OT: Was zeichnet das Versorgungsangebot des SPZ Westmünsterland im besonderen Maße aus?
Dr. Ulrich Hafkemeyer: Beim SPZ Westmünsterland handelt es sich um ein sozialpädiatrisches Zentrum, das in der Fläche agiert und nicht an einem Ort. Dieses allein ist schon eine Besonderheit, wie sie nur an wenigen Orten in der Bundesrepublik zur Verfügung steht. Des Weiteren sind die Schwerpunkte im SPZ ebenfalls besondere, da neben der klassischen Sozialpädiatrie auch neuroorthopädische Patienten gesehen werden, die speziell unter kinderorthopädischen Gesichtspunkten hinsichtlich ihrer rehatechnischen Versorgung untersucht und behandelt werden. Die rehatechnischen Versorgungen umfassen Aspekte der Lagerung, der Vertikalisierung und der Mobilisation, sowie des Weiteren orthopädietechnische Versorgungen wie Orthesen für die obere und untere Extremität, für den Rumpf, sowie orthopädieschuhtechnische Versorgungen von der plantaren Fußorthese über die Einlage, bis hin zum Maßschuh.
Bei Patienten mit angeborenen Fehlbildungen oder fehlenden Gliedmaßen müssen orthoprothetische und prothetische Hilfsmittel verordnet werden. Alle Hilfsmittel werden nach Genehmigung und Fertigung, sowie einer Erprobungsphase im Alltagsgebrauch erneut vorgestellt, um eine medizinische Hilfsmittelabnahme am Patienten durchzuführen, um auch die Wirkung der Hilfsmittel objektivieren zu können.
OT: Geben Sie uns bitte einen Überblick über Ihr interdisziplinäres Versorgungsteam!
Hafkemeyer: Das interdisziplinäre Versorgungsteam der neuroorthopädischen Sprechstunde im SPZ Westmünsterland umfasst eine Kinderorthopädin, einen Kinderarzt mit zehnjähriger Expertise für Technische Orthopädie, einen Kinderorthopäden/Neuroorthopäden mit dem Schwerpunkt Technische Orthopädie, einem Team im Ganglabor bestehend aus einer Physikerin, einer Mediziningenieurin und einer Sportwissenschaftlerin, einem rehatechnischen Beratungsteam bestehend aus einer Physiotherapeutin mit Bobath-Ausbildung, einem Ergotherapeuten, einer Physiotherapeutin mit der speziellen Expertise zur Behandlung mehrfachbehinderter Kinder mit zusätzlicher Bobath-Ausbildung, sowie zwei medizinischen Fachangestellten, die die Sprechstunde begleiten und organisatorisch tätig sind.
OT: Wie sieht die Zusammenarbeit mit der Orthopädie-Technik im Konkreten aus?
Hafkemeyer: Bei jedem Patienten, der in der neuroorthopädischen Sprechstunde im SPZ Westmünsterland vorgestellt wird, wird zunächst eine umfangreiche Anamnese erhoben, bei der auch die statomotorischen und kognitiven Fähigkeiten eingeschätzt werden. Konkret werden viele Patienten in Begleitung ihrer Eltern, häufig auch in Begleitung ihrer behandelnden Physiotherapeuten vorgestellt. Oft wird auch bei speziellen Fragestellungen der Rehatechniker oder Orthopädietechniker oder Orthopädieschuhtechniker hinzugezogen, wenn er nicht ohnehin schon andere Patienten im SPZ begleitet. Gelegentlich werden auch Sprechstundentermine abgehalten, in denen Patienten verschiedener Sanitätshäuser vorgestellt, untersucht und behandelt werden. Es besteht häufig ein unmittelbarer Kontakt zur Orthopädie-Technik, da bei den Untersuchungen und Befunderhebungen der versorgende Orthopädietechniker-Meister diesen Patienten versorgen möchte. Dabei sind die erlangten Informationen für die Qualität der Arbeit im SPZ von entscheidender Bedeutung. Mehrfach im Jahr kommt es vor, dass für einen bestimmten Leistungserbringer ein ganzer Tag geblockt wird, an dem er seine Patienten hier zur Kontrolle vorstellt und eventuell auch befundbedingte Neuversorgungen konzeptionell besprochen werden.
OT: Wie viele Versorgungen leisten Sie und Ihr Team jährlich?
