Jah­res­auf­takt bei Hart­mann Rechtsanwälte

Vor der Corona-Pandemie war der Jahresauftakt bei Hartmann Rechtsanwälte ein Pflichttermin für viele Beteiligte aus der Hilfsmittelbranche. 2024 setzte sich diese Tradition in Hamm im Schloss Oberwerries nach drei Jahren Pause in schöner Kulisse fort. Die im „Speisesaal“ des Schlosses platzierten Tische waren fast bis auf den letzten Platz gefüllt, und mehr als 150 Gäste verfolgten die intensiven, einstündigen Impulsvorträge der geladenen Redner.

Bevor Gast­ge­ber Peter Hart­mann die Gäs­te begrüß­te, blieb genü­gend Zeit für die Teil­neh­men­den zum Aus­tausch beim Get-tog­e­ther. Dort wur­den aktu­el­le The­men aus Bun­des- und Lan­des­po­li­tik dis­ku­tiert und aktu­el­le Infor­ma­tio­nen aus­ge­tauscht. Im Vor­trags­saal war dage­gen der Fokus auf die jewei­li­gen Vor­tra­gen­den gerich­tet. Peter Hart­mann war die Freu­de dar­über, dass so vie­le Betei­lig­te den Weg nach Hamm gefun­den hat­ten, anzu­mer­ken. Er erzähl­te zunächst etwas über den Tagungs­ort und führ­te die Gäs­te auf die­se Wei­se gelun­gen in den Tag ein.

Dass das The­ma Digi­ta­li­sie­rung auf dem Pro­gramm zu fin­den war, sorg­te für kei­ne gro­ße Über­ra­schung. Schließ­lich steht die Bran­che der­zeit an der Schwel­le zu ver­schie­de­nen digi­ta­len Her­aus­for­de­run­gen. Dr. Jan Hel­mig, Opta Data, nahm sich die Zeit und führt die Gäs­te in die Grund­zü­ge der Tele­ma­tik­in­fra­struk­tur (TI), Fach­diens­te wie Kom­mu­ni­ka­ti­on im Medi­zin­we­sen (KIM) und das Pilot­pro­jekt E‑Verordnung ein. „Digi­ta­li­sie­rung im Hilfs­mit­tel­be­reich ist ein Begriff mit zahl­rei­chen Facet­ten“, lau­te­te daher das Fazit Hel­migs. Beson­ders das Pilot­pro­jekt, dass neben Opta Data auch der Bun­des­in­nungs­ver­band für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT) und vie­le wei­te­re Part­ner aus der Soft­ware-Bran­che und Leis­tungs­er­brin­ger auf den Weg gebracht haben, stieß auf gro­ßes Inter­es­se bei den Zuhörer:innen. Die Fra­gen aus dem Publi­kum konn­te Hel­mig zur Zufrie­den­heit aller beant­wor­ten, bei­spiels­wei­se erwar­tet der Digi­ta­li­sie­rungs-Exper­te, dass die Gema­tik sich nun mit den Spe­zi­fi­ka­tio­nen zur E‑Verordnung aus­ein­an­der­set­zen wird. „Erfah­rungs­ge­mäß tut die Gema­tik dies zwei bis drei Jah­re vor dem Roll-Out“, so Hel­mig, der die­se Ein­schät­zung auf die Erfah­run­gen bei der Ein­füh­rung des E‑Rezepts stützt. Auch die Beden­ken, dass für die TI-Anbin­dung wei­te­re Über­prü­fun­gen von Leis­tungs­er­brin­gern nötig sei­en, konn­te er zer­streu­en. Statt eines Prüf­ver­fah­rens ist der Anschluss an die Daten­au­to­bahn des Gesund­heits­we­sens viel mehr ein Antrags­ver­fah­ren, das die Leis­tungs­er­brin­ger in Zukunft durch­lau­fen müssen.

Apro­pos Zukunft! Wie die­se im Bereich des deut­schen Gesund­heits­we­sens aus­se­hen wird, hat Prof. Dr. David Matus­ie­wicz bereits vor Augen, denn der IST-Zustand ist aus sei­ner Sicht nicht hin­nehm­bar. „Das Gesund­heits­we­sen ist abstrus krank“, erklär­te der Gesund­heits­öko­nom. Die­se Aus­sa­ge unter­füt­ter­te er mit sei­nen aktu­el­len Erfah­run­gen – als Prak­ti­kant in einer Apo­the­ke. Das dort Erleb­te lässt ihn ver­zwei­feln, denn vie­le Doku­men­ta­ti­ons­pflich­ten und Medi­en­brü­che sor­gen für eine Ver­sor­gungs­ver­schlech­te­rung bzw. ‑ver­zö­ge­rung auf Kos­ten der Patient:innen. Die aus sei­ner For­schung stam­men­den Erkennt­nis­se und das Wis­sen aus vie­len Koope­ra­tio­nen mit diver­sen Play­ern im Gesund­heits­markt teil­te Matus­ie­wicz mit den Anwe­sen­den. Dabei fehl­te auch nicht der Hin­weis auf sei­ne aktu­el­len Buch­pro­jek­te, die sich – wie könn­te es anders sein – mit dem smar­ten Pati­en­ten beschäf­ti­gen. Der Esse­ner Pro­fes­sor erwar­tet in der Zukunft ein hybri­des Gesund­heits­we­sen, das ana­lo­ge mit digi­ta­len Diens­ten ver­knüpft und auch eine teil­wei­se Ver­schie­bung auf loka­ler Ebe­ne – weg von Kli­ni­ken, Pra­xen oder Sani­täts­häu­sern hin zu den eige­nen vier Wän­den – pas­sie­ren wird. Eine wei­te­re The­se: „In Zukunft wird KI dafür sor­gen, dass wir weni­ger Zeit im Büro sind“, so Matus­ie­wicz, der dar­aus fol­gert, dass durch die gewon­ne­ne Frei­zeit eine fami­li­en­ba­sier­te Pfle­ge wie­der prak­ti­ka­bler wird und so den Man­gel an Fach­kräf­ten ein wenig abmil­dern wird. Ein wenig rat­los wirk­te Matus­ie­wicz bei der Fra­ge von Ver­ein­ba­rung von Cloud und Gesund­heits­we­sen. „Ich fra­ge mich, war­um über­all die Cloud funk­tio­niert und war­um im Gesund­heits­we­sen nicht?“ so Matus­ie­wicz. Schließ­lich wür­den auch ande­re Bran­chen – wie zum Bei­spiel der Finanz­wirt­schaft – mit sen­si­blen Daten arbei­ten und auf eine eige­ne Daten­au­to­bahn verzichten.

Einen Über­blick über den IST-Zustand der Hilfs­mit­tel­bran­che und die Her­aus­for­de­run­gen von Gegen­wart und Zukunft gaben Peter Hart­mann und Mar­kus Wend­ler, Geschäfts­füh­rer PVM. Dabei wur­den sowohl juris­ti­sche als auch poli­ti­sche Pro­ble­ma­ti­ken in den Fokus genom­men. Das Fazit von Peter Hart­mann lau­tet: „Wir müs­sen gemein­sam Pro­ble­me lösen, statt Bas­hing zu betrei­ben.“ Ähn­lich sieht es auch Wend­ler. „Das IST macht mir mas­si­ve Sor­gen“, gibt der gelern­te Ortho­pä­die­me­cha­ni­ker zu. Er stell­te exem­pla­risch am Bei­spiel eines Toi­let­ten­stuhls vor, wie wenig Pra­xis und Anspruch wirt­schaft­lich zusam­men­pas­sen. Die gerin­ge Ent­loh­nung ent­spricht nicht dem Gegen­wert der erbrach­ten Leis­tung. Dabei gab Wend­ler zu beden­ken, dass ins­ge­samt dar­über dis­ku­tiert wer­den muss, ob man sich in die­ser Form sein Gesund­heits­we­sen leis­ten kann und will. Sein Cre­do: „Weg von der All-Inclusive-Mentalität“.

Mit gro­ßer Span­nung wur­de der Bei­trag von Andre­as Brand­horst, Refe­rats­lei­ter Hilfs­mit­tel im Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­um, erwar­tet. Auf­grund des Bahn­streiks aus Ber­lin mit Umweg über Mün­chen und Dort­mund nach Hamm gereist, gewähr­te der Exper­te einen Ein­blick in die aktu­el­le poli­ti­sche Lage in der Haupt­stadt. Dabei gestand er, dass trotz der vie­len Ver­sor­gun­gen die Hilfs­mit­tel­bran­che kein öffent­li­ches Auf­re­ger­the­ma sei. Er sehe dies aber durch­aus posi­tiv, so Brand­horst. „Es ist ein Qua­li­täts­nach­weis, dass nicht dar­über gespro­chen wird. Die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung in Deutsch­land ist gut“, so Brand­horst. In sei­nem Vor­trag beleuch­te­te der Mann aus dem Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um noch ein­mal die Ent­wick­lung der aktu­el­len Rah­men­be­din­gun­gen der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung. Vor allem den 2022 ver­öf­fent­lich­ten Son­der­be­richt des Bun­des­am­tes für Sozia­le Siche­rung (BAS) hob er her­vor als Auf­takt einer neu­en Reform­wel­le. Dass das Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­um in Form des Ver­sor­gungs­ge­set­zes II eine neue Initia­ti­ve in die Gesetz­ge­bung geben wird, bestä­tig­te Brand­horst in Hamm. Aller­dings: „Egal, was wir machen, wir wer­den es nie­man­den voll­kom­men recht machen!“, schob er über­zo­ge­nen For­de­run­gen direkt einen Rie­gel vor. Der Wunsch von Kos­ten­trä­gern, dass Aus­schrei­bun­gen bald wie­der zurück­keh­ren, erhielt einen Dämp­fer. „Ich glau­be nicht dar­an, dass es eine Wie­der­ein­füh­rung von Aus­schrei­bun­gen gibt“, sag­te Brand­horst. Er erwar­te viel­mehr inten­si­ve Dis­kus­sio­nen rund um die Fest­be­trä­ge. Außer­dem gibt es wohl Ideen, dass zukünf­tig Auf­fäl­lig­keits­stich­pro­ben vom Medi­zi­ni­schen Dienst durch­ge­führt wer­den sol­len. Brand­horst sieht in die­sem Fall aber die Kom­pe­tenz bei den Kos­ten­trä­gern, die teil­wei­se schon jetzt ver­nünf­tig die Ver­sor­gungs­qua­li­tät für ihre Ver­si­cher­ten überprüften.

