Visu­el­les Bio­feed­back für anwen­der­ori­en­tier­tes Trai­ning und Steue­rung von mul­ti­funk­tio­na­len Ober­flä­chen-EMG Prothesen

P. Göbel, J.L. Honeder, St. Erber, H.-W. van Vliet
Der Grad der Nutzbarkeit einer Prothese für den Prothesenanwender hängt von mehreren unterschiedlichen Faktoren ab. Einer dieser Faktoren ist das physiotherapeutische Training zur Stärkung und Wiederherstellung der Muskelfunktionen. Da dieses Training sehr zeitaufwendig ist, hat Otto Bock Healthcare Products GmbH in Zusammenarbeit mit dem Bernstein Center for Computational Neuroscience der Medizinischen Universität Göttingen, der Machine Learning Group der Technischen Universität Berlin und dem Institut für Automatisierungs- und Regelungstechnik der Technischen Universität Wien eine Trainingssoftware entwickelt, die genau auf die Anforderungen von Prothesenanwendern zugeschnitten ist. Das Training erfolgt dabei mit Augenmerk auf die Steuerung neuer Prothesenkomponenten, um die Nutzung von bis zu sieben Freiheitsgraden ohne Umschalten zu ermöglichen. Diese höhere Funktionalität bedingt natürlich ein aufwendigeres Training, das aber im gleichen, vom Kostenträger definierten Zeitfenster bewältigt werden soll. So kann ein Training mit maximaler Effizienz die Physiotherapie nicht nur unterstützen, sondern auch eine bedeutende Entlastung für Therapeuten und auch Orthopädie-Techniker bringen. Die Erprobung erfolgt derzeit in einer klinischen Studie in Zusammenarbeit des Christian Doppler Labors für die Wiederherstellung von Extremitätenfunktionen in Wien, unter der Leitung von Univ. Prof. Dr. Oskar C. Aszmann, und Otto Bock Wien.

Ein­füh­rung

Der Grad der Nutz­bar­keit einer Pro­the­se für einen Pro­the­sen­an­wen­der hängt außer von deren mecha­ni­schen Kom­po­nen­ten von drei wei­te­ren Fak­to­ren ab: I) der Güte und Pass­form des Schafts, II), der „Intel­li­genz“ der Steue­rung und III) dem men­ta­len und phy­sio­lo­gi­schen Zustand des Ampu­tier­ten. Die täg­li­che Pra­xis zeigt lei­der, dass spe­zi­ell dem drit­ten Punkt zu wenig Augen­merk geschenkt wird. So bleibt im All­ge­mei­nen schon wäh­rend des Reha­bi­li­ta­ti­ons­trai­nings, das ja nach der Ampu­ta­ti­on die best­mög­li­che phy­sio­lo­gi­sche Wie­der­her­stel­lung unter­stüt­zen soll, zu wenig Zeit für ein ein­ge­hen­des Trai­ning mit dem spä­te­ren Pro­the­sen­an­wen­der. Jüngst Ampu­tier­te berich­ten, dass für sie pro Tag maxi­mal eine Stun­de Trai­ning ein­ge­plant wur­de, und dass für den Rest des Tages zwar eige­nes Trai­ning vor­ge­se­hen war, die­ses jedoch man­gels Füh­rung und Feed­back nur rudi­men­tär erfolg­reich durch­ge­führt wer­den konn­te. Noch wei­ter unter­re­prä­sen­tiert ist Trai­ning in men­ta­ler Hin­sicht. Die Moti­va­ti­on zu selbst­stän­di­gem Trai­ning steigt mit dem Grad der Auto­no­mie. Hat der Anwen­der die Mög­lich­keit, sein Trai­ning selbst zu gestal­ten und vor allem den Ziel­er­fül­lungs­grad auch selbst zu kon­trol­lie­ren, so steigt auch die Selbstmotivation.

Die Errei­chung eines mög­lichst hohen Wie­der­her­stel­lungs- und Reha­bi­li­ta­ti­ons­gra­des nach einer Ampu­ta­ti­on muss also ein Ziel aller Betei­lig­ten sein. Dafür wird es auch lang­sam Zeit, datiert doch der Fund einer künst­li­chen Hand an einer Mumie bis etwa auf das Jahr 300 vor Chris­tus zurück und bestä­tigt, dass dies schon The­ma im anti­ken Ägyp­ten war. Exper­ten schät­zen die Ver­wen­dung von mecha­ni­schen Hand­pro­the­sen mit nur einem Frei­heits­grad bis ins spä­te Mit­tel­al­ter hin­ein 1. Anfang des 16. Jahr­hun­derts erhielt Rit­ter Götz von Ber­li­chin­gen (1480–1562) eine mecha­nisch betrie­be­ne Hand (die 1. Jagst­häu­ser Hand) mit ein­zeln beweg­li­chen Fin­gern, die aber recht repa­ra­tur­an­fäl­lig gewe­sen sein soll 1. Heu­ti­ge Hand­pro­the­sen wer­den durch Elek­tro­mo­to­ren betrie­ben und bevor­zugt Elek­tro-Myo­gramm-gesteu­ert (EMG) aus­ge­führt 2.

Nach Sta­tis­ti­ken sind gesamt gese­hen etwa 87 % der Ampu­ta­tio­nen auf Gefäß­er­kran­kun­gen, 4 % auf Trau­ma­ta, 2 % auf Tumo­re, 2 % auf Infek­tio­nen, 0,2 % auf ange­bo­re­ne Fehl­bil­dun­gen und schließ­lich 5 % auf  ande­re Ursa­chen zurück­zu­füh­ren 3. Obwohl hier die unte­ren Extre­mi­tä­ten den Groß­teil ein­neh­men, stieg und steigt in jüngs­ter Zeit auch die Bedeu­tung der Wie­der­her­stel­lung der obe­ren Extre­mi­tä­ten an, zumal die tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten in den letz­ten Jah­ren eine rasan­te Ent­wick­lung mach­ten. Bedingt durch die höhe­ren funk­tio­na­len Anfor­de­run­gen (ein kom­plet­ter Arm hat 28 Frei­heits­gra­de), stel­len Ampu­ta­tio­nen an den obe­ren Extre­mi­tä­ten nach wie vor eine Men­ge Her­aus­for­de­run­gen an Medi­zi­ner und Chir­ur­gen (z. B. TMR, Mus­kel- und Ner­ven­trans­fer), Phy­sio- und Ergo­the­ra­peu­ten, Ortho­pä­die-Tech­ni­ker und natür­lich auch an die Her­stel­ler von Pro­the­sen und deren Inge­nieu­re. Dabei erlangt der Ein­satz von umfang­rei­chen Soft­ware­lö­sun­gen immer mehr an Bedeu­tung. Die dabei ange­wand­ten, immer kom­ple­xe­ren Metho­den zum Woh­le des Pro­the­sen­an­wen­ders dür­fen jedoch die Bedie­nung einer Pro­the­se selbst nicht kom­pli­zie­ren – im Gegen­teil – die Bedie­nung soll­te immer mehr in intui­ti­ver Art mög­lich sein.

Anwen­der wer­den in der Regel nach erfolg­ter Ampu­ta­ti­on, Wund­hei­lung und Reha­bi­li­ta­ti­ons-Trai­ning mit Pro­the­sen ver­sorgt. Dabei sind die Fer­tig­kei­ten, die ein Anwen­der mit­bringt, von Fall zu Fall sehr unter­schied­lich. Es spie­len hier sowohl die Aus­gangs­si­tua­ti­on des Ampu­tier­ten vor der Ampu­ta­ti­on, die Art und Schwe­re der Ver­let­zung als auch die Güte und Dau­er der Phy­sio­the­ra­pie eine ent­schei­den­de Rol­le. Es kommt auch vor, dass alle Wie­der­her­stel­lungs­ver­su­che einer betrof­fe­nen Glied­ma­ße miss­lin­gen, und die­se dann doch noch abge­nom­men wer­den muss, da sie letzt­lich gelähmt geblie­ben ist. Das Spek­trum der ver­blei­ben­den Defi­zi­te ist lei­der immer noch groß. Neben sol­chen phy­sio­lo­gisch beding­ten Ursa­chen kön­nen auch men­ta­le und psy­chi­sche Pro­ble­me dazu füh­ren, dass ein Ampu­tier­ter eine Pro­the­se nicht oder nur unzu­rei­chend ansteu­ern kann.

Zur Steue­rung der Pro­the­se lernt der Anwen­der gezielt Mus­kel­kon­trak­tio­nen aus­zu­füh­ren, deren EMG-Signal durch Elek­tro­den über den betref­fen­den Mus­keln abge­lei­tet wird. Mit den stei­gen­den Anfor­de­run­gen an mul­ti­funk­tio­na­le Pro­the­sen wer­den nun ver­stärkt Phan­tom­be­we­gun­gen ein­ge­setzt, da die­se einer natür­lich-intui­ti­ven Bedie­nung am nächs­ten kom­men. Eine Phan­tom­be­we­gung ist die Bewe­gung eines bereits abge­nom­me­nen Glie­des, das durch sei­ne ver­blie­be­ne Reprä­sen­ta­ti­on im neu­ro­na­len Netz­werk des Gehirns nach wie vor bedient wer­den kann. Der Ampu­tier­te besitzt also noch einen Rest men­ta­ler Vor­stel­lung über die Funk­tio­na­li­tät des abge­nom­me­nen Glie­des, z. B. „wie kann ich das Hand­ge­lenk nach oben schwenken“.