Hafkemeyer: Das SPZ Westmünsterland gehört bundesweit zu den größten Sozialpädiatrischen Zentren, in dem mehr als 10.000 Behandlungen im Jahr durchgeführt werden. Die neuroorthopädischen Untersuchungen umfassen im Jahr ca. 3.200 bis 3.400 Behandlungen, wobei etwa 2000 Patienten pro Jahr vorgestellt werden. Hinzu kommen noch etwa 500 weitere Patienten, die im sozialpädiatrischen Ambulanz- und Therapiezentrum (SPATZ) am Ludmillen-Stift in Meppen vorgestellt, untersucht und behandelt werden. Dieses geschieht in einem wöchentlichen Rhythmus während des gesamten Jahres. Auch dort gibt es eine intensive Zusammenarbeit zwischen Orthopädieschuhmachern, Orthopädietechnikern und Rehatechnikern.
OT: In welchem Maße war und ist die interprofessionelle Zusammenarbeit durch die coronabedingten Begegnungs- und Hygienevorschriften eingeschränkt?
Hafkemeyer: Seit Mitte März 2020 konnte durch die bundesweit greifenden Schutzmaßnahmen der gewohnte Versorgungsrahmen nicht mehr aufgehalten werden. Es war zunächst eine vollständige Kontaktsperre für ca. drei Wochen festgelegt worden. Mit reduzierten Infektionszahlen einhergehend, konnte die Anzahl der Versorgungen wieder gesteigert werden konnte. Jetzt, also rund 5 Monate nach Beginn der umgreifenden Corona-Pandemie in Deutschland ist der Betrieb immer noch nicht zu 100% wieder aktiviert, wobei auch im Besonderen die schwerstmehrfach behinderten Menschen als Hochrisikopatienten gelten, die nicht unbedingt in die Nähe von Krankenhäusern gebracht werden möchten. Hier wurde während der akuten Pandemie-Periode sehr häufig telefonisch Kontakt mit den Patienten aufgenommen und eine telefonische Beratung angeboten, wenn dieses der Sachverhalt möglich machte. Auch jetzt bestehen noch umfangreiche Begegnungs- und Hygienevorschriften, die einen Normalbetrieb im SPZ und speziell in der neuroorthopädischen Sprechstunde noch nicht möglich machen.
OT: Ihr Arbeitgeber, die Christophorus-Kliniken mit Standorten, Coesfeld, Dülmen und Nottuln, konnte im Juli 2019 in Nottuln die Eröffnung des Medizinischen Zentrums für Menschen mit Behinderung (MZEB) feiern. Kurz darauf folgte ein Einspruch der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL). Welche Konsequenzen brachte diese Entscheidung für den Träger und die potenziellen Patienten mit sich?
Hafkemeyer: Dieses Thema berührt mich bereits seit vielen Jahren. Im SPZ Westmünsterland können nach den Vorgaben der Kostenträger nur Patienten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres behandelt werden. Darüber hinaus müssen diese Patienten streng genommen wieder in den niedergelassenen Bereich, wo oftmals die Zeit fehlt, eine umfangreiche ganzheitliche Untersuchung und Beurteilung des Patienten vorzunehmen. Auch die detaillierten Besprechungen und Indikationen für Hilfsmittel können hier oftmals nicht geleistet werden, da auch das Know-how bei den niedergelassenen Kollegen hinsichtlich spezieller orthopädietechnischer Versorgungen fehlt. Des Weiteren sind alle meine Patienten mit neuroorthopädischen Erkrankungsbildern mit 18 Jahren nicht gesund, so dass in Deutschland noch immer eine Versorgungslücke für Patienten besteht, die mehrfach behindert sind und weitere Behandlungen benötigen, jedoch das 18. Lebensjahr überschritten haben. Oftmals wird diesen Patienten geraten, in die Universitätskliniken zu gehen, was grundsätzlich korrekt ist. Jedoch ist es in den großen Kliniken nicht möglich, eine Kontinuität in der ärztlichen Beurteilung und Versorgung sowie Betreuung der Patienten sicherzustellen.
OT: Für 2021 ist nun die endgültige Eröffnung am Standort Coesfeld geplant. Wie liegen Sie hier im Fahrplan?
