OT: Innerhalb mehrerer Symposien widmen sich die Referent:innen bei der OTWorld den Themen Kinder‑, Jugend- und Neuroorthopädie. Worauf haben Sie, Herr Prof. Wirth, als Mitglied des Programmkomitees bei der Zusammenstellung besonderen Wert gelegt?
Thomas Wirth: Mir ging es vor allem darum, kinder- und jugendorthopädische Themen in den Vordergrund zu stellen, die interdisziplinär und von vielen Berufsgruppen gemeinsam behandelt werden, um den Patienten mit ihrer Erkrankung weiterzuhelfen. Es geht also darum, beispielsweise zur Thematik der idiopathischen Skoliose den Blickwinkel des Kinder- und Jugendorthopäden, des Orthopädietechnikers und des Physiotherapeuten zu beleuchten. Ich freue mich sehr darüber, dass sich dieser interdisziplinäre Ansatz in allen Symposien auf die eine oder andere Weise widerspiegelt.
OT: Der OTWorld ist es stets ein Anliegen, Theorie und Praxis zu vereinen und alle an der Versorgung Beteiligten von den Angeboten profitieren zu lassen. Inwiefern wird das Kongressprogramm dem Anspruch rund um die Themen Kinder‑, Jugend- und Neuroorthopädie gerecht?
Ingo Pfefferkorn: Die OTWorld als Weltleitmesse und Weltkongress der Branche, im Austausch mit zahlreichen nationalen und internationalen Fachgesellschaften, hat immer den Anspruch, Theorie und Praxis zu vereinen. In diesem Jahr wird dies erneut durch die zahlreichen Symposien und die Kongressthemen im Workshop-Charakter deutlich. Der direkte Bezug zur Praxis schafft vielfältige Interaktions- und Diskussionsmöglichkeiten. Das Kongressprogramm ist, dem interprofessionellen Charakter unserer Arbeit entsprechend, gewohnt sehr vielfältig und tangiert nahezu alle fachlich relevanten Bereiche. Kernthemen sind in diesem Jahr Kinder‑, Jugend- und Neuroorthopädie. Im Programm kommen interdisziplinäre Versorgungsansätze, so unter anderem bei angeborenen und erworbenen Lähmungen, leitliniengerechte Versorgungsmöglichkeiten junger Patienten, prothetische Versorgungen von Kindern und Jugendlichen oder zum Beispiel medizinische, therapeutische und orthopädietechnische Möglichkeiten bei Wirbelsäulendeformitäten zur Diskussion.
OT: Mit dem Symposium „Modern Treatment and Innovations for the patient with Spina bifida – US-German Exchange: Pediatric O&P“ wird es international – deutsche und US-amerikanische Referent:innen gestalten die Veranstaltung. Wie leben Sie im Berufsalltag den Austausch über Kontinente und Landesgrenzen hinweg?
Wirth: Von Anfang meiner Berufstätigkeit an war ich international ausgerichtet. Es geht darum, die Therapien, Erfahrungen und Kenntnisse der Kinder- und Jugendorthopäden global zu kennen und in seine eigenen Behandlungsschemata zu integrieren. Ich pflege sehr intensiv den internationalen Austausch und besuche regelmäßig die internationalen Schlüsselkongresse der Kinder- und Jugendorthopädie. Ich bin Mitglied der Pediatric Orthopedic Society of North America, der European Paediatric Orthopaedic Society und habe in Australien und England gearbeitet. So ist ein sehr dichtes globales Netzwerk entstanden.
OT: Gemeinsam stehen Prof. Wirth und Sie, Herr Pfefferkorn, dem Symposium „Zusammenspiel konservativer, orthetischer und orthopädisch-chirurgischer Maßnahmen in der Behandlung von Patienten mit Skelettdysplasien und weichen Knochen“ als Chair vor. Was erwartet die Besucher:innen hier?
Pfefferkorn: Skelettdysplasien und weiche Knochen sind oft genetischen Ursprungs oder können sich durch mechanische Deformationen und somit in Skelettfehlbildungen darstellen. Im Symposium wird das Zusammenspiel konservativer, orthetischer und orthopädisch-chirurgischer Maßnahmen in der Behandlung von betroffenen Patienten im Fokus stehen. Welche Indikation zu operativer Achskorrektur bei Kindern mit Skelettdysplasie gibt es? Sind orthetische Maßnahmen bei Patienten mit Skelettdysplasie und Extremitätenfehlstellungen indiziert und von Nutzen? Es wird ebenso der orthopädisch-chirurgische Aspekt der Deformitätenkorrektur der Extremitäten bei Erkrankungen mit weichen Knochen dargestellt und diskutiert.
OT: Egal um welche Erkrankung es geht, in der Regel gilt: Die Therapie sollte so früh wie möglich beginnen. Inwiefern ist das entscheidend für den Verlauf von (neuro-)orthopädischen Erkrankungen?
Wirth: Zunächst muss der Kinder- und Jugendorthopäde das erkrankte Kind früh sehen. In der Neuroorthopädie gibt es mittlerweile einen sehr gut belegten Präventionskatalog, vor allem bezogen auf Hüfte und Wirbelsäule. So kann es sein, dass man am Anfang bestimmte Dinge nur beobachten und erst bei Veränderungen zum Schlechten reagieren muss. Bei Fußdeformitäten kann es aber sein, dass die Frühbehandlung essenziell ist. Es stimmt also: Eine frühzeitig eingeleitete Therapie kann für bestimmte Pathologien wegweisend sein, wichtig ist aber vor allem, dass der Kinder- und Jugendorthopäde von Anfang an in die Betreuung der Kinder einbezogen wird.
