Einführung
Gