Das Ziel: Ärzt:innen und Orthopädietechniker:innen kommen miteinander ins Gespräch und finden Anknüpfungspunkte in der gemeinsamen Versorgung. Dies gelang auch beim elften Treffen dieser Art am 25. und 26. Oktober 2023 im Rahmen des Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) in Berlin. In den vier Sessions füllten insgesamt mehr als 600 Interessierte den Saal.
Die Themen der hochkarätig besetzten Symposien drehten sich um Fußversorgung, Sportorthesen und die Versorgung nach Amputation. Die vierte internationale Session behandelte aktuelle Prothesen- und Orthesenforschung in Seattle, außerdem digitale Tools, die bei der Behandlung zum Einsatz kommen (sollen).
Mehr Orthopädie(schuh)technik, weniger Operationen
Zur Behandlung von Problemen am Fuß zielten alle Referenten auf den Vorzug der konservativen Methoden ab. Dr. Hartmut Stinus, Senior Consultant und Oberarzt an der Universitätsmedizin Göttingen Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie, Orthopädische Privatpraxis Bovenden, erläuterte Untersuchungstechniken am Fuß wie den Coleman-Block-Test oder den Silfverskjöld-Test. Zu betrachten sind nicht nur der Fuß, sondern auch das Schuhwerk und mögliche Einlagen. „Bei der Palpation müssen wir immer darauf achten, ob es sich um eine flexible oder rigide Deformität handelt“, riet Stinus. In der Therapie sei immer die konservative Therapie der Operation vorzuziehen.
Konservativ vor operativ – Möglichkeiten und Chancen – zeigte auch Prof. Dr. med. oec. Bernhard Greitemann, Ärztlicher Direktor der Klinik Münsterland am Rehaklinikum Bad Rothenfelde, in seinem Vortrag auf. „Schuh und Einlage müssen eine Einheit bilden und der Fuß muss in den Schuh passen“, diese alte Weisheit gelte auch heute noch, erklärte der Ärztliche Direktor. „Als Ärzte müssen wir dem Orthopädieschuhtechniker die gewünschte funktionelle Wirkung einer Einlage angeben, das ist die entscheidende Information für eine erfolgreiche Versorgung.“ Im Anschluss an die Einlagenversorgung gehöre es zur Aufgabe des Arztes, diese zu beurteilen. Im Idealfall erübrigt sich durch die orthopädieschuhtechnische Arbeit eine Operation.
Zum richtigen Zeitpunkt und mit der richtigen Technik sind Operationen bei Erkrankungen am Rückfuß erfolgsversprechend, schilderte Prof. Dr. Markus Walther, Ärztlicher Direktor des Fachzentrums für Fuß- und Sprunggelenkchirurgie an der Schön Klinik München Harlaching, in seinem Beitrag „Rückfußprobleme – operative Lösung, wann?“, doch er riet, nach Möglichkeit drei bis sechs Monate zu therapieren, bevor über eine OP gesprochen wird. Zeitkritisch seien insbesondere Arthrose am Sprunggelenk mit Achsfehlstellungen und der Pes planovalgus. In den fortgeschrittenen Stadien degenerativer Erkrankungen sei vor allem das klinische Beschwerdebild für den OP-Zeitpunkt entscheidend.
„Vorfußprobleme – operative Lösung, wann und wie?“ lautete der Vortrag von Prof. Dr. Christina Stukenborg-Colsman, Leitung der Fuß- und Sprunggelenkschirurgie an der Orthopädischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) im Diakovere Annastift. „Bestehen ein persistierender Schmerz und ein Schuhkonflikt, ist eine Operation aus meiner Sicht sinnvoll“, sagte die Expertin. Dafür stehen mehr als 100 Behandlungstechniken zur Verfügung. „Die Wahl der Operationsmethode und die Durchführung sind entscheidend für ein gutes klinisches Ergebnis.“ Bei Hallux valgus etwa belegen Studien, dass 80 bis 95 Prozent der Operationen sehr gute klinische Ergebnisse aufweisen. Es zeigen sich jedoch auch Rezidive und damit Spielraum für Verbesserung.
