Nasenknorpelzellen weisen eine hohe Fähigkeit zur Knorpelmatrixproduktion auf, was besonders wichtig für die Elastizität des Kniegelenksknorpels ist. Aktuell wird das Verfahren mit zwei bezüglich des Reifegrads unterschiedlichen Implantattypen in der klinischen Anwendung an über 100 Patienten erprobt, um die Wirksamkeit von Nasenknorpelimplantaten für die Behandlung fokaler Kniedefekte nachzuweisen.
Kleine Verletzung – großes Risiko
Unser Knie ist Dreh- und Angelpunkt unserer Bewegung und dementsprechend großen Belastungen ausgesetzt. Es kommt daher oft zu Gewebeschäden durch Unfälle oder Sportverletzungen, die durch eine Knieoperation behandelt werden müssen. Da Knorpel nicht von selbst heilen kann, können auch aus kleinen unbehandelten Verletzungen im Laufe der Zeit ein größerer Knorpelschaden und eine Arthrose entstehen. Dann wird aus einer kleinen Operation eine große – das Kniegelenk muss durch ein künstliches Implantat ersetzt werden; der Heilungsprozess ist aufwendig und teuer. Ziel des europäischen Projekts »BIO-CHIP – Bioengineered Grafts for Cartilage Healing In Patients« ist daher die Entwicklung einer neuen, effizienteren Behandlungsmethode für Gewebeschäden im Knie, die frühzeitig greifen und eine dauerhafte Herstellung der normalen Gelenkfunktion ermöglichen soll.
Neuer Defekt im Knie – aktuelle Therapieverfahren
Aktuelle Therapieverfahren mit körpereigenem Ausgangsmaterial benutzen Knorpelzellen, die in der Regel mittels einer kleinen Knorpelbiopsie des Kniegelenkes gewonnen werden. Diese Verfahren haben aber zum einen den Nachteil, dass die Menge an Knorpelzellen, die sich isolieren und vermehren lässt, gering ist; zum anderen muss ein Defekt in einer weitgehend funktionell intakten Knorpelmatrix hervorgerufen werden, um das Ausgangsmaterial zu gewinnen.
Folgende Verfahren werden derzeit angewandt:
- Bei der Pridie-Bohrung wird auf körpereigene Zellen verzichtet und nur die subchondrale Knochenlamelle mechanisch punktiert, sodass sich aus der Einblutung ein Blutklot mit Blutstammzellen bildet. Hieraus entwickelt sich im weiteren Verlauf ein Faserknorpel, der jedoch nur ungenügende Eigenschaften hat, um den hohen Ansprüchen an Belastung und Elastizität zu genügen.
- In einem alternativen Verfahren wird aus dem Kniegelenk Knorpelmaterial entnommen und die hieraus isolierten Knorpelzellen vermehrt und in eine Stützstruktur eingebracht. Diese Methode erfordert eine Knorpelbiopsieentnahme aus einer intakten Gelenkregion und ist durch das begrenzte Wachstum der Knorpelzellen bei älteren Patienten (> 50 Jahre) oftmals nicht anwendbar.
- Das europaweit bereits zugelassene Spherox-Verfahren setzt ebenfalls auf die Entnahme von Knorpelgewebe und die Isolierung und Vermehrung der Knorpelzellen, jedoch werden diese in Form kleiner Kügelchen gezüchtet, die dann in den Defekt platziert werden und eine anschließende Defektdeckung bedingen.
Projekt „BIO-CHIP“ – alternative Knorpelimplantate bei fokalen Kniegelenksdefekten
Eine ganz neue Alternative bietet das von der Europäischen Union geförderte Projekt „BIO-CHIP“. Das Projekt wird im Rahmen des europäischen Forschungsrahmenprogramms „Horizont 2020“ unter dem Förderkennzeichen Nr. 681103 gefördert. In umfangreicher Forschungsarbeit hat das Universitätsspital Basel – Projektkoordinator von »BIO-CHIP« – gezeigt, dass Nasenknorpel als Ausgangsmaterial für ein Knorpelimplantat im Knie dienen kann. Nasenknorpelzellen weisen eine hohe Vermehrungsrate und eine ebenfalls hohe Knorpelmatrixproduktion auf – besonders günstige Eigenschaften für die Herstellung gezüchteten Gelenkknorpels.
Aktuell wird das Verfahren mit einer geringinvasiven Entnahmemethode in der klinischen Prüfung an über 100 Patienten erprobt, um die Wirksamkeit der Nasenknorpelimplantate für die Behandlung fokaler Knorpeldefekte am Knie nachzuweisen. Dabei wird auch ein ähnliches Produkt geprüft, bei dem die überwiegende Reifung des Knorpelgewebes in seiner natürlichen Umgebung – dem Kniegelenk des Patienten – stattfindet.
Um Knorpelgewebe aus der Nase eines betroffenen Patienten zu entnehmen, ist eine Entnahmeerlaubnis nötig, deren Gewährung sich bezüglich Umfang, Inhalt und nachzuweisenden Unterlagen, aber auch hinsichtlich der Bearbeitungszeit je nach Länderzuständigkeit unterscheidet. Die klinischen Zentren des Projekts – das Universitätsspital Basel, das Universitätsklinikum Freiburg, das Galeazzi-Institut in Mailand, das Universitätshospital Zagreb sowie die Orthopädische Klinik König-Ludwig-Haus Würzburg – sind innerhalb des Projekts für die Rekrutierung der Patienten, die Diagnosestellung, die nötigen Operationen und die Nachsorgeuntersuchungen zuständig. Trotz eines einheitlichen europäischen Rechtsrahmens müssen dabei zudem die nationalen Sichtweisen bei der Genehmigung und der Durchführung der klinischen Prüfung berücksichtigt werden.
Das Fraunhofer-Translationszentrum für Regenerative Therapien TLZ-RT des Fraunhofer ISC hat die Aufgabe, die klinischen Prüfpräparate bzw. Knorpelimplantate herzustellen. Bei diesen Implantaten handelt es sich um gewebebasierte neuartige Arzneimittel, sogenannte Advanced Therapy Medicinal Products (ATMPs), in Kombination mit einem Medizinprodukt, in diesem Fall der strukturgebenden Kollagenmatrix.
Laut Arzneimittelgesetz und Arzneimittel- und Wirkstoffherstellungsverordnung gelten für die Herstellung streng regulierte Anforderungen, die den europäischen „Leitlinien der Guten Herstellungspraxis“ („Good Manufacturing Practice“ = GMP) entsprechen müssen. Um die Herstellerlaubnis für die vorgesehenen Implantate zu erhalten, hat das Fraunhofer-Translationszentrum im Vorfeld daher umfangreiche Qualitätssicherungsmaßnahmen vorgenommen, beispielsweise die Qualifizierung der Mitarbeiter, die Validierung der Verfahrensschritte und die Anpassung der Dokumentation.
Mit der Herstellerlaubnis für die zwei Produkttypen „N‑TEC“ („Nasal Cartilage Tissue Engineered Cartilage“) und „N‑CAM“ (»Nasal Cartilage Cell Activated Matrix«) zur Behandlung von Knorpeldefekten konnte das Zentrum seit Mai 2017 bereits 61 Produkte herstellen, die in den beteiligten Kliniken erfolgreich implantiert wurden. Durch die regulatorische Expertise, den ausgeklügelten Herstellprozess und die effiziente Logistik stehen neue Implantate innerhalb von zwei bis vier Wochen bereit.