OT: Inwiefern unterscheiden sich die Versorgungen von Kindern und Erwachsenen?
Pfefferkorn: Kinder unterscheiden sich in vielen Belangen von Erwachsenen und sind nicht einfach kleine Erwachsene. Daher haben Versorgungen von Kindern und Erwachsenen differenziert zu erfolgen. Anatomie, Proportionen, Psychologie, Stoffwechsel sind bei Kindern anders zu betrachten und zu berücksichtigen. Kinder handeln nicht autark und vollkommen selbstständig, sodass die Kontaktaufnahme und Kommunikation mit Eltern oder Betreuern Voraussetzung für nahezu jede Versorgung sind. Die Eltern noch vor dem kleinen Patienten quasi „zu versorgen“, also abzuholen, entscheidet mitunter über das Verständnis und den Erfolg einer Therapie mit indizierten Hilfsmitteln im Sinne des Kindes.
OT: Gehen Kinder und Jugendliche anders mit Beeinträchtigungen um als Erwachsene?
Wirth: Ganz bestimmt. Ob es da aber ein verallgemeinerbares Verhalten gibt, weiß ich nicht. Kinder sind sehr tapfer. Sie müssen ja teilweise sehr langwierige Behandlungen mit absehbar mehrfachen operativen Eingriffen über sich ergehen lassen. Das machen fast alle exzellent. Man erkennt durchaus öfter, dass die Belastungen aufseiten der Eltern zu größeren Anstrengungen führen als bei den eigentlich betroffenen Kindern. Ich kann nur sagen, dass ich sehr stolz auf die in meiner Behandlung stehenden Kinder bin, denen ich besonders viel zumute. Aber auf die Eltern auch!
OT: Geht es darum, ein Kind zu versorgen, behandelt man mehr als nur den eigentlichen Patienten. Meist sitzen die Eltern mit im Boot, bedeutet: ein Patient, mehrere Meinungen und dazwischen das Versorgerteam aus Therapeut:innen, Ärzt:innen und Techniker:innen. Wie schafft man es, all diese Meinungen und Wünsche zu vereinen?
Pfefferkorn: Wie schon erwähnt gilt es, trotz aller eigenen fachlichen Expertise und Kompetenz, die Eltern zu hören und sie mit dem Konzept der geplanten Versorgung und Therapie vertraut zu machen und entsprechend mit ins Boot zu holen. Zum Beispiel kommen häufig die Eltern bereits mit zahlreichen Informationen aus dem Internet, die nicht selten mit dem technischen und therapeutischen Versorgungsplan kaum einhergehen. Daher ist und bleibt es besonders wichtig, sich im Rehabilitationsteam, mit den einzelnen Professionen, zu verständigen. Das Umfeld des Kindes und dessen Wünsche spielen ebenso eine Rolle, um den Erfolg letztendlich zu sichern. Stetige Weiterbildungen, um aktuell fachlich und sachlich argumentieren zu können, sind unabdingbar. Die OTWorld, die Fortbildungsvereinigung für Orthopädie-Technik, Rehakind, die Vereinigung Technische Orthopädie, die Internationale Gesellschaft für Prothetik und Orthetik, die Bundesfachschule für Orthopädie-Technik und weitere Vereinigungen und Institutionen bieten mit ihren Tagungen hierzu beste Möglichkeiten.
OT: Minderjährige haben zwar eine eigene Stimme, dürfen aber nicht für sich allein entscheiden. Was, wenn der Wunsch des Kindes und der seiner Eltern auseinandergehen?
Wirth: Beratung, Gespräche, Verläufe anderer Patienten zeigen – natürlich anonymisiert. Ich gebe auch einmal wichtige Literatur mit, die die Eltern lesen können. In solchen Fällen muss man gerade das machen, das weder bezahlt wird noch im Überschuss vorhanden ist: Zeit aufwenden und detailliert erklären. Übrigens divergieren die Meinungen zwischen Kindern und Eltern nicht so oft. Bei Jugendlichen kommt dies immer wieder vor, aber gute Argumente können viele Missverständnisse beseitigen. Schwierig wird es, wenn unter den Elternteilen Uneinigkeit herrscht. Da kann man oft nicht richtig helfen und die betroffenen Kinder sind die Leidtragenden.
OT: Schwere Schicksalsschläge von Kindern berühren besonders. Haben Sie Tipps für Versorger:innen, wie diese lernen, emotional mit solchen Situationen umzugehen?
Pfefferkorn: Schicksalsschläge von Kindern berühren und hinterlassen emotionale Gedanken. Sich schon frühzeitig damit auseinanderzusetzen, kann einen Umgang mit solchen Situationen erleichtern, wenn auch nicht gänzlich vermeiden. Bereits für Auszubildende gehört eine frühzeitige Einbindung in unmittelbare Patientenkontakte dazu und fördert Verständnis bei der Umsetzung von Versorgungsaufträgen mit emotionalem Hintergrund. Zeit für ein ausführliches Gespräch mit den Eltern bzw. Angehörigen und die Kunst des Zuhörens, nicht nur bezüglich derer Empfindungen und Sorgen, weichen hier oft von anderen Versorgungen ab, sind aber für einen Erfolg aus meiner Sicht unabdingbar.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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