Es kann sein, dass ein Ampu­tier­ter bereits Bewe­gun­gen ein­fach ver­ges­sen hat, wenn er für eine län­ge­re Zeit eine betref­fen­de Mus­kel­grup­pe nicht mehr ange­steu­ert hat. Aber selbst da kann durch geziel­tes Trai­ning eine Ver­bes­se­rung der Situa­ti­on erfol­gen, wie eine Stu­die an Para­ple­gie-Pati­en­ten unter Zuhil­fe­nah­me funk­tio­nel­ler Magnet­re­so­nanz­to­mo­gra­phie (fMRI) gezeigt hat 4. Laut einer ande­ren Stu­die der US-Armee führt „aggres­si­ves und frü­hes“ Trai­ning, das inner­halb von 30 Tagen ab Ampu­ta­ti­on gestar­tet wird, zu einer Reha­bi­li­ta­ti­ons­er­folgs­ra­te von 93 % und einer Wie­der­ein­satz­ra­te von 100 % inner­halb von vier Mona­ten. Die­se Zeit­span­ne wird „Gol­den-Win­dow“ genannt; ver­gleichs­wei­se führt Trai­ning, das erst nach dem Gol­den-Win­dow beginnt, also nach 30 Tagen und mehr zu einer Reha­bi­li­ta­ti­ons­er­folgs­ra­te von 42 % und einer Wie­der­ein­satz­ra­te von nur mehr 15 %, bezo­gen auf die Zeit­span­ne von sechs Mona­ten bis zwei Jah­ren 5.

Es liegt klar auf der Hand, dass die ein­ge­setz­ten Reha­bi­li­ta­ti­ons­tech­no­lo­gien sich immer mehr an anwen­der­zen­trier­te Sicht­wei­sen anpas­sen müs­sen, also die Tech­no­lo­gie auf die Bedürf­nis­se von Men­schen zuzu­schnei­den ist und neue Steue­rungs­kon­zep­te zu ent­wi­ckeln sind. Im Kern die­ses Arti­kels wird ein neu­es Kon­zept vor­ge­stellt, das pati­en­ten­ori­en­tier­tes Trai­ning mit maxi­ma­ler Effi­zi­enz ermög­licht. So wird im Fol­gen­den gezeigt, wie die ver­suchs­wei­se kli­ni­sche Anwen­dung einer in Ent­wick­lung befind­li­chen Trai­nings­soft­ware von Otto Bock die Phy­sio­the­ra­pie nicht nur unter­stüt­zen kann, son­dern auch eine bedeu­ten­de Ent­las­tung für die The­ra­peu­ten bringt, wodurch ein län­ge­res und inten­si­ve­res Trai­ning bei glei­chem Stun­den­ein­satz ermög­licht wird. Die­se Trai­nings­soft­ware wird im Zuge eines EU-Pro­jek­tes in Zusam­men­ar­beit der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen, TU-Ber­lin und der TU-Wien von Otto Bock Health­ca­re Pro­ducts GmbH ent­wi­ckelt. Die Erpro­bung erfolgt der­zeit in einer kli­ni­schen Stu­die in Zusam­men­ar­beit des Chris­ti­an Dopp­ler Labors für die Wie­der­her­stel­lung von Extre­mi­tä­ten­funk­tio­nen der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien, unter der Lei­tung von Prof. Dr. Oskar Aszmann, und Otto Bock Wien.

Wei­ter­ent­wick­lung des Sta­te-of-the-Art bei Pro­the­sen der obe­ren Extremität

Um beim Signal zu begin­nen – ein EMG-Signal ent­steht wäh­rend einer Mus­kel­kon­trak­ti­on im Mus­kel und wird an der Haut­ober­flä­che ent­we­der von Ag-AgCl (Silber/SilberChlorid) oder aber Titan-Elek­tro­den abge­grif­fen und an die Pro­the­sen­steue­rung wei­ter­ge­lei­tet. Im All­ge­mei­nen wer­den zwei Elek­tro­den ver­wen­det, eine wird dazu auf der Haut­ober­flä­che ober­halb der Flex­or-Mus­kel­grup­pe, die ande­re über der Exten­si­ons-Mus­kel­grup­pe ange­bracht. Damit sind die Bewe­gun­gen „Schlie­ßen“ und „Öff­nen“ eines ein­zel­nen Frei­heits­gra­des (Engl. Degree of Free­dom, DOF) vom Ampu­tier­ten indi­vi­du­ell steu­er­bar 2.