Hafkemeyer: Nach dem aktuellen Stand der Verhandlungen wurde nicht zuletzt auch durch den öffentlichen Druck durch Pressemitteilungen klar, dass eine weitere Ablehnung nicht akzeptiert wird. Die Notwendigkeit für die Weiterbehandlung von Menschen mit Behinderung über das 18. Lebensjahr hinaus wird inzwischen überall als notwendig angesehen, so dass auch von der Kassenärztlichen Vereinigung jetzt im Genehmigungsprozess signalisiert wurde, dass man sich auf einen Kompromiss einigen möchte, der eine zweijährige, zeitlich begrenzte Fortführung eines MZEB in Nottuln erlaubt, wobei nach Ablauf dieser zwei Jahre dann ein MZEB an den Christophorus-Kliniken in Coesfeld eingerichtet worden sein muss. Dieses würde den Druck jetzt etwas entlasten und uns die Möglichkeit geben, auch diesen Patienten über das 18. Lebensjahr hinaus eine spezielle Behandlung und Weiterbegleitung zu ermöglichen.
OT: Sie haben in den vergangenen Jahren die Versorgung von Schlaganfall-Patienten mit einer dynamischen Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik kontinuierlich weiterentwickelt. Was zeichnet Ihr Konzept im Speziellen aus?
Hafkemeyer: Die dynamische Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik nach Hafkemeyer hat sich seit 2005 kontinuierlich weiterentwickelt, so dass die anfänglichen Materialschwierigkeiten inzwischen vollständig aufgehoben sind. Häufige Brüche, die zum Anfang noch etwa mehr als 10 Prozent betrugen, konnten inzwischen auf 1 Prozent reduziert werden. Auch die Konzeption der Orthesenversorgung hat sich verändert. Wir sind heute in der Lage, hochvariabel für den einzelnen Patienten befundentsprechend und entsprechend seiner Bedürfnisse die Karbonfedern individuell zu gestalten, so dass ein größtmöglicher Ausgleich der Behinderung mit diesem Hilfsmittel erzielt werden kann. Nicht nur Schlaganfall-Patienten, sondern auch Patienten mit einer bilateralen Cerebralparese sind inzwischen in einer großen Zahl erfolgreich mit diesen dynamischen Unterschenkelorthesen in Prepreg-Technik versorgt worden und erfreuen sich einer großen Mobilität, da hochindividuell an den Befund und die Funktion des Patienten diese Versorgung angepasst werden kann. Standarisierte Verfahren existieren hier nicht, es gibt jedoch ein grundsätzliches Konzept, das jeweils an die Befundsituation angepasst werden muss. Die Stärke der Karbonfeder, die Art der Fußfassung, die medial oder lateral verstärkte Unterstützung, die Kondylenfassung, die Konzeption der Karbonfeder in ihrem Verlauf sind einzelne „Bausteine“, die individuell auf den Patienten abgestellt werden können. Das ultraleichte Gewicht, die rasche und problemlose Handhabung und die Nutzung von Konfektionsschuhen wird von den Patienten hochgeschätzt. Für Kinder- und Jugendliche liegt das Gewicht einer solchen Orthese oftmals zwischen 150 und 250 Gramm. Bei Erwachsenen können auch schon mal Gewichte von etwa 350 Gramm erreicht werden. Gemessen an den ursprünglichen Versorgungen früherer Jahre in Stahl- und Ledertechnik konnten die Gewichte inzwischen deutlich reduziert werden und betragen oftmals nur noch einen Bruchteil der ursprünglichen Versorgungen. Dieses geringe Gewicht führt zu einer hohen Akzeptanz, diese zu einer langen Tragezeit und diese zu einem deutlich positiven Wirkungsergebnis. Bundesweit wird inzwischen die Qualität dieser Orthesenversorgung erkannt und in vielen Rehakliniken und zahlreichen anderen Einrichtungen wird auf die dynamische Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik immer wieder hingewiesen. Der Prozess der Weiterentwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Die vollkontaktige Fußfassung in weitestgehend anatomischer Korrektur und der lange Korrekturhebel über die Karbonfeder sind in der Lage, die Spastik in der Peripherie zu „bändigen“, so dass es zu einer „Beruhigung“ der Tonusverhältnisse kommt, was wiederum für die Funktion von entscheidender Bedeutung ist. Die tibiale Kondylenumgreifung führt zu einer sicheren Fixation der Orthese am Unterschenkel und zu einer deutlich energierückgebenden Wirkung über den langen Karbonhebel. Wir haben inzwischen halbseitig gelähmte Patienten versorgt, die mit diesen Orthesen Sport betreiben. Unter unseren Patienten ist bereits eine Patientin mit unilateraler Cerebralparese, die sich jetzt Weltmeisterin in ihrer Altersklasse im Kugelstoßen nennen darf. Bei ihr hatten wir die Orthese so konzipiert, dass eine spezielle Konfiguration der Karbonfeder eine noch größere rückhebelnde und Energie rückgewinnende Funktion generiert.
