OTWorld: Kon­gress­prä­si­den­ten im Interview

Sie selbst sind klein, ihre Bedürfnisse dagegen umso größer. Worauf kommt es bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen an? Und vor welchen Herausforderungen steht das Versorgerteam? Diese und weitere Fragen haben die Kongresspräsidenten der OTWorld 2024, Prof. Dr. Thomas Wirth und Dipl.-Ing. (FH) Ingo Pfefferkorn, vor dem Hintergrund des Fokusthemas Kinder-, Jugend- und Neuroorthopädie im Gespräch mit der OT-Redak­tion beantwortet.

OT: Inner­halb meh­re­rer Sym­po­si­en wid­men sich die Referent:innen bei der OTWorld den The­men Kinder‑, Jugend- und Neu­ro­or­tho­pä­die. Wor­auf haben Sie, Herr Prof. Wirth, als Mit­glied des Pro­gramm­ko­mi­tees bei der Zusam­men­stel­lung beson­de­ren Wert gelegt?

Anzei­ge

Tho­mas Wirth: Mir ging es vor allem dar­um, kin­der- und jugen­d­or­tho­pä­di­sche The­men in den Vor­der­grund zu stel­len, die inter­dis­zi­pli­när und von vie­len Berufs­grup­pen gemein­sam behan­delt wer­den, um den Pati­en­ten mit ihrer Erkran­kung wei­ter­zu­hel­fen. Es geht also dar­um, bei­spiels­wei­se zur The­ma­tik der idio­pa­thi­schen Sko­lio­se den Blick­win­kel des Kin­der- und Jugen­d­or­tho­pä­den, des Ortho­pä­die­tech­ni­kers und des Phy­sio­the­ra­peu­ten zu beleuch­ten. Ich freue mich sehr dar­über, dass sich die­ser interdiszi­plinäre Ansatz in allen Sym­po­si­en auf die eine oder ande­re Wei­se widerspiegelt.

OT: Der OTWorld ist es stets ein Anlie­gen, Theo­rie und Pra­xis zu ver­ei­nen und alle an der Ver­sor­gung Betei­lig­ten von den Ange­bo­ten pro­fi­tie­ren zu las­sen. Inwie­fern wird das Kon­gress­pro­gramm dem Anspruch rund um die The­men Kinder‑, Jugend- und Neu­ro­or­tho­pä­die gerecht?

Ingo Pfef­fer­korn: Die OTWorld als Welt­leit­mes­se und Welt­kon­gress der Bran­che, im Aus­tausch mit zahl­rei­chen natio­na­len und inter­na­tio­na­len Fach­ge­sell­schaf­ten, hat immer den Anspruch, Theo­rie und Pra­xis zu ver­ei­nen. In die­sem Jahr wird dies erneut durch die zahl­rei­chen Sym­po­si­en und die Kon­gress­the­men im Work­shop-Cha­rak­ter deut­lich. Der direk­te Bezug zur Pra­xis schafft viel­fäl­ti­ge Inter­ak­ti­ons- und Dis­kus­si­ons­mög­lich­kei­ten. Das Kon­gress­pro­gramm ist, dem inter­pro­fes­sio­nel­len Cha­rak­ter unse­rer Arbeit ent­spre­chend, gewohnt sehr viel­fäl­tig und tan­giert nahe­zu alle fach­lich rele­van­ten Berei­che. Kern­the­men sind in die­sem Jahr Kinder‑, Jugend- und Neu­ro­or­tho­pä­die. Im Pro­gramm kom­men inter­dis­zi­pli­nä­re Ver­sor­gungs­an­sät­ze, so unter ande­rem bei ange­bo­re­nen und erwor­be­nen Läh­mun­gen, leit­li­ni­en­ge­rech­te Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten jun­ger Pati­en­ten, pro­the­ti­sche Ver­sor­gun­gen von Kin­dern und Jugend­li­chen oder zum Bei­spiel medi­zi­ni­sche, the­ra­peu­ti­sche und ortho­pä­die­tech­ni­sche Mög­lich­kei­ten bei Wir­bel­säu­len­de­for­mi­tä­ten zur Diskussion.