In den letz­ten Jah­ren konn­ten wei­te­re Pro­the­sen­kom­po­nen­ten ent­wi­ckelt wer­den (z. B. Hand­ge­lenks­ro­ta­ti­on, Hand­ge­lenks­fle­xi­on bzw. ‑exten­si­on, Ell­bo­gen­beu­ger), die dem Anwen­der wei­te­re Frei­heits­gra­de zur Ver­fü­gung stel­len kön­nen. Durch spe­zi­ell ver­ein­bar­te und wil­lent­lich vom Anwen­der erzeug­te kur­ze Umschalt­si­gna­le (z. B. Ko-Kon­trak­ti­on bei­der Mus­kel­grup­pen, impuls­ar­ti­ge Kon­trak­ti­on oder das län­ge­re „Öff­nen“ eines Signals) ist es mög­lich, die Kon­trol­le zwi­schen den Pro­the­sen­kom­po­nen­ten umzu­schal­ten und damit die Steue­rung jeder Kom­po­nen­te durch die bei­den Elek­tro­den­si­gna­le zu gewähr­leis­ten. Die­se Umschal­tun­gen zwi­schen den Pro­the­sen­kom­po­nen­ten funk­tio­nie­ren zwar ganz gut, besit­zen jedoch eini­ge gra­vie­ren­de Nach­tei­le. Ein Nach­teil ist, dass der Anwen­der sich mer­ken muss, wel­che Kom­po­nen­te er zuletzt bedient hat­te, sofern er nicht eine auto­ma­ti­sche Zwangs­rück­schal­tung in eine bestimm­te Kom­po­nen­te aus­ge­wählt hat. Ein wei­te­rer Nach­teil ist, dass die Umschal­tung sequen­ti­ell erfolgt, so dass im Extrem­fall alle Kom­po­nen­ten durch­lau­fen wer­den müs­sen, um die „letz­te“ Kom­po­nen­te in Fol­ge zu erreichen.

Der gra­vie­rends­te Nach­teil ist aber die man­geln­de Neu­ro­in­te­gra­ti­on der Pro­the­sen­steue­rung in den Motor­kor­tex und das Klein­hirn des Anwen­ders durch die­ses sequen­ti­el­le Umschal­ten. Dadurch wird die Bedie­nung der Pro­the­se in hohem Maße nicht­li­ne­ar. Die inhä­ren­te Plas­ti­zi­tät des Gehirns wür­de eine direk­te und intui­ti­ve Ansteue­rung durch par­al­lel vor­han­de­ne Steu­er­si­gna­le der­art unter­stüt­zen, dass sie die Steu­er­be­feh­le von der expli­zit kogni­ti­ven Ebe­ne über die Zeit in die pro­ze­du­ra­le Ebe­ne ver­la­gern könn­te. Dies wür­de bedeu­ten, dass der Anwen­der schließ­lich nicht mehr dar­über nach­den­ken müss­te, wie er kon­kret die Pro­the­se bedie­nen soll, um eine Fol­ge von Mani­pu­la­tio­nen der Rei­he nach zu rea­li­sie­ren. Die Pro­the­sen­funk­ti­on wür­de in den Motor­kor­tex und die dort ablau­fen­den Motor­pro­gram­me inte­griert wer­den, was einer maxi­mal mög­li­chen intui­ti­ven Bedie­nung nahe käme.

