Patient nach Schädel-Hirn-Trauma (SHT) mit Fußschmerz – ein Fallbericht
Der Grund für frustrane Therapien liegt aber nicht immer in der pathologischen Situation des Betroffenen, sondern bisweilen in einer unzureichenden Analyse der funktionellen Defizite und dementsprechend insuffizienter Therapieplanung. An dieser Stelle kann das Programm der Gang- und Bewegungsanalyse der Observational Gait Instructor Group (O.G.I.G) die Planung unterstützen und die Dokumentation des Behandlungserfolges erleichtern. Das Potenzial dieser Methode wird exemplarisch an einem Fallbeispiel dargestellt.
Fallbeschreibung
Der heute 27-jährige Patient Herr B. erlitt im Alter von sechs Jahren ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades mit der Folge einer linksbetonten zerebralen Bewegungsstörung. Es erfolgten verschiedene Unterschenkel-Orthesenversorgungen, die jedoch immer wieder Druckstellen erzeugten oder durchbrachen und daher abgelehnt wurden. Zwölf Jahre nach dem Unfall, im Alter von 18 Jahren, wurde beim Patienten links eine extraartikuläre Arthrodese nach Green-Grice zur Aufrichtung des Pes planovalgus durchgeführt. Nach dem Eingriff ließ sich der Patient zwar auf funktionelle Orthesen ein, Nachtlagerungsschienen dagegen wurden aufgrund der wiederkehrenden Druckstellen abgelehnt. Eine Behandlung mit Botox wurde ausprobiert, aufgrund der daraus resultierenden Schwäche und Instabilität aber nicht weiterverfolgt. Seit 2012 trug der Patient nur noch Einlagen und erhielt zweimal pro Woche physiotherapeutische Behandlungen nach dem Bobath-Konzept. Aufgrund des seit langer Zeit bestehenden Behandlungsstillstandes beendete der Patient im Jahr 2015 auf eigenen Wunsch die physiotherapeutische Behandlung.
Nach einem ersten zufälligen Kontakt, bei dem der Patient über die Möglichkeiten des O.G.I.G‑Programms informiert wurde, stellte er sich im Juni 2016 in der Physiotherapeutischen Praxis des Sanitätshauses John + Bamberg vor. Er litt zum einen unter Belastungsschmerzen links im Sprunggelenk und unter dem Kleinzehenballen, zum anderen bedauerte er sein „unrundes“ Gangbild. Zweimal pro Woche trainiert der Patient in einem Fitnesszentrum. Das Fitnessprogramm setzt sich aus dynamischen Anteilen (Laufband, Crosstrainer) und kräftigenden Übungen (Schultergürtel, Rumpf und Beinmuskulatur) zusammen. Etwa alle zwei Wochen legt der Patient bis zu sechs Kilometer mit Walking-Stöcken zurück.
Eingangsbefund (T0) Patientenwunsch
Für den Patienten steht der Wunsch nach Schmerzfreiheit im Vordergrund. Dabei unterscheidet er zwei verschiedene Schmerzlokalisationen; das Ausmaß der Beschwerden charakterisiert er mit Hilfe der Numeric Rating Scale (NRS; 1 = sehr gering bis 10 = unerträglich) wie folgt: Tief im linken Sprunggelenk beschreibt er einen punktuellen Schmerz zu Beginn des Gehens mit 5 bis 6 auf der Schmerzskala. Nach 10 bis 15 Minuten Gehen liegt der Schmerz schon im Bereich 7 bis 8; schnelles Gehen verstärkt die Schmerzen weiter. Den zweiten Schmerzpunkt gibt der Patient links unter dem Kleinzehenballen an; Barfußgehen vermeidet er (die Schmerzen liegen im Bereich 8 bis 9), mit Schuhen und Einlagen gibt der Patient die Schmerzen mit 3 bis 4 auf der Skala an. Die Inspektion der linken Fußsohle zeigt am Kleinzehenballen ein ausgeprägtes Hornhautareal; die elektronische Fußdruckmessung bestätigt die Überbelastung der Fußsohle in dieser Region. Deutlich untergeordnet, aber trotzdem bedeutsam für den Patienten ist der äußere Eindruck seines Gehens: Er möchte demnach „flüssiger“ und „runder“ gehen.