In der anschlie­ßen­den Fra­ge­run­de schwenk­te die Gesprächs­run­de auch auf das The­ma Prä­qua­li­fi­zie­rungs­ver­fah­ren ein. Für die Hilfs­mit­tel­bran­che erwar­tet Brand­horst, dass das PQ-Ver­fah­ren eva­lu­iert wird. Dass die Apo­the­ken ein­sei­tig aus der PQ ent­las­sen wor­den sind, kom­men­tier­te der BMG-Refe­rent nicht.

„Wir ver­wal­ten uns tot“, lau­tet ein Fazit von Alf Reu­ter, BIV-Prä­si­dent. Der Mann an der Ver­bands­spit­ze der Ortopädietechniker:innen brach­te noch ein­mal eine Por­ti­on Pra­xis in die Gesprächs­run­den. In sei­nem Vor­trag ging er nicht nur auf die Evo­lu­ti­on der regu­la­to­ri­schen Rah­men­be­din­gun­gen der ver­gan­ge­nen Jah­re ein, son­dern schil­der­te die Kon­se­quen­zen die­ser Ent­schei­dun­gen für das Hier und Jetzt in der Versorgung.

Bei­spiel Kos­ten­vor­anschlag. „Ich ken­ne kei­nen Hand­wer­ker, der für sei­nen eige­nen Kos­ten­vor­schlag selbst zah­len muss“, so Reu­ter. Dies sei aber unum­gäng­lich, weil die Kran­ken­kas­sen für die Kos­ten­vor­anschlä­ge nicht eine genorm­te Schnitt­stel­le zu Ver­fü­gung stel­len, son­dern auf eine eige­ne Lösung bau­en. Bei fast 100 Kran­ken­kas­sen ist damit im nor­ma­len Ver­sor­gungs­all­tag kei­ne Chan­ce gege­ben, auf Sup­port aus Rei­hen der Soft­ware­fir­men und Abrech­nungs­ge­sell­schaf­ten zu verzichten.

Bei­spiel Fach­kräf­te­man­gel: Auf 100 unbe­setz­te Stel­len als Fach­kraft in der Ortho­pä­die-Tech­nik gibt es nur 12 geeig­ne­te Bewerber:innen. Selbst im Bereich der Pfle­ge, der in der öffent­li­chen Dis­kus­si­on deut­lich prä­sen­ter ist, sind die Chan­cen, eine geeig­ne­te Fach­kraft zu fin­den, bes­ser. Und was für Gesell:innen gilt, gilt noch mehr für Meister:innen. Für den Ver­sor­gungs­all­tag essen­zi­ell wich­tig, gibt es zu wenig Men­schen, die die­sen Abschluss haben und auch noch im Bereich der Ortho­pä­die-Tech­nik aus­üben. Des­we­gen dro­hen Ver­sor­gungs­lü­cken. Hin­zu kommt, dass ande­re Bran­chen im Bereich der Gesund­heits­hand­wer­ke aktiv auf Per­so­nal­su­che gehen. Alf Reu­ter muss am eige­nen Leib erfah­ren, wie zum Bei­spiel die Rüs­tungs­in­dus­trie die Fach­kräf­te mit hohen Gehäl­tern aus den Betrie­ben „wie ein Staub­sauger her­aus­saugt“. Es braucht des­halb neue Impul­se – auch von der Poli­tik –, um lang­fris­tig einer immer älter wer­den­den Gesell­schaft gerecht zu werden.

Bei­spiel Prä­qua­li­fi­zie­rung. Apotheker:innen und GKV-Spit­zen­ver­band haben sich dar­auf geei­nigt, wel­che Hilfs­mit­tel zukünf­tig als „apo­the­ken­üb­lich“ ohne Prä­qua­li­fi­zie­rung in der Apo­the­ke abge­ge­ben wer­den dür­fen. Auch für den Bereich der Hilfs­mit­tel­bran­che erwar­tet Reu­ter, dass die PQ noch ein­mal beleuch­tet wird. Sein Wunsch: „Weg von der Prä­qua­li­fi­zie­rung hin zu einer Zulas­sung unter PQ-Kriterien.“

Für vie­le Pro­blem­lö­sun­gen braucht es Ent­schei­dun­gen aus Ver­wal­tung und Poli­tik, die die Zukunft der Hilfs­mit­tel­bran­che gestal­ten. Alf Reu­ter äußert sich des­halb deut­lich: „Poli­tik soll die ver­läss­li­chen Leit­plan­ken schaf­fen und nicht auf dem Bei­fah­rer­sitz sit­zen und wäh­rend der Fahrt ins Lenk­rad greifen.“

Hei­ko Cordes

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