Her­aus­for­de­run­gen durch neue Prothesenkomponenten

Es sind also durch den Fort­schritt der tech­ni­schen Ent­wick­lung und Minia­tu­ri­sie­rung einer­seits Vor­tei­le in Form von viel­fäl­ti­ge­ren Bewe­gungs­mög­lich­kei­ten ent­stan­den, ande­rer­seits sto­ßen kon­ven­tio­nel­le Vor­gangs­wei­sen und Steue­run­gen rasch an ihre Gren­zen. So wur­den eben in den letz­ten Jah­ren Pro­the­sen­kom­po­nen­ten ent­wi­ckelt, die dem Ampu­tier­ten höhe­re Frei­heits­gra­de zur Ver­fü­gung zu stel­len. Das Pro­blem dabei ist, dass es nicht ein­fach ist, mehr als zwei bis maxi­mal vier unab­hän­gi­ge EMG-Signa­le von einem Unter­arm­am­pu­tier­ten der Mus­ter­er­ken­nung zur Ver­fü­gung zu stel­len (Aus­nah­me: Tar­ge­ted Mus­cle Rein­ner­va­ti­on TMR). Bei kur­zem Ampu­ta­ti­ons­ni­veau ste­hen im bes­ten Fal­le vier­zehn ein­zel­ne Mus­keln zur Ver­fü­gung, deren Akti­vie­rung jedoch in syn­er­gis­ti­scher Wei­se erfolgt. Ein Syn­er­gis­mus bedeu­tet all­ge­mein das Zusam­men­wir­ken von Sub­stan­zen oder Fak­to­ren, die sich gegen­sei­tig för­dern. Bei den aus Pro­the­sen­sicht inter­es­san­ten sie­ben Mus­kel­kon­trak­tio­nen (also den vier Hand­ge­lenks­be­we­gun­gen: Extension/Flexion/Supination/Pronation und den drei Hand­funk­tio­nen der Michel­an­ge­lo® Hand: Öffnen/Schlüsselgriff/Oppositionsgriff) wir­ken lei­der nicht sie­ben, pas­send durch Elek­tro­den ermit­tel­ba­re Signa­le, son­dern es wer­den je nach Bewe­gungs­vor­gang Mus­keln syn­er­gis­tisch (Syn­er­gis­mus) zu Mus­kel­grup­pen zusam­men­ge­schal­tet 6. Damit über­la­gern sich die Signa­le jedes ein­zel­nen Mus­kels an jeder Elek­tro­de zu je einer Mix­tur, die mit kon­ven­tio­nel­len Metho­den nicht trenn­bar ist.

Um die­se kom­ple­xen phy­sio­lo­gi­schen Zusam­men­hän­ge bes­ser zu ver­an­schau­li­chen, bedient man sich am bes­ten eines Modells. Abbil­dung 1 zeigt so ein gene­ri­sches, phy­sio­lo­gi­sches Modell 7, das im Prin­zip aus drei Funk­ti­ons­grup­pen besteht: I) eine recht­ecki­ge Syn­er­gie-Matrix S, II) den Mus­keln des Unter­arms (als par­al­lel lie­gen­de Recht­ecke gezeich­net) und III) einer Mix-Matrix G. Man muss sich vor­stel­len, dass an einer Stel­le im Gehirn, genau­er gesagt dem Prä­fron­ta­len Kor­tex (= Zen­tren Will­kür­li­cher Ent­schei­dungs­fin­dung), eine Bewe­gungs­ent­schei­dung getrof­fen wird, die­se im Modell von links als Funk­ti­ons­kom­po­nen­te des Mus­kel­funk­ti­ons­vek­tors F(t) über die Syn­er­gie-Matrix S der­art an die gezeich­ne­ten Mus­keln gelei­tet wird, dass deren Rekru­tie­rung der Bewe­gungs­ent­schei­dung ent­spre­chend durch­ge­führt wird. Die Syn­er­gie-Matrix ist also für die Aus­wahl der Mus­keln zu einer „gedach­ten“ Bewe­gungs­ent­schei­dung ver­ant­wort­lich. Vom Motor­kor­tex aus wer­den nun die effe­ren­ten Steu­er­si­gna­le an die Motor­neu­ro­nen im Rücken­mark gelei­tet, im Modell mit D(t) bezeich­net; die Motor­neu­ro­nen inner­vie­ren Mus­kel­fa­sern, und die aus­ge­wähl­ten Mus­keln kon­tra­hie­ren. Die­ses Kon­tra­hie­ren erzeugt in den Mus­keln die „inne­ren“ EMG-Signa­le, im Modell als Y(t) bezeich­net, wel­che durch die Mix-Matrix G(t) an die Haut­ober­flä­che gelan­gen und schließ­lich als Z(t)-Signale von Elek­tro­den abge­lei­tet werden.

Defi­ni­ti­on der Steue­rungs­mus­ter aus Phantombewegungen

Wer­den also z. B. acht Elek­tro­den um einen Unter­arm her­um ange­ord­net, so erzeugt jede Mus­kel­kon­trak­ti­on einer (Phantom-)Bewegung ein cha­rak­te­ris­ti­sches Poten­zi­al­feld auf der Haut­ober­flä­che, das von den Elek­tro­den äqui­di­stant auf­ge­nom­men wird (sie­he Abb. 2). Abbil­dung 2 zeigt eine Trai­nings­an­ord­nung, die bereits sehr früh dem Anwen­der ange­legt wer­den kann, da kein expli­zi­ter Schaft benö­tigt wird. Spä­ter wer­den die Elek­tro­den im tat­säch­li­chen Schaft ange­bracht, was das Trai­nings­pa­ra­dig­ma selbst nicht ändert. Die acht Elek­tro­den lie­fern also ein bestimm­tes Mus­ter, das die Pro­the­sen­steue­rung inter­pre­tie­ren muss, um die ent­spre­chen­den Kom­po­nen­ten zu bewe­gen. Die rich­ti­ge Inter­pre­ta­ti­on muss die Pro­the­sen­steue­rung aber erst ler­nen, wozu ein Lern­pa­ra­dig­ma die benö­tig­ten Signa­le lie­fert. Man kann hier­bei prak­tisch belie­bi­ge Mus­ter erzeu­gen, um die­se zu ler­nen und sie dann Pro­the­sen­be­we­gun­gen zuzuordnen.

Bei Otto Bock Health­ca­re Pro­ducts GmbH wur­de aber ein Schritt wei­ter gegan­gen und ana­ly­siert, wel­che (Phantom-)Bewegungen am Erfolg ver­spre­chends­ten sind und das Poten­zi­al haben, eine hohe Wie­der­ho­lungs­si­cher­heit zu besit­zen. Die Per­for­manz-Zah­len aus diver­sen wis­sen­schaft­li­chen Publi­ka­tio­nen span­nen ein wei­tes Feld auf, das zwi­schen 50 % und 98 % oder mehr bezif­fert wird. Frei­lich erscheint eine Per­for­manz von 50 % als mit Sicher­heit unbrauch­bar, ent­spricht sie ja einer Wahr­schein­lich­keit, die beim simp­len Wür­feln erreicht wird. Nun wel­cher Anwen­der wür­de sich mit solch einer Steue­rung zufrie­den geben? Eher wohl kei­ner. Das Gros der Berich­te pen­delt dann um den Wert von 80 % her­um 8. Was aber bedeu­tet nun eine Per­for­manz von 80 %? Umge­rech­net in Pro­the­sen­be­we­gun­gen wür­de das bedeu­ten, dass jede fünf­te (!) Bewe­gung, sta­tis­tisch gese­hen, schief gehen könn­te. Auch das erscheint für einen prak­ti­schen Betrieb einer Pro­the­se unbrauch­bar. Eine 100 %ige Per­for­manz lässt sich wohl kaum errei­chen, aber eine Annä­he­rung an z. B. 98 % wür­de bedeu­ten, dass nur mehr jede 50. Bewe­gung, sta­tis­tisch gese­hen, schief gehen könnte.

Damit liegt man im Bereich, wo auch kon­ven­tio­nell gesteu­er­te Pro­the­sen Aus­set­zer haben kön­nen. Wich­tig ist hier­bei, dass die Pro­the­se, bei Unklar­heit, wel­che Bewe­gung aus­ge­führt wer­den soll, eben kei­ne fal­sche Bewe­gung aus­führt, son­dern sich ein­fach nicht bewegt und damit den zuvor akti­vier­ten Zustand bei­be­hält (z. B. ein Glas hal­ten). Eine Wie­der­ho­lung der Bewe­gungs­aus­füh­rung durch den Anwen­der löst dann das Pro­blem auf. Die Arbei­ten der For­schung und Pro­dukt­ent­wick­lung bei Otto Bock Health­ca­re Pro­ducts GmbH zie­len lau­fend in Rich­tung der ste­ten Erhö­hung der Wie­der­erken­nungs­per­for­manz in Rich­tung 100 % ab, wobei Fehl­be­die­nun­gen, die ein­deu­tig dem Anwen­der zuzu­schrei­ben sind, davon natür­lich aus­ge­nom­men sind.

Das Lern­pa­ra­dig­ma mit opti­schem Feedback

Wie schon im Absatz zuvor beschrie­ben, erfolgt geziel­tes Trai­ning durch ein genau defi­nier­tes Lern­pa­ra­dig­ma, das auch eine exak­te Wie­der­ho­lung von Lern­schrit­ten ermög­licht. Gelernt wird mit Unter­stüt­zung einer Trai­nings­soft­ware, die auch Phy­sio­the­ra­peu­ten und Ortho­pä­die-Tech­ni­ker ent­schei­dend bei deren Ziel­er­rei­chung – Anwen­der kann eine Pro­the­se sicher steu­ern – unter­stützt. Das Ler­nen von sie­ben Phan­tom­be­we­gun­gen benö­tigt natür­lich auch etwas mehr Zeit, als man dies für Zwei­elek­tro­den­sys­te­me gewohnt ist. Der Vor­teil liegt aber, wie ein­gangs schon erwähnt, im Ent­fal­len der Umschal­tung zwi­schen den Pro­the­sen­ge­len­ken und vor allem in der bes­se­ren Inte­gra­ti­on der Pro­the­sen­steue­rung im Motor­kor­tex und Klein­hirn des Anwen­ders. Dar­auf wur­de das Lern­pa­ra­dig­ma abge­stimmt – es wer­den dem Anwen­der Bewe­gungs­vor­ga­ben, wie in Abbil­dung 3 gezeigt, für jede zu trai­nie­ren­de (Phantom)-Bewegung mit wech­seln­den Kon­trak­ti­ons­stär­ken vor­ge­ge­ben, wie in Abbil­dung 4 gezeigt.