Inspektion im Stand
Die Inspektion ergibt, dass die Fersen beidseits Kontakt mit dem Boden haben; jedoch weicht links der Calcaneus in eine Varusstellung ab, und die Fußaußenkante erfährt mehr Belastung. Die linke Wade ist deutlich geringer ausgeprägt. Die Armhaltung unterstreicht die Rückverlagerung der gesamten linken Rumpfseite; das Körpergewicht ist leicht nach rechts verlagert (Abb. 1).
Aufstehen/Hinsetzen
Bei der Aufgabe, aus dem Sitz aufzustehen, ohne sich auf den Oberschenkeln abzustützen, verlagert der Patient das Körpergewicht auf die rechte Seite und holt Schwung mit dem Oberkörper und den Armen. Sobald das Gesäß den Kontakt zum Hocker verliert, stabilisiert er sich, indem sich die Knie medial gegenseitig abstützen (Abb. 2).
Ganganalyse
Ausgehend vom Patientenwunsch konzentriert sich die Ganganalyse auf die linke Körperhälfte, wobei die Betrachtung der Videoaufnahmen sowohl in der Sagittalebene (Abb. 3a) als auch in der Frontalebene (Abb. 3b) wichtige Erkenntnisse liefert: Der initiale Kontakt (IC) links erfolgt nicht mit der Ferse, sondern mit dem Vorfuß (kein „heel rocker“). Im weiteren Verlauf während der Gewichtsübernahme (LR) wird der Unterschenkel nicht nach vorn geführt (kein „ankle rocker“). Das Kniegelenk ist voll gestreckt, die Ferse schwebt; somit kann keine Stoßdämpfung stattfinden. In der Frontalebene weist das Absinken des Beckens zur Gegenseite („pelvic drop“ rechts) und das Seitpendeln des Oberkörpers zur betroffenen Seite („trunk lean“ links) auf eine insuffiziente hüftübergreifende Muskulatur hin. Zum Ende der Standbeinphase (TST) kommt es weder zur Hüftstreckung noch zur Streckung im oberen Sprunggelenk; die Schrittlänge bleibt dadurch begrenzt. Kompensatorisch weicht der Patient in die Hyperlordose aus. Während der Schwungbeinphase sind die inadäquate Fußhebung und die Kniebeugung auffällig. Das Durchschwingen des Beines (ISW) wird nur ermöglicht, indem kontralateral die Ferse abhebt („contralateral vaulting“) und somit mehr Abstand zum Boden generiert wird.
Klinische Untersuchung
Die Untersuchung der möglichen Bewegungsumfänge zeigt beidseits eine geringe Einschränkung der Hüftstreckung. Das rechte Sprunggelenk kann nur bis zur Nullgradstellung dorsalextendiert werden, links besteht ein deutliches Streckdefizit. Die sonstigen Bewegungsumfänge sind ohne Befund.
Die Kraftmessungen nach Janda zeigen eine deutliche Seitendifferenz, wobei auch die rechte Seite Schwächen aufweist (Tab. 1). Ein erhebliches Kraftdefizit links (Muskelwert 1) wird im Bereich der Glutealmuskulatur und der dorsalextendierenden und plantarflektierenden Muskulatur deutlich. Hier gelingt dem Patienten zwar die Ansteuerung der Muskulatur, jedoch kann nur der Extensor hallucis eine endgradige Bewegung erzeugen. Die Überprüfung des Tonus aus Rückenlage nach der modifizierten Ashworth-Skala (MAS) wird beidseitig mit 1 („leichter Widerstand gegen Bewegung“) bewertet, wobei links zusätzlich ein Zahnrad-Phänomen beobachtet werden kann. Beidseits kann ein Klonus ausgelöst werden, links ist der Klonus jedoch sehr viel lebhafter.
Therapieplanung/Zielparameter
Die Kombination aus erheblicher Muskelschwäche und deutlicher Bewegungseinschränkung im linken Unterschenkel-Fuß-Segment führt dazu, dass kein Abrollvorgang stattfinden kann – die drei für die Progression des Beines notwendigen Rockerfunktionen können vom Patienten nicht durchgeführt werden. Der leicht auslösbare Klonus durch Vorfußkontakt und der Strecktonus erschweren die Bewegungsübergänge zusätzlich. Es kommt zu einer Überbelastung der passiven Strukturen, wobei der Patient dies als Schmerz tief im oberen Sprunggelenk und unter dem Kleinzehenballen wahrnimmt. Das vom Patienten beschriebene „unrunde“ Gangbild wird während der Standbeinphasen im Wesentlichen durch die schwache Glutealmuskulatur verursacht: Während der Schwungbeinphasen verhindert der persistierende Strecktonus selektive und flüssige Bewegungsübergänge.
Mit dem Patienten werden drei Hauptziele der Therapie vereinbart:
- Ansteuerung und Kräftigung der Dorsalextensoren mit Fokus auf der Eversion zur Entlastung des Kleinzehenballens
- Ansteuerung und Kräftigung der Glutealmuskulatur zur Förderung der Becken-Bein-Stabilität
- Schulung der Körperwahrnehmung im Stand und während der Dynamik
Den Vorschlag, während des Gehens eine konfektionierte Fußheberorthese mit Carbonfeder auszuprobieren, lehnt der Patient aufgrund seiner negativen Erfahrungen in der Vergangenheit ab; auf einen Fersenkeil zur Entlastung der Sprunggelenke lässt er sich dagegen – wenn auch widerstrebend – ein. Er befürchtet bei der muskulären Annäherung der Plantarflexoren eine Zunahme der Verkürzung. Zur eigenen Überprüfung des Behandlungsverlaufes wählt der Patient eine Strecke von 600 Metern von seiner Wohnung zur Straßenbahn. Er will dort einmal wöchentlich die Zeit stoppen und das Schmerzausmaß im Sprunggelenk und unter dem Kleinzehenballen angeben. Zusätzlich werden elektronische Fußdruckmessungen zur Objektivierung der Belastungssituation am Fuß vereinbart.
Darüber hinaus wünscht sich der Patient die Integration der physiotherapeutischen Übungen in sein Fitnessprogramm. Daher wird im Fitnesszentrum vor der ersten Intervention (T1) ein gemeinsamer Termin vereinbart. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die insuffiziente Glutealmuskulatur und die Unterschenkel-Fuß-Muskulatur innerhalb des Übungsprogramms nicht gezielt angesprochen werden.
Physiotherapeutische Intervention (fünf Termine T1 bis T5)
Termin T1
Unter Zuhilfenahme der aufgenommenen Videos und der Ergebnisse der klinischen Untersuchung werden mit dem Patienten drei Übungen erarbeitet und eingeübt, die der Patient täglich bei sich zu Hause über 20 bis 30 Minuten durchführen will (Abb. 4a–c). Allen Übungen gemeinsam ist die Fokussierung auf die korrekte Ausgangsstellung im Hinblick auf die Rumpfgrundspannung. Die Kräftigungsübungen sollen langsam konzentrisch-exzentrisch durchgeführt werden (Dorsalextensoren im Sitz, Glutealmuskeln aus Seitlage). Im Stand, wahlweise vor dem Spiegel, steht die Wahrnehmung der Körperausrichtung im Vordergrund. Dem Patienten fällt es schwer, die linke Beckenhälfte extensorisch nach ventral zu schieben und dort zu halten. Die Übung wird mit alternierenden Kniebeuge- und Armpendelbewegungen dynamisch erweitert; dabei bleibt die Belastung auf beiden Füßen.