OT: Mit dem Sym­po­si­um „Modern Tre­at­ment and Inno­vations for the pati­ent with Spi­na bifi­da – US-Ger­man Exch­an­ge: Pedia­tric O&P“ wird es interna­tional – deut­sche und US-ame­ri­ka­ni­sche Referent:innen gestal­ten die Ver­an­stal­tung. Wie leben Sie im Berufs­all­tag den Aus­tausch über Kon­ti­nen­te und Landes­grenzen hinweg?

Wirth: Von Anfang mei­ner Berufs­tä­tig­keit an war ich inter­na­tio­nal aus­ge­rich­tet. Es geht da­rum, die The­ra­pien, Erfah­run­gen und Kennt­nis­se der Kin­der- und Jugen­d­or­tho­pä­den glo­bal zu ken­nen und in sei­ne eige­nen Behand­lungs­sche­ma­ta zu inte­grie­ren. Ich pfle­ge sehr inten­siv den inter­na­tio­na­len Aus­tausch und besu­che regel­mä­ßig die inter­na­tio­na­len Schlüs­sel­kon­gres­se der Kin­der- und Jugen­d­or­tho­pä­die. Ich bin Mit­glied der Pedia­tric Ortho­pe­dic Socie­ty of North Ame­ri­ca, der Euro­pean Paed­ia­tric Ortho­pae­dic Socie­ty und habe in Aus­tra­li­en und Eng­land gear­bei­tet. So ist ein sehr dich­tes glo­ba­les Netz­werk entstanden.

OT: Gemein­sam ste­hen Prof. Wirth und Sie, Herr Pfef­fer­korn, dem Sym­po­si­um „Zusam­men­spiel kon­ser­va­ti­ver, orthe­ti­scher und ortho­pä­disch-chir­ur­gi­scher Maß­nah­men in der Behand­lung von Pati­en­ten mit Ske­lett­dys­pla­si­en und wei­chen Kno­chen“ als Chair vor. Was erwar­tet die Besucher:innen hier?

Pfef­fer­korn: Ske­lett­dys­pla­si­en und wei­che Kno­chen sind oft gene­ti­schen Ursprungs oder kön­nen sich durch mecha­ni­sche Defor­ma­tio­nen und somit in Ske­lett­fehl­bil­dun­gen dar­stel­len. Im Sym­po­si­um wird das Zusam­men­spiel kon­ser­va­ti­ver, orthe­ti­scher und ortho­pä­disch-chir­ur­gi­scher Maß­nah­men in der Behand­lung von betrof­fe­nen Patien­ten im Fokus ste­hen. Wel­che Indi­ka­ti­on zu ope­ra­ti­ver Achs­­korrektur bei Kin­dern mit Ske­lett­dys­pla­sie gibt es? Sind orthe­ti­sche Maß­nah­men bei Pati­en­ten mit Ske­lett­dys­pla­sie und Extre­mi­tä­ten­fehl­stel­lun­gen indi­ziert und von Nut­zen? Es wird eben­so der ortho­pä­disch-chir­ur­gi­sche Aspekt der Defor­mi­tä­ten­kor­rek­tur der Extre­mi­tä­ten bei Erkran­kun­gen mit wei­chen Kno­chen dar­ge­stellt und diskutiert.

OT: Egal um wel­che Erkran­kung es geht, in der Regel gilt: Die The­ra­pie soll­te so früh wie mög­lich begin­nen. Inwie­fern ist das ent­schei­dend für den Ver­lauf von (neuro-)orthopädischen Erkrankungen?

Wirth: Zunächst muss der Kin­der- und Jugen­d­or­tho­pä­de das erkrank­te Kind früh sehen. In der Neu­ro­or­tho­pä­die gibt es mitt­ler­wei­le einen sehr gut beleg­ten Prä­ven­ti­ons­ka­ta­log, vor allem bezo­gen auf Hüf­te und Wir­bel­säu­le. So kann es sein, dass man am Anfang bestimm­te Din­ge nur beob­ach­ten und erst bei Ver­än­de­run­gen zum Schlech­ten reagie­ren muss. Bei Fuß­de­for­mi­tä­ten kann es aber sein, dass die Früh­be­hand­lung essen­zi­ell ist. Es stimmt also: Eine früh­zei­tig ein­ge­lei­te­te The­ra­pie kann für bestimm­te Patho­lo­gien weg­wei­send sein, wich­tig ist aber vor allem, dass der Kin­der- und Jugen­d­or­tho­pä­de von Anfang an in die Betreu­ung der Kin­der ein­be­zo­gen wird.

OT: Inwie­fern unter­schei­den sich die Ver­sor­gun­gen von Kin­dern und Erwachsenen?

Pfef­fer­korn: Kin­der unter­schei­den sich in vie­len Belan­gen von Erwach­se­nen und sind nicht ein­fach klei­ne Erwach­se­ne. Daher haben Ver­sor­gun­gen von Kin­dern und Erwach­se­nen dif­fe­ren­ziert zu erfol­gen. Ana­to­mie, Pro­por­tio­nen, Psy­cho­lo­gie, Stoff­wech­sel sind bei Kin­dern anders zu betrach­ten und zu berück­sich­ti­gen. Kin­der han­deln nicht aut­ark und voll­kom­men selbst­stän­dig, sodass die Kon­takt­auf­nah­me und Kom­mu­ni­ka­ti­on mit Eltern oder Betreu­ern Vor­aus­set­zung für nahe­zu jede Ver­sor­gung sind. Die Eltern noch vor dem klei­nen Pati­en­ten qua­si „zu ver­sor­gen“, also abzu­ho­len, ent­schei­det mit­un­ter über das Ver­ständ­nis und den Erfolg einer The­ra­pie mit indi­zier­ten Hilfs­mit­teln im Sin­ne des Kindes.

OT: Gehen Kin­der und Jugend­li­che anders mit Beeinträchti­gungen um als Erwachsene?

Wirth: Ganz bestimmt. Ob es da aber ein ver­all­ge­mei­ner­ba­res Ver­hal­ten gibt, weiß ich nicht. Kin­der sind sehr tap­fer. Sie müs­sen ja teil­wei­se sehr lang­wie­ri­ge Behand­lun­gen mit abseh­bar mehr­fa­chen ope­ra­ti­ven Ein­grif­fen über sich erge­hen las­sen. Das machen fast alle exzel­lent. Man erkennt durch­aus öfter, dass die Belas­tun­gen auf­sei­ten der Eltern zu grö­ße­ren Anstren­gun­gen füh­ren als bei den eigent­lich betrof­fe­nen Kin­dern. Ich kann nur sagen, dass ich sehr stolz auf die in mei­ner Behand­lung ste­hen­den Kin­der bin, denen ich beson­ders viel zumu­te. Aber auf die Eltern auch!

OT: Geht es dar­um, ein Kind zu ver­sor­gen, behan­delt man mehr als nur den eigent­li­chen Pati­en­ten. Meist sit­zen die Eltern mit im Boot, bedeu­tet: ein Pati­ent, meh­re­re Mei­nun­gen und dazwi­schen das Ver­sor­ger­team aus Therapeut:innen, Ärzt:innen und Techniker:innen. Wie schafft man es, all die­se Mei­nun­gen und Wün­sche zu vereinen?