Zunächst wird eine Kali­brie­rung durch­ge­führt, bei der alle mög­li­chen Phan­tom­be­we­gun­gen mit für den Anwen­der maxi­mal ange­neh­mer Kon­trak­ti­ons­stär­ke durch­ge­führt wer­den. Dies ist dazu not­wen­dig, um die unter­schied­li­chen EMG-Stär­ken zu ver­ein­heit­li­chen. Abbil­dung 3 zeigt ein Bei­spiel für die Vor­ga­be für das Trai­ning der Hand­ge­lenks-Supi­na­ti­on mit 80 % der maxi­ma­len Kon­trak­ti­ons­stär­ke (MVC). Im lin­ken Teil der Abbil­dung wird die aktu­el­le Bewe­gung als Bild sei­ten­rich­tig ange­zeigt, wäh­rend der rech­te Teil einen Kon­trak­ti­ons-/Zeit­gra­phen zeigt, der in Blau die Pro­fil­vor­ga­be für 80 % MVC als Recht­eck­funk­ti­on anzeigt, dem über­la­gert ist in Rot die vom Anwen­der erzeug­te Kon­trak­ti­ons­stär­ke, wobei der rote Punkt mit der Zeit über den Gra­phen läuft. Die Abwei­chun­gen zwi­schen der blau­en Vor­ga­be und dem roten Kon­trak­ti­ons­ver­lauf des Anwen­ders erge­ben einen Score, der der Fer­tig­keit oder Eng­lisch „Abili­ty“ des Anwen­ders ent­spricht, das so prä­sen­tier­te „Item“ zu meistern.

Ent­spre­chend der Abbil­dung 4 wird mit jedem der dar­in gezeig­ten Items so ver­fah­ren, was einer Daten­auf­nah­me für das Trai­ning des Klas­si­fi­ka­tors gleich­kommt, der die erzeug­ten und abge­lei­te­ten EMG-Signal­mus­ter letzt­lich Pro­the­sen­be­we­gun­gen zuord­net. Die Trai­nings­soft­ware führt also den Anwen­der durch das gesam­te Trai­nings­set; eine Sprach­aus­ga­be kün­digt auto­ma­tisch den Beginn einer neu­en Bewe­gungs-/Kon­trak­ti­ons­grup­pe akus­tisch an. Ein­stell­ba­re Pau­sen- und Kon­trak­ti­ons­zei­ten gestat­ten es, das Trai­ning an die jewei­li­gen Bedürf­nis­se des Anwen­ders abzustimmen.

Durch mehr­ma­li­ge Wie­der­ho­lung die­ses Trai­nings ent­steht ein Daten­pool mit immer mehr Daten, die eine immer bes­se­re Reprä­sen­ta­ti­on der Phan­tom­be­we­gun­gen ermög­li­chen. Abbil­dung 5 zeigt, wie die Reprä­sen­ta­ti­on des Daten­pools gra­phisch auf­be­rei­tet dem Anwen­der Feed­back sei­ner Bewe­gun­gen geben kann. Links in der Abbil­dung ist eine mehr­far­bi­ge, stern­för­mi­ge Punkt­wol­ke zu sehen, wo jede Far­be einer (Phantom)-Bewegung ent­spricht (blau = Ent­spannt, rot = Hand­ge­lenks­su­pi­na­ti­on, lila = Handgelenks­pronation, gelb = Hand­ge­lenks­fle­xi­on, grün = Hand­ge­lenks­exten­si­on, rosa = Hand auf, grau = Schlüs­sel­griff und braun = Oppo­si­ti­ons-Griff). Das blaue Recht­eck im Zen­trum des Ster­nes zeigt den Zustand der Ruhe an, der mit „No-Move“ titu­liert ist. Von die­ser Ruhe­la­ge, also dem ent­spann­ten Zustand der Mus­keln, kön­nen die jewei­li­gen Pro­the­sen­be­we­gun­gen direkt durch Akti­vie­rung der (Phantom)-Bewegungen ohne Umschal­tung initi­iert wer­den. Das bedeu­tet, dass das blaue Recht­eck lila wird und sich in die lila Punkt­wol­ke bewegt, sobald der Anwen­der die Mus­keln einer Hand­ge­lenks­pro­na­ti­on kontrahiert.