Termin T2
Nach einer Woche berichtet der Patient, dass sich die Schmerzen im Sprunggelenk von 6 auf 4 reduziert hätten (siehe das Schmerzprotokoll in Tab. 2). Dies lässt sich primär auf die bewusste Wahrnehmung der Körperhaltung zurückführen. Da dem Patienten die Wahrnehmungsübung im Stand und die Ansteuerung der Fußheber aus dem Sitz gut gelingen, soll er die Übungen unverändert weiter durchführen. Die korrekte Einhaltung der Seitlage für die Ansteuerung der Glutealmuskulatur fällt ihm jedoch schwer. Mit der Ausrichtung und Anstützung des Rückens und der Fußsohlen an der Wand wird die Übung leichter (Abb. 5). In der videogestützten Ganganalyse fällt weiterhin die schwebende Ferse während LR auf. Der Patient lässt sich daher auf den Versuch ein, bis zum nächsten Termin beidseits mit je 1 cm Absatzerhöhung (Keil) zu gehen.
Termin T3
Nach zwei Wochen Erprobung mit den Fersenkeilen berichtet der Patient trotz guter Schnürung der Schuhe über ein Unsicherheitsgefühl, das sich in einer reduzierten Gehgeschwindigkeit widerspiegelt (s. Tab. 2). Der Schmerz im Sprunggelenk hat sich geringfügig reduziert; der Schmerz unter dem Kleinzehenballen dagegen ist unverändert. Der Patient möchte daher sein Programm erst einmal ohne Absatzerhöhung fortführen. Im Hinblick auf das Übungsprogramm berichtet der Patient, dass ihm die Ansteuerung der Fußheber „gefühlt am meisten bringt“. Die Übung wird erweitert: Er soll über die Fußsohle abrollend im Wechsel Dorsalextensoren und Plantarflexoren aktivieren; die Übung in Seitlage bleibt unverändert. Während der „Pendelübung“ im Stand soll der Patient jetzt kurzfristig sowohl links als auch rechts den Fuß anheben und damit die Standphasenbelastung erarbeiten. Der Patient fühlt sich nach eigener Auskunft gut mit dem Übungsprogramm und stimmt daher einer Erweiterung zu. Aus einer Schrittstellung mit dem rechten Bein auf dem Stepper soll der Patient entsprechend „mid stance“ (MST) die Hüftstreckung wahrnehmen und gleichzeitig die Ferse am Boden halten. Erst im zweiten Schritt soll sich der Patient entsprechend TST links „explosiv“ abdrücken und das Gewicht auf den Stepper verlagern. Sowohl die linke Hand am Becken als auch der Spiegel können hierbei korrigierend eingesetzt werden (s. Abb. 5). Aus persönlichen Gründen wird der Folgetermin erst zwei Monate später vereinbart.
Termin T4
Nach zwei Monaten kehrt der Patient mit deutlichen Schmerzen (NRS 7) im Sprunggelenk in die Behandlung zurück. Anfänglich hatten sich die Beschwerden zwar weiterhin reduziert, und der Patient konnte sogar barfuß gehen. Eine deutliche Verschlechterung der Situation stellte sich aber nach einstündigem Rasenmähen ein: Die lang anhaltende Belastung in deutlicher Vorlage vor dem Hintergrund der eingeschränkten Dorsalextension hat die passiven Gelenkstrukturen offensichtlich überlastet. Der Patient stimmt daher dem Vorschlag einer zeitnahen ärztlichen und röntgenologischen Abklärung zu. Unabhängig davon möchte er jedoch mit dem Übungsprogramm fortfahren. Er fühlt sich zunehmend sicherer; die Schmerzen unter dem Kleinzehenballen treten nicht mehr auf. Im Haus kann er mittlerweile mit nur noch geringen Schmerzen (1 bis 2) barfuß gehen. Die Kräftigungsübungen für die Fußmuskulatur und die Gluteen bleiben bestehen. Hierbei soll der Patient jetzt den Fokus auf die exzentrische Aktivität legen. Während der Pendelübung erhält der Patient zur Unterstützung der Becken-Bein-Spannung ein Thera-Loop (s. Abb. 4c). Die Übung der Standbeinphase mit dem Stepper fällt dem Patienten jedoch sehr schwer. Es wird leichter für ihn, wenn er sich seitlich an der Sprossenwand bzw. zu Hause an einem Möbelstück festhält. Das angeforderte Röntgenbild zeigt einen knöchernen Sporn am ventralen Talus. Beim anschließenden gemeinsamen Gespräch mit der Ärztin stimmt der Patient der operativen Entfernung des Spornes zu. Des Weiteren wird eine Tibialis-anterior-Teilversetzung und eine minimalinvasive Achillessehnenverlängerung besprochen. Bis zur OP in zwei Monaten möchte der Patient das Übungsprogramm beibehalten.
Zwischenbefund T5 (präoperativ)
Patientenwunsch
Seit T4 ist der Patient am Kleinzehenballen schmerzfrei (s. Tab. 2), was sich auch in der Hautsituation und der Fußdruckmessung widerspiegelt. Bezogen auf die Schmerzen im Sprunggelenk hofft er auf den Erfolg der operativen Spornentfernung. Wenn er das Gangbild der Ausgangssituation mit dem des Zwischenbefundes im Video vergleicht, kann er qualitativ zwar kaum Unterschiede feststellen, jedoch fühlt sich das Gehen für ihn sicherer und symmetrischer an.
Inspektion im Stand
Im Vergleich zu T0 ist die Belastung der linken Fußaußenkante geringer. Die linke Rumpfhälfte ist weniger stark rückverlagert (s. Abb. 1).
Aufstehen/Hinsetzen
Der Patient fühlt sich mit den sich medial abstützenden Knien so unbehaglich, dass er das Aufstehen und Hinsetzen jetzt nur noch unter Zuhilfenahme der stützenden Hände durchführen möchte. Er nimmt die Fehlstellung zwar deutlich wahr, kann diese muskulär jedoch noch nicht korrigieren
(s. Abb. 2).
Ganganalyse
Qualitativ hat sich das Gangbild im Hinblick auf die selektiven Beinbewegungen im Vergleich zur Ausgangssituation kaum verändert. Das persistierende Streckdefizit im Hinblick auf die Dorsalextension, der nur sehr leichte Kraftzuwachs und die unveränderte Tonus-Situation lassen nur minimale Veränderungen zu. Deutlicher im Bereich des Rumpfes ist jedoch die reduzierte Hyperlordose während LR und TST (s. Abb. 3a). Quantitativ konnte die Strecke von 600 Metern in einer deutlich kürzeren Zeit zurückgelegt werden (s. Tab. 2).
Zwischenergebnis
Trotz des Rückschlags ist der Patient hoch motiviert. Durch das gemeinsame Anschauen und Reflektieren der Gang- und Bewegungsvideos versteht er den Zusammenhang zwischen biomechanischer Fehlbelastung und Schmerz. Er kann so die Notwendigkeit erkennen, bestimmte Muskelgruppen und Bewegungsübergänge zu trainieren. Der Patient fühlt sich beim Gehen zwar sicherer, das „unrunde“ Gehgefühl im Alltag besteht aber nach wie vor. Nur im Rahmen kurzer, sehr bewusster Strecken mit Walking-Stöcken ist der Patient in der Lage, besser ausgerichtet und damit seinem Gefühl entsprechend „runder“ zu gehen.
Intervention postoperativ (Termine t1 bis t9)
Die OP und die anschließende sechswöchige Behandlung mit einem Unterschenkelgips verlaufen komplikationslos. Im Anschluss werden beidseitig Unterschenkel-Hülsenapparate und links zusätzlich eine Unterschenkelnachtlagerungsorthese angefertigt (Abb. 6a u. b). Die Therapie wird postoperativ auf Wunsch des Patienten flexibel ca. einmal pro Monat durchgeführt. Herr B. nimmt angepasst an die postoperativen Schmerzen und die Belastungsvorgaben der Ärztin das selbstständige Übungsprogramm wieder auf. Zusätzlich aktiviert er einmal täglich für 20 Minuten elektrostimulativ die Fußheber. Bedeutsam für den Behandlungsverlauf ist die Zeit nach sechs Monaten postoperativ (t5), da der Patient ab diesem Zeitpunkt ohne Orthesen voll belasten darf.
Termin t5
Der Patient ist mit dem postoperativen Verlauf zufrieden. Im Haus geht er zunehmend mit Einlagen (Abb. 6c), außerhalb mit Orthesen und Walking-Stöcken. Die ursprünglichen Schmerzen unter dem Kleinzehenballen und im Sprunggelenk kann er nicht mehr wahrnehmen. Hingegen beschreibt er Schmerzen unter der Ferse beim Barfußgehen (NRS 1 bis 2). Dies ist wahrscheinlich auf die ungewohnte Fersenbelastung zurückzuführen. Der Patient soll die Schmerzen nicht provozieren und wenn möglich mit Schuhen gehen. Zum anderen beschreibt er nach vermehrter Fußheber-Aktivität einen Dehnschmerz im Verlauf der Sehne des Tibialis anterior, der jedoch bereits abgenommen habe (NRS von 4 auf 2). Aufgrund seines hohen Arbeitsaufkommens (Herr B. studiert und arbeitet nebenher) möchte der Patient die Übungen soweit es geht in seinen Alltag integrieren. Angelehnt an das präoperative Programm erarbeitet der Patient drei Übungen, die er auch an anderen Orten komplikationslos durchführen kann. Es bleibt die Ansteuerung der Unterschenkel-Fuß-Muskulatur, wobei der Patient jetzt die Füße einer Ziehharmonika gleich zusammen und wieder auseinander bewegen soll (s. Abb. 4a). Im Stand mit Halt an einem Gegenstand soll der Patient langsam dynamisch die Plantarflexoren konzentrisch und exzentrisch aktivieren. Während diese beiden Übungen nur barfuß oder mit Schuhen durchführbar sind, kann der Patient die dritte Übung auch mit Orthesen durchführen. Dabei soll er, wann immer es seine Zeit zulässt, sich im Stand bewusst aus- und aufrichten. Der Fokus liegt auf der Anspannung der Bauch- und Glutealmuskulatur. Sowohl für eine begrenzte Strecke im Freien als auch für wenige Schritte in der Wohnung soll der Patient mit Fokus auf dem Abrollvorgang (Rockerfunktionen) weich federnd gehen.
Termine t6 und t7
Der Patient kommt im Verlauf der folgenden drei Monate zweimal in die Behandlung. Der Fersenschmerz tritt nicht mehr auf; der Schmerz entlang der Sehne des Tibialis anterior ist abhängig von der Belastung (NRS 2 bis 4). Die drei genannten Übungen kann der Patient im Hinblick auf die Frequenz und die Qualität der Durchführung steigern. Aufgrund der langen Arbeitszeiten im Sitzen für sein Studium möchte er wieder das Programm im Fitnesszentrum aufnehmen und es mit den therapeutischen Übungen kombinieren bzw. ergänzen. Es wird ein vorerst letzter Termin in der Praxis für den Abschlussbefund (t8) und ein Termin zu einem späteren Zeitpunkt (t9) im Fitnesszentrum vereinbart.
Abschlussbefund t8
Patientenwunsch
Der Patient ist im Alltag nahezu schmerzfrei (Abb. 7). Den gelegentlichen Schulter-Nacken-Verspannungen nach langem Sitzen begegnet er mit seinem Übungsprogramm im Fitnesszentrum. Seit er nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig im Alltag mit den Walking-Stöcken geht, erlebt er sich mit seinem Gangbild dynamischer.
Inspektion im Stand
Der Patient steht jetzt mit vollem Fersenkontakt und entriegelten Kniegelenken. Der Oberkörper muss nicht mehr zur Wahrung des Gleichgewichtes nach vorn gebeugt werden, die linke Rumpfseite ist nur noch geringfügig rückverlagert (s. Abb. 1).
Aufstehen/Hinsetzen
Es gelingt dem Patienten jetzt, vom Stuhl aufzustehen und sich wieder hinzusetzen, ohne dass sich medial die Knie berühren. Dies zeigt eindrucksvoll die verbesserte Ansteuerung der hüftübergreifenden Muskulatur (s. Abb. 2).
Ganganalyse
Da der Patient zu diesem Zeitpunkt außerhalb der Wohnung durchgehend ohne Orthesen, aber mit Einlagen und Walking-Stöcken geht, erfolgt auch die Analyse in dieser Gangsituation (Abb. 3a u. b). Der Patient kann jetzt den Fuß initial mit Fersenkontakt aufsetzen. Fraglich ist jedoch, wie ausdauernd er mit den deutlich verbesserten, aber immer noch relativ schwachen Fußhebern dazu in der Lage ist. Auffallend ist die Rückverlagerung des Rumpfes während IC, die jedoch schon während LR reduziert wird. Eventuell steht diese Rückverlagerung im Zusammenhang mit der starken Konzentration auf den Abrollvorgang des Fußes. Der positive Abrollvorgang zu Beginn der Standphase kann aufgrund der durch die OP zusätzlich geschwächten Plantarflexoren während TS nicht abgeschlossen werden – durch die freie Beweglichkeit in Richtung Dorsalextension bleibt die Ferse buchstäblich am Boden kleben. Die Schrittlänge wird dadurch im Vergleich zur Situation vor der OP kleiner. Dies spiegelt sich in der deutlich angestiegenen Zeit wider, die der Patient jetzt für den Weg zur Straßenbahn benötigt (von 8:17 auf 9:42 Minuten; s. Tab. 2). In der Frontalebene fällt während LR die deutlich größere Spurbreite, das geringere Absinken des Beckens und das kleinere Rumpfpendeln nach links auf. Beim Durchschwingen des linken Beines ist die Kniebeugung unverändert insuffizient, jedoch ermöglicht die aktive Fußhebung ein besseres und kompensationsärmeres Durchschwingen.
Termin t9
Die OP liegt zu diesem Zeitpunkt knapp ein Jahr zurück. Der Patient berichtet zufrieden, dass er bis auf wenige Momente mit starker Belastung keine Schmerzen mehr habe. Er hat sich daher entschieden, im Alltag außerhalb des Hauses durchgehend mit Walking-Stöcken zu gehen; die Orthesen trägt er gar nicht mehr. Zum einen hat ihn der Wechsel zwischen Gehen mit und Gehen ohne Orthesen unverändert verunsichert, zum anderen hatte er zunehmend das Gefühl, gegen die Orthesen zu arbeiten. Der Patient besucht bereits wieder seit einigen Wochen das Fitnesszentrum. Das Programm (ca. zweimal pro Woche) beginnt er mit jeweils 15 Minuten auf dem Laufband und auf dem Crosstrainer. Die beidseitige Handführung unterstützt den Patienten bei der Ausrichtung des Rumpfes – er kann so bewusst den Abrollvorgang kontrollieren.