Von der Nase ins Knie – 3D-Implantate aus eigenen Knorpelzellen
Für die Züchtung der Knorpelzellen im Labor entnehmen die Klinikpartner dem Patienten in einer ersten Operation Knorpelgewebe aus der Nasenscheidewand in einer Größe von ca. einem Quadratzentimeter. Dabei bleibt das Perichondrium (die Knorpelhaut) weitgehend erhalten. Da es sich um eine gängige, unkomplizierte OP handelt, die auch für andere Zwecke durchgeführt wird, ist die Verletzung in der Regel schnell verheilt. Der Patient erhält eine Tamponade, die am nächsten Tag entfernt wird. In der Regel wird dann nicht mehr nachkontrolliert, und es ist auch kein weiterer Arztbesuch notwendig. Für die Nährflüssigkeit, in der das neue Knorpelgewebe später gezüchtet werden soll, wird dem Patienten zusätzlich Eigenblut entnommen.
Der anschließende Transport von entnommenem Gewebe und Blut sowie des hergestellten Implantats erfolgt unter festgelegten Standards, der sogenannten Guten Vertriebspraxis („Good Distribution Practice“ = GDP). Dabei werden Temperatur und Laufzeiten von der Verpackung der Produkte über den Kuriertransport bis hin zur implantierenden Einrichtung dokumentiert, um die Qualität und die Unversehrtheit des Ausgangsmaterials und der empfindlichen Arzneimittel sicherzustellen. Während des Transports überwacht beispielsweise ein Datenlogger, ob die vorgeschriebene Temperatur von 2 bis 8 °C eingehalten wird. Das Fraunhofer-Translationszentrum kontrolliert sodann nach Eingang der Ausgangsmaterialien (Nasenbiopsie, Eigenblut), ob alle vorher festgelegten Qualitätskriterien eingehalten wurden:
- Ist die Verpackung unversehrt?
- Hat das Knorpelstück die korrekte Größe?
- Zeigt der Datenlogger während des Transports immer die richtige Temperatur an?
Entsprechen Nasenknorpel und Blut den festgelegten Spezifikationen, wird das Knorpelgewebe im Reinraum (Klasse A in B) aufbereitet (Abb. 1): Der Knorpelverbund wird mechanisch zerkleinert und enzymatisch aufgeschlossen, sodass sich die einzelnen Zellen aus dem festen Verbund lösen. Innerhalb von zwei Wochen vermehren sich diese Zellen im Nährmedium, das u. a. aus Eigenblutserum hergestellt wird, unter kontrollierten Temperatur- und Gasbedingungen. Anschließend werden sie enzymatisch abgelöst, zentrifugiert und gewaschen und sodann auf ihre 3D-Trägerstruktur aufgebracht. Diese als Medizinprodukt zugelassene Kollagenmatrix hat eine unterschiedliche Beschaffenheit: Die Oberseite ist glatt, die Unterseite aufgelockert, sodass dort die Zellen besser einwachsen können (Abb. 2).
Für ein ausgereiftes Knorpelimplantat benötigt das Fraunhofer-Translationszentrum weitere zwei Wochen. Die aufgebrachten Zellen schalten in dieser Zeit von Proliferation (Vermehrung) auf Matrixaufbau um, d. h., sie verwerten das Kollagen und bauen daraus ihre eigene Knorpelmatrix (Abb. 3 u. 4). Dieses fertige Knorpelimplantat zeichnet sich durch einen hohen Gehalt an typischen Knorpelproteinen aus.
Nach der Herstellung des für jeden Patienten individuell gefertigten Implantats erfolgt der Freigabeprozess durch die Überprüfung der Freigabekriterien. So wird beispielsweise ein kleines Stück des hergestellten Produktes histologisch analysiert, um die folgenden Aspekte zu prüfen:
- Sind die Zellen in ausreichendem Maße vorhanden?
- Entspricht die Zellmorphologie der einer typischen Knorpelzelle?
- Hat eine ausreichende Matrixproduktion stattgefunden (Abb. 5)?
Erst wenn das Produkt sämtliche Qualitätskriterien erfüllt hat (Abb. 6), erfolgt der Versand zur Klinik. Die beteiligten Orthopäden setzen sodann das Implantat in einer zweiten Operation in das betroffene Knie des Patienten ein.