Dabei gilt, je grö­ßer der Abstand des Recht­ecks zur Ruhe­po­si­ti­on wird, des­to stär­ker ist die Kon­trak­ti­on des Anwen­ders. Die­ser erhält also ein direk­tes Feed­back über die erkann­te Bewe­gungs­art und deren Inten­si­tät. Dem Anwen­der wer­den also einer­seits die unter Bei­sein eines The­ra­peu­ten trai­nier­ten Bewe­gun­gen durch die far­bi­gen Punkt­wol­ken vor Augen geführt und ande­rer­seits sei­ne aktu­el­len Bewe­gun­gen mit den frü­her trai­nier­ten in Bezie­hung gesetzt. Dies ermög­licht dem Anwen­der ein siche­res Trai­ning, da er sich an die farb­li­chen Vor­ga­ben der Punkt­wol­ken hal­ten kann und ihm eine fal­sche Bewe­gung sofort auf­fal­len wür­de, beweg­te er sich ja dann außer­halb der far­bi­gen Punktwolken.

In Abbil­dung 5 ist auch rechts eine vir­tu­el­le Michel­an­ge­lo® Pro­the­se zu sehen, die wäh­rend des Trai­nings durch die Mus­kel­kon­trak­tio­nen des Anwen­ders bedient wer­den kann. Der Anwen­der bekommt also von die­ser Trai­nings­soft­ware opti­ma­le Unter­stüt­zung für sein auto­no­mes Trai­ning. Für den Phy­sio­the­ra­peu­ten könn­te die­se Soft­ware eine wert­vol­le Unter­stüt­zung sein, und durch die­se inhä­ren­te Ent­las­tung könn­ten auch meh­re­re fort­ge­schrit­te­ne Anwen­der (aus unse­rer Sicht drei bis vier) par­al­lel von einem Phy­sio­the­ra­peu­ten betreut wer­den, da die Anlei­tung im Trai­ning durch die Soft­ware gege­ben ist und der The­ra­peut ent­kop­pelt von der rei­nen Trai­nings­durch­füh­rung sich der indi­vi­du­el­len Betreu­ung der Grup­pe wid­men könnte.

Resul­ta­te

Abbil­dung 6 zeigt den exem­pla­ri­schen Ver­lauf (aus einer der­zeit lau­fen­den kli­ni­schen Stu­die) eines drei­tä­gi­gen Trai­nings für Hand­ge­lenks­fle­xi­ons­be­we­gun­gen – bei 90 % der Maxi­mal-Kon­trak­ti­on MVC. Die Abszis­se zeigt den zeit­li­chen Ver­lauf meh­re­rer Trai­nings­läu­fe (Run #); farb­lich kodiert sind die Trai­nings­ta­ge. Die Ordi­na­te zeigt den Feh­ler zwi­schen dem Vor­ga­be­pro­fil und der Leis­tung des Anwen­ders. Der Wert ist nor­miert auf den Bereich zwi­schen 0 und 1 und zeigt damit die mitt­le­re pro­zen­tua­le Abwei­chung, die der Anwen­der vom Vor­ga­be­pro­fil erreicht hat. Man kann deut­lich eine Abnah­me des Feh­lers, sowohl wäh­rend eines Tages (gel­be Regres­si­ons­ge­ra­de) als auch zwi­schen den Tagen erken­nen. Die Ergeb­nis­se der kom­plet­ten Stu­die wer­den nach deren Abschluss publi­ziert und dis­ku­tiert werden.

Kon­klu­si­on und Ausblick

Das zuvor beschrie­be­ne Trai­nings­pa­ra­dig­ma und die Trai­nings­soft­ware wer­den der­zeit in Zusam­men­ar­beit mit dem Chris­ti­an Dopp­ler Labor für die Wie­der­her­stel­lung von Extre­mi­tä­ten-Funk­tio­nen kli­nisch erprobt. Dabei wer­den TMR-Anwen­der und klas­sisch ampu­tier­te Anwen­der in der Stu­die auf­ge­nom­men. Ziel ist es, die­se neue Metho­de mit der kon­ven­tio­nel­len Vor­gangs­wei­se zu ver­glei­chen und die Vor­tei­le bzw. etwa­ige Nach­tei­le klar herauszuarbeiten.

Der Autor:
Peter Göbel
Otto Bock Health­ca­re Pro­ducts GmbH
Kai­ser­str. 39
A – 1070 Wien
peter.goebel@ottobock.com

Begut­ach­te­ter Beitrag/Reviewed paper

Zita­ti­on
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