Ausblick
Der Patient Herr B. ist zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels mit dem Behandlungsergebnis und seinem Übungsprogramm zufrieden und wünscht aufgrund seiner angespannten Zeitsituation derzeit keine weiteren Therapietermine. Aus physiotherapeutischer Sicht wäre allerdings im Hinblick auf die gelegentlichen Nackenschmerzen die Arbeit an einer vermehrten Rumpfvorlage sinnvoll. Sowohl die schwache fußhebende Muskulatur als auch die tonusbedingte inadäquate Knie- und Hüftbeugung während der Schwungphase (s. Abb. 3a) ließen sich mit Hilfe der funktionellen Elektrostimulation eventuell positiv beeinflussen. Der Patient möchte dies jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt ausprobieren.
Diskussion
Im Falle einer komplexen und schon langfristig bestehenden Ausgangssituation wie beim hier vorgestellten Patienten ist es wichtig, zwischen primären biomechanischen Hauptproblemen und sekundären Kompensationen zu differenzieren. Dies kann nur mit Hilfe einer videogestützten Gang- und Bewegungsanalyse gelingen. Die Zeitlupenfunktion ist dabei sowohl für den Therapeuten als auch für den Patienten sehr hilfreich. Ist der Zusammenhang zwischen Patientenwunsch und primärem Defizit hergestellt, bleibt es jedoch schwierig, durch entsprechende Übungen diese lang bestehenden Insuffizienzen zu beeinflussen und im besten Fall zu überwinden. Häufig kann der Patient zwar isoliert und unter voller Aufmerksamkeit eine Übung korrekt durchführen – eine entsprechende Konditionierung bzw. ein Transfer in den Alltag benötigt jedoch sehr viel mehr Zeit und vielfache Wiederholungen.
Unabhängig davon scheinen die für die Standbeinphase so wichtigen Plantarflexoren und Gluteen besonders schwer ansteuerbar und trainierbar zu sein: Zwar ist Herr B. ein ausgesprochen motivierter Patient, trotzdem ist es ihm im Verlauf der fast anderthalbjährigen Therapie nicht gelungen, eine deutliche Verbesserung der Kraft zu erreichen – weder auf der linken noch auf der rechten Seite. Bemerkenswert ist dennoch, dass sich schon kleine Veränderungen im Hinblick auf die Wahrnehmung und Ansteuerung von Haltung und Bewegung positiv auf die Gesamtsituation auswirken: Der Patient konnte mit Hilfe seines Übungsprogramms seine Schmerzen vor der Überbelastung (T1 bis T3) deutlich senken. Zufriedenstellend für den Patienten (schmerzarm zu sein auch unter stärkerer Belastung) konnte die Behandlung nur durch das interdisziplinäre Zusammenspiel aller Beteiligten werden: Dank der Nähe und Offenheit aller Disziplinen im Annastift und im Sanitätshaus John + Bamberg konnte der Patient zeitnah operiert werden. Orthesen, Einlagen und Fußdruckmessungen wurden unter den Beteiligten diskutiert und abgestimmt.
Die vorgestellte Patientensituation zeigt eindrucksvoll das Potenzial der videogestützten Gang- und Bewegungsanalyse auf. Der interdisziplinäre Rahmen in Verbindung mit einem reflektierten und hoch motivierten Patienten führten zu dem für den Patienten zufriedenstellenden Behandlungsergebnis.
Danksagung
Herzlich danken möchte ich Frau Dr. Doris Stüder-Kuhl (Annastift), Herrn Uwe Goossens (John + Bamberg) und Frau Angela Hanschke (John + Bamberg) für hilfreiche und weiterführende Diskussionen.
Die Autorin:
Wiebke von Klot, Physiotherapeutin, M.Sc.
John + Bamberg GmbH u. Co. KG
Anna-von-Borries-Straße 2
30625 Hannover
WKlot@john-bamberg.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
von Klot W. Das Potenzial der systematischen Gang- und Bewegungsanalyse im interdisziplinären Kontext. Orthopädie Technik. 2019; 70 (3): 32–40
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