Diese Fuß-Session richtete der BIV-OT gemeinsam mit der Deutschen Assoziation für Fuß- und Sprunggelenk e. V. (DAF), der Gesellschaft für Fuß- und Sprunggelenkchirurgie e. V. (GFFC), der Vereinigung Technische Orthopädie (VTO) und der Initiative’93 Technische Orthopädie aus.
Orthesen im Sport – Doping?
Die zweite Session drehte sich unter dem Vorsitz von Univ.-Prof. Dr. med. habil. Wolfram Mittelmeier, Klinikdirektor der orthopädischen Klinik und Poliklinik in Rostock, und Prof. Greitemann um das Thema „Orthesen im Sport – brauchen wir sie?“
„Technodoping durch Orthesen oder Einlagen – möglich?“ – dieser Frage ging PD Dr. Casper Grim, Klinikum Osnabrück, im ersten Vortrag nach. Seine Antwort: „Ja, das funktioniert. Bei gleicher Intensität können Sie mit dem Ein- oder Anbau eines Hilfsmittels oder einer Sohlenmodifikation eine verbesserte Laufökonomie erzielen, also schneller oder länger laufen.“ Im Spitzensport liegen etwa die Verbesserung durch neue Schäume in der Zwischensohle und eine Carbonplatte im Schuh eines Sportschuhherstellers für Spitzensportler bei 2,7 bis 4,2 Prozent. „Warum hat die Orthopädieschuhtechnik das nicht erfunden?“, fragte Grim. „Wir brauchen dennoch einen differenzierten Blick. Haben wir einen Spitzensportler vor uns oder nicht? Erzielen wir einen positiven oder doch eher einen negativen Effekt?“ Denn auch das sei möglich.
Prof. Dr. Christoph Lutter, Sektionsleiter Sportorthopädie an der Orthopädischen Klinik und Poliklinik der Universität Rostock, gab in seinem Beitrag Antworten auf die Frage: „Wie sinnvoll sind Orthesen peri-/postoperativ bei Sportverletzung?“ Im Praxisalltag müssen allerdings die Zweckmäßigkeit einer Orthese, die technischen Möglichkeiten sowie das Wirtschaftlichkeitsgebot mitbedacht werden. Und: „Wer ein Hilfsmittel verschreibt, muss es auch kontrollieren“, konstatierte Lutter mit Blick auf spätere Probleme wie Druckstellen durch eine Orthese. Die enge Zusammenarbeit mit Orthopädietechniker und Physiotherapeuten sei über den gesamten Therapiezeitraum wichtig. „Orthesen können das OP-Ergebnis unterstützen oder gar verbessern und den Wiedereinstieg in den Sport oder Alltag erleichtern“, lautete sein Fazit.
PD Dr. habil. Milena Pachowsky MHBA, Sektionsleiterin Unfallchirurgie Waldkrankenhaus Erlangen und Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, stellte sich dem Thema „Orthesen im Sporteinsatz beim Leistungssport gerechtfertigt?“ Darauf gebe es keine einfache Antwort, denn zu unterschiedlich führen die einzelnen Sportarten zu Belastungen. „In der Rehabilitation sind Orthesen auf jeden Fall sinnvoll. Bei der Prävention ist das differenzierter zu betrachten. In der Prävention zeigen Studien, dass die Sportart und deren Bewegungsmuster entscheidend für den Erfolg einer Orthesenversorgung sind“, gab die Expertin zu bedenken.
„Orthesen im Parasport?“ behandelte der Vortrag von Prof. Dr. Anja Hirschmüller, Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie und Sportmedizinerin am Altius Swiss Sportmed Center in Rheinfelden. „Auch im Parasport brauchen wir Orthesen für die Rehabilitation, Prävention und in der Steigerung der Leistung“, lautete ihre Empfehlung. Sie stellte klar, dass auch und gerade hier die Grenze von Versorgung und Technodoping fließend sei.
In der anschließenden Diskussion wies Greitemann auf die Ungerechtigkeiten bei der orthopädischen Versorgung im Spitzensport hin. Sponsoren in Europa oder den USA verschaffen ihren Geförderten Vorteile, die Sportler:innen aus anderen Regionen selten zuteilwerden. Ein weiterer Diskussionspunkt betraf die Hobbysportler:innen, bei denen die Nachfrage nach Hilfsmittel steigt: ein großer Markt für den Fachhandel.
Dauerhaft zufrieden mit der Prothese
Weiter ging es mit dem Fokus auf „Amputation – und dann?“ „Amputationen bringen nicht nur Funktionseinbußen, Schmerzen und bedingte Hilfsbedürftigkeit mit sich, sondern führen oft auch zu Depressionen, Angststörungen, sozialem Rückzug und einem deutlichen Verlust an Lebensqualität“, betonte Dr. Melissa Beirau, Oberärztin Behandlungszentrum für Rückenmarkverletzte und Leiterin der Amputationsambulanz, BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin, in ihrem Beitrag „Initiative Peers im Krankenhaus (PIK) – verbessern Peers die Akzeptanz und Verarbeitung einer Amputation?“ „Auf die Situation der Amputierten wirken die Art der Amputation, das Alter, die soziale Anbindung, aber auch der Lebensmittelpunkt etwa auf dem Land oder in der Stadt ein. Ein gleichartig, ebenbürtig Betroffener, der die Problemfelder nach Amputation bereits bearbeitet hat, kann seine Erfahrungen auf Augenhöhe weitergeben. Ein Peer ist Vorbild, Ratgeber und Motivator, steigert die Eigeninitiative und stärkt damit die amputierten Menschen auf dem neu zu meisternden Lebensweg“, hob sie die Bedeutung von Peers hervor. Da es bisher in Deutschland nur wenige Studien zur Peer-Tätigkeit gab, wurde im September 2021 ein multizentrisches von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) gefördertes Forschungsvorhaben zur Überprüfung der Effekte des Peer-Counseling-Programms bei Amputationen begonnen. Aktuell wird darüber hinaus daran gearbeitet, eine finanzielle Unterstützung der Peers für die Beratung gesetzlich Versicherter zu erhalten. Finanzielle Unterstützung leisten aber bereits jetzt die Selbsthilfeverbände und die Gesetzlichen Unfallversicherung (GUV).
Das „Körper- und Schmerzerleben nach Amputation“ wird im klinischen Alltag oft vergessen, dabei ist es von hoher Relevanz, betonte Univ.-Prof. und Dipl. Psych. Dr. Robin Bekrater-Bodmann, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Uniklinik RWTH Aachen, im gleichnamigen Vortrag. Bei bis zu 80 Prozent der Patienten nach Amputation tritt ein Phantomschmerz auf. „Er ist aber medikamentös kaum zu behandeln“, meinte der Referent und stellte Therapiemethoden vor: Durch die Manipulation des Körpererlebens lassen sich Phantomempfindungen auf ein künstliches Körperteil übertragen. Dadurch kann ein sogenanntes Prothesenembodiment erfolgen, also die Integration einer Prothese in die Körperrepräsentation einer amputierten Person. Die Prothese wird dann als Teil des eigenen Körpers wahrgenommen, was unter anderem mit einem gesunderen Körperbild und einer höheren Prothesenfunktionalität und ‑zufriedenheit assoziiert ist. „Je mehr die Prothese als eigenes Körperteil wahrgenommen wird, desto weniger Phantomschmerzen werden berichtet“, interpretierte Bekrater-Bodmann die Studienlage. Den Teilnehmer:innen gab er mit auf den Weg: „Die Körperrepräsentation bleibt auch Jahrzehnte nach einer Amputation flexibel. Die individuelle Wahrnehmung einer amputierten Person sollte in die Planung einer auf die Körperrepräsentation abzielenden Therapie integriert werden.“
„Es gibt eine Vielzahl von Studien, doch diese spiegeln zum Teil nicht den aktuellen medizinischen und orthopädietechnischen Stand wider oder schließen zu wenige Probanden ein“, berichtete PD Dr. Eva Johanna Kubosch, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätskrankenhaus Freiburg, in ihrem Beitrag „Patientenzufriedenheit nach Extremitätenamputation“. Deshalb legte die Klinik eine eigene Studie auf. Zwischen Dezember 2021 und Mai 2022 beantworteten 152 Patienten einen Onlinefragebogen. Davon wiesen 27 eine Amputation der oberen Extremitäten und 134 der unteren Extremitäten auf. Einige Ergebnisse: 74 Prozent der Befragten mit Amputation der unteren Extremität trugen ihre Prothese mehr als acht Stunden am Tag und 54,3 äußerten, ihre Erwartungen an das Leben mit Prothese sei übertroffen oder weit übertroffen worden. Die Bewilligungsdauer ihrer Prothesenversorgung habe ein bis drei Monate gedauert, sagten knapp 50 Prozent. Defizite sahen die Befragten insbesondere im Bereich der Nachbehandlung wie Gangschule, Sportangebote sowie Angebote spezifischer Nachsorgesprechstunden. Die Studie enthält viele wichtige Informationen, dennoch wünscht sich Kubosch zusätzlich Registerdaten, um die Versorgung langfristig zu verbessern.
„Im Idealfall erfolgt der Erstkontakt des Orthopädietechnikers mit dem Patienten vor der Operation“, sagte Dipl.-Orthopädietechnik-Meister Robert Helbing, Jüttner Orthopädie KG, zu Beginn seines Beitrages „Amputation ist keine Sackgasse – orthopädietechnische Versorgung“. „Orthopädietechniker übernehmen oft Aufgaben von Peers, Therapeuten und Seelsorgern. Letzterer Punkt wird oft übersehen, vor allem von Kostenträgern.“ Je besser das Vertrauensverhältnis zwischen Patienten und Orthopädietechniker, desto erfolgreicher die Versorgung. Bei der Versorgung richten sie sich im Hause Jüttner nach dem Kompendium für die untere oder obere Extremität. „Dieses sollten auch die Krankenkassen nutzen. Dann würde sich manche Diskussion um Kostenübernahme erübrigen“, meint Helbing. Ergänzend zeigte er anhand von drei Patientenbeispielen, wie eine individuelle Hilfsmittelversorgung zu einer deutlich höheren Lebensqualität beitragen kann.
Blick nach Übersee
Abschließend präsentierten US-amerikanische Forscher und Praktiker Forschungsergebnisse zu Prothesen, Orthesen sowie neuartige Behandlungen mithilfe digitaler Tools. So drehen sich mehrere ihrer Projekte um das Messen von Versorgungsergebnissen, die in Echtzeit per Bluetooth an Computer, Tablets oder Smartphones übermittelt werden. Die Tools berechnen auf der Datengrundlage mögliche Risiken oder machen Verbesserungsvorschläge. Die Daten und Empfehlungen werden teilweise gleichzeitig an Versorger und Patienten übertragen. Wie rasant sich die Prothesenversorgung in den letzten 40 Jahren in den USA entwickelt hatte, machte Prof. Robert S. Gailey (Miami/Florida) in seinem Vortrag deutlich, während Prof. Kenton Kaufman aus Rochester (New York) eindrücklich zeigte, wie die Registerarbeit und ‑forschung die Versorgung von Patienten nach Amputation verbessert hat und wie nötig eine strukturierte Datenerfassung ist.
Als Kooperationspartner der Gesamtveranstaltung waren die VTO und die Initiative ‘93 mit im Boot. Unterstützung kam auch von der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e. V. (DGIHV).
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