Bei der Herstellung des zweiten Produktes (N‑CAM) wird die Reifedauer des Implantates um etwa 10 Tage verkürzt. Hier möchten die Wissenschaftler wissen, ob sich eine Reifung im Patienten günstiger auf das Einwachsverhalten des Implantates auswirkt.
Beide Implantattypen sind als Neuartige Arzneimittel für die Prüfung im Rahmen der klinischen Studie zugelassen. Mit der Expertise in der Herstellung dieser Produkte können die beteiligten Kliniken dieses Verfahren ihren Patienten unter Beachtung der regulatorischen Rahmenbedingungen im Rahmen einer klinischen Prüfung als Therapieoption anbieten.
Patienten-Monitoring – bisherige Erfolge
Bislang sind 108 Patienten für das neue Verfahren vorgesehen. Davon haben bereits 61 Patienten Implantate erhalten; die Hälfte der eingesetzten Implantate reifte hierbei volle 13 Tage in den Herstellungsräumen.
Vor dem Behandlungsbeginn wurde das geschädigte Kniegelenk der Patienten im MRT untersucht. Eine weitere MRT-Untersuchung erfolgt jeweils nach 3, 12 und 24 Monaten. Darüber hinaus lassen sich durch Befragungen der Patienten zu ihrem subjektiven Empfinden Aussagen über die Wirksamkeit der Behandlung ableiten. Hier interessieren die Ärzte sich u. a. für die folgenden Aspekte:
- Wie lassen sich die alltäglichen Tätigkeiten im Zusammenhang mit Bewegung bewältigen?
- Wie hoch ist das Schmerzempfinden allgemein und bei verschiedenen Tätigkeiten?
Außerdem erfolgt ein begleitendes computergestütztes Reha-Programm. Das Monitoring dauert bis zum Ende der Studie, endet also zwei Jahre nach Behandlung des letzten Patienten.
Ausblick – großflächige Arthroseschäden behandeln
Ziel des Projekts »BIO-CHIP« ist es, den Weg für eine EU-weit zugelassene wirksame Therapie für Knorpelschäden im Knie, die durch Sportverletzungen und Unfälle hervorgerufen werden, zu bereiten. Die weiteren Hoffnungen des Forscherteams richten sich darauf, dieses Verfahren in Zukunft auch bei Patienten mit Arthrose einzusetzen. Da hierbei großflächigere Knorpelschäden behandelt werden müssen, ist eine hohe Zellzahl nötig, wodurch eine Optimierung des Herstellprozesses notwendig wird. Außerdem sollen zukünftig fortgeschrittene Knorpelschäden behandelt werden, für die als Therapieoption bislang nur die Versorgung mit einer Knieprothese gegeben ist. Dies betrifft sogenannte »Kissing Lesions«, bei denen zwei sich gegenüberliegende Defekte im Knie – beispielsweise auf der Rückseite der Kniescheibe und deren Gegenseite am Oberschenkelgelenk – befinden. Auch die Übernahme der hohen Behandlungskosten durch die privaten und gesetzlichen Krankenkassen wird bereits in dieser frühen Phase adressiert. Neue Möglichkeiten, die Herstellungskosten zu reduzieren, werden durch die Erprobung von Automatisierungsprozessen überprüft, damit das Verfahren später auch für eine große Patientengruppe verfügbar ist.
Für die Autoren:
Priv.-Doz. Dr. Oliver Pullig
Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC – Fraunhofer-Translationszentrum für Regenerative Therapien TLZ-RT
Röntgenring 11
97070 Würzburg
oliver.pullig@isc.fraunhofer.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Pullig O., Schubert L. Von der Nase ins Knie: 3D-Implantate aus eigenen Knorpelzellen. Neuer Therapieansatz für Knorpelschäden – Anwendungsgebiete, 3D-Gewebezüchtung, Regulatorik. Orthopädie Technik, 2019; 70 (7): 44–47
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