Pfef­fer­korn: Wie schon erwähnt gilt es, trotz aller eige­nen fach­li­chen Exper­ti­se und Kom­pe­tenz, die Eltern zu hören und sie mit dem Kon­zept der geplan­ten Ver­sor­gung und The­ra­pie ver­traut zu machen und ent­spre­chend mit ins Boot zu holen. Zum Bei­spiel kom­men häu­fig die Eltern bereits mit zahl­rei­chen Infor­ma­tio­nen aus dem Inter­net, die nicht sel­ten mit dem tech­ni­schen und the­ra­peu­ti­schen Ver­sor­gungs­plan kaum ein­her­ge­hen. Daher ist und bleibt es beson­ders wich­tig, sich im Reha­bi­li­ta­ti­ons­team, mit den ein­zel­nen Pro­fes­sio­nen, zu ver­stän­di­gen. Das Umfeld des Kin­des und des­sen Wün­sche spie­len eben­so eine Rol­le, um den Erfolg letzt­end­lich zu sichern. Ste­ti­ge Wei­ter­bil­dun­gen, um aktu­ell fach­lich und sach­lich argu­men­tie­ren zu kön­nen, sind unab­ding­bar. Die OTWorld, die Fort­bil­dungs­ver­ei­ni­gung für Ortho­pä­die-Tech­nik, Reha­kind, die Ver­ei­ni­gung Tech­ni­sche Ortho­pä­die, die Inter­na­tio­na­le Gesell­schaft für Pro­the­tik und Orthe­tik, die Bun­des­fach­schu­le für Ortho­pä­die-Tech­nik und wei­te­re Ver­ei­ni­gun­gen und Insti­tu­tio­nen bie­ten mit ihren Tagun­gen hier­zu bes­te Möglichkeiten.

OT: Min­der­jäh­ri­ge haben zwar eine eige­ne Stim­me, dür­fen aber nicht für sich allein ent­schei­den. Was, wenn der Wunsch des Kin­des und der sei­ner Eltern auseinandergehen?

Wirth: Bera­tung, Gesprä­che, Ver­läu­fe ande­rer Pati­en­ten zei­gen – natür­lich anony­mi­siert. Ich gebe auch ein­mal wich­ti­ge Lite­ra­tur mit, die die Eltern lesen kön­nen. In sol­chen Fäl­len muss man gera­de das machen, das weder bezahlt wird noch im Über­schuss vor­han­den ist: Zeit auf­wen­den und detail­liert erklä­ren. Übri­gens diver­gie­ren die Mei­nun­gen zwi­schen Kin­dern und Eltern nicht so oft. Bei Jugend­li­chen kommt dies immer wie­der vor, aber gute Argu­men­te kön­nen vie­le Miss­ver­ständ­nis­se besei­ti­gen. Schwie­rig wird es, wenn unter den Eltern­tei­len Unei­nig­keit herrscht. Da kann man oft nicht rich­tig hel­fen und die betrof­fe­nen Kin­der sind die Leidtragenden.

OT: Schwe­re Schick­sals­schlä­ge von Kin­dern berüh­ren beson­ders. Haben Sie Tipps für Versorger:innen, wie die­se ler­nen, emo­tio­nal mit sol­chen Situa­tio­nen umzugehen?

Pfef­fer­korn: Schick­sals­schlä­ge von Kin­dern berüh­ren und hin­ter­las­sen emo­tio­na­le Gedan­ken. Sich schon früh­zei­tig damit aus­ein­an­der­zu­set­zen, kann einen Umgang mit sol­chen Situa­tio­nen erleich­tern, wenn auch nicht gänz­lich ver­mei­den. Bereits für Aus­zu­bil­den­de gehört eine früh­zei­ti­ge Ein­bin­dung in unmit­tel­ba­re Pati­en­ten­kon­tak­te dazu und för­dert Ver­ständ­nis bei der Umset­zung von Ver­sor­gungs­auf­trä­gen mit emo­tio­na­lem Hin­ter­grund. Zeit für ein aus­führ­li­ches Gespräch mit den Eltern bzw. Ange­hö­ri­gen und die Kunst des Zuhö­rens, nicht nur bezüg­lich derer Emp­fin­dun­gen und Sor­gen, wei­chen hier oft von ande­ren Ver­sor­gun­gen ab, sind aber für einen Erfolg aus mei­ner Sicht unabdingbar.

Die Fra­gen stell­te Pia Engelbrecht.

 

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