Ergeb­nis­sen. Die Pass­form der Orthe­sen war so gut, dass wir völ­lig auf Pols­te­run­gen ver­zich­ten konn­ten, was zu extrem dün­nen und sta­bi­len Ver­sor­gun­gen führ­te. Damals benutz­ten wir Voronoi-Lochun­gen die dem bio­ni­schen Prin­zip von gerin­gem Gewicht bei höchs­ter Sta­bi­li­tät folg­ten. Selbst mit dem Dru­cken von ther­mo­plas­ti­schem Poly­ure­than (TPU)-Materialien hat­ten wir schon ers­te Erfah­run­gen gesam­melt, als sich Prof. Andre­as Müh­len­be­r­end und Prof. Jan Will­mann von der Bau­haus Uni­ver­si­tät Wei­mar an Hen­ning Sei­de, Absol­vent des Stu­di­en­gangs Pro­dukt­de­sign der Bau­haus Uni­ver­si­tät Wei­mar, zwecks einer Mach­bar­keits­stu­die von Orthe­sen im addi­ti­ven Her­stel­lungs­ver­fah­ren wand­te. Als einer der weni­gen, die in der Zeit schon ech­te Pati­en­ten­ver­sor­gung auf dem Gebiet durch­ge­führt hat­ten, gehör­te ich schnell zum Team dazu. Mit dabei war auch der Desi­gner und eben­falls Absol­vent der Bau­haus Uni­ver­si­tät, Niklas Hamann.

OT: Was war die Auf­ga­ben­stel­lung an Ihr Unternehmen?

Jae­ger: Die Uni­ver­si­tä­ten sind heu­te für vie­le For­schungs­pro­jek­te auf das Ein­wer­ben von For­schungs­gel­dern bei Part­nern ange­wie­sen. Das galt auch für unser gemein­sa­mes Pro­jekt, sodass mein Betrieb im For­schungs­an­trag als soge­nann­ter „Indus­trie­part­ner“ für die Mach­bar­keits­stu­die ange­ge­ben war. Wir soll­ten unse­re Ideen für die Pati­en­ten­ver­sor­gung mit addi­tiv her­ge­stell­ten Pro­duk­ten ein­brin­gen und die Pra­xis­tests übernehmen.

OT: Wie sah die Zusam­men­ar­beit im Detail aus?

Jae­ger: Da ich Hand­wer­ker bin, habe ich als Ers­tes klas­sisch eine Orthe­se gebaut. Die­se war dann Aus­gangs­punkt für die wei­te­re Zusam­men­ar­beit mit den Wei­ma­rern. Im Ergeb­nis ent­stand die „Total Zoning Orthe­se“ – eine Begriffs­schöp­fung von Pro­fes­sor Müh­len­be­r­end. Die­ser Begriff über­schreibt die Idee, die wir 2017 zu Beginn der Mach­bar­keits­stu­die gemein­sam ent­wi­ckelt haben, näm­lich eine Orthe­se völ­lig digi­tal zu mes­sen, zu model­lie­ren und zu fer­ti­gen. Dabei ist die Gestal­tung und der Schnitt durch das model­lie­ren im CAD völ­lig frei und ist allei­ne durch die ver­sor­gungs­tech­ni­schen Not­wen­dig­kei­ten und die Vor­stel­lungs­kraft des Ver­sor­gen­den vor­ge­ge­ben, heißt, im Grun­de ist jede Orthe­se ein Ein­zel­stück, wie ja auch in der klas­si­schen Ver­sor­gung durch den Orthopädietechniker

OT: Wie beur­tei­len Sie das Ergeb­nis der Koope­ra­ti­on im Rückblick?

Jae­ger: Ich habe viel gelernt, vor allem was die Zusam­men­ar­beit mit einer Uni­ver­si­tät angeht. Lei­der ging die Zusam­men­ar­beit dann nicht über die Mach­bar­keits­stu­die hin­aus, weil die Anträ­ge auf wei­te­re For­schungs­gel­der trotz mehr­fa­cher Ver­su­che nicht bewil­ligt wur­den, so dass das Pro­jekt der­zeit in einer War­te­schlei­fe hängt.

OT: Bie­ten Sie die­se Orthe­sen auch Ihren Kun­den an?

Jae­ger: Ja. Hen­ning Sei­de und ich haben, nach­dem sich die Geneh­mi­gungs­pha­se für die wei­ter­füh­ren­de For­schung hin­zog, wei­ter Kun­den ver­sorgt und haben dabei spek­ta­ku­lä­re Erfol­ge erzielt. Unse­re Ent­wür­fe sind bei Wei­tem nicht so expe­ri­men­tell und mini­mal wie die mit der Bau­haus Uni­ver­si­tät Wei­mar, aber in der Form genau­so wie unse­re Pati­en­ten es benö­ti­gen, um bes­ser lau­fen zu können.

OT: Wagen Sie zum Abschluss des Gesprächs eine Pro­gno­se zur Zukunft des 3D-Drucks in der Orthopädie-Technik?

Jae­ger: Für mich steht fest, dass die­se Tech­nik unse­re Bran­che in kür­zes­ter Zeit revo­lu­tio­nie­ren wird.

Die Fra­gen stell­te Ruth Justen.

Michael Blatt
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