Die hohe individuelle Konzeption dieser Orthese, die im Wesentlichen aus drei Anteilen besteht, erfreut sich einer immer größeren Beliebtheit und einer immer größeren Akzeptanz bei den Patienten. Die Fußfassung, der lange Unterschenkel-Karbonhebel und die tibiale Kondylenumgreifung sind hier so variabel anzufertigen, dass sie auf das jeweilige Gangbild des Patienten abgestellt werden kann.
OT: Welche Rolle spielt die Orthopädie-Schuhtechnik bei der geschilderten Versorgung?
Hafkemeyer: Der Orthopädie-Schuhtechnik kommt hier eine wesentliche Rolle zu, da ohne den geeigneten Schuh und der mitunter häufig notwendigen Schuhzurichtung die Wirkung dieser Orthese limitiert ist. Ein passgerechter Schuh in Länge, Weite und Volumen ist die Grundvoraussetzung für die Nutzung dieser Orthese. Häufig sind Stellungskorrekturen wie lateraler oder medialer Schuhbodenausbau eine vorfußpronierende Unterstützung. Sie oder eine vor- bzw. rücklagerte Abrollsohle sind notwendig, um die Wirkungsweise der dynamischen Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik nach Hafkemeyer zu optimieren bzw. zu unterstützen. Unter dem Begriff „Feintuning“ werden die Patienten nach Fertigstellung der Orthesenversorgung wieder vorstellig, um eine orthopädietechnische Hilfsmittelabnahme durchzuführen, zu der selbstverständlich auch der Schuh gehört, der für das Tragen der Orthese verwendet wird. Hier sind oftmals filigrane Veränderungen notwendig, um die Optimierung der Fußabwicklung zu erreichen.
OT: In welchem Maße kann das Gangbild des Patienten maßgeblich und nachhaltig durch die Orthesenversorgung verbessert werden?
Hafkemeyer: Wie ich bereits erwähnt habe, ist die Orthese in der Lage, durch ihre individuelle vollkontaktige Fußfassung in anatomischer Korrektur von OSG, USG, Längswölbung und Rückfuß die fehlerhafte spastische Innervation des Fußes zu unterbinden und eine korrekte statische Korrektur des Fußes zu erreichen. Durch die Karbonfeder ist das obere Sprunggelenk nicht arretiert, sondern beweglich, wobei je nach Konzeption und Härtegrad der Karbonfeder hier die Bewegungsumfänge limitiert werden. Durch die orthetische Versorgung kommt es zu einer verbesserten Bewegung und Haltungs- und Bewegungskontrolle, zu einem primären Fersenkontakt und zu einer physiologischen Fußablösung durch die Energierückgewinnung am Ende der Belastungsphase. Ohne die Orthesenversorgung zeigen diese Patienten in der Regel ein retrogrades Gangbild mit primärem Vorfußkontakt und sekundärer Fersenbelastung, was durch die Orthesenversorgung normalisiert wird. Durch die Dehnung der verkürzten Wadenmuskulatur über die Karbonfeder kommt es zu einer dynamischen Kontrakturprophylaxe, so dass die verkürzte Muskulatur des Muskulus triceps surae häufig durch die Dynamisierung der Orthese profitiert und sukzessiv an Länge gewinnt, so dass die spastische Bewegungseinschränkung hierdurch reduziert wird. Die Stand- und Gangsicherheit sind weitere Aspekte, die mit der Orthese erreicht werden. Auch die Leistungsfähigkeit des Patienten, der Aktionsradius und die Mobilität profitieren ganz häufig, insbesondere auch bei jüngeren Patienten, bei denen die Spastik eine deutliche Limitierung in ihrem Bewegungsradius darstellt.
Die Fragen stellte Michael Blatt.
- Handwerkszeichen in Gold für Wollseifer — 20. Februar 2023
- Programmkomitee nimmt Arbeit für OTWorld 2024 auf — 13. Februar 2023
- Austausch auf Augenhöhe — 8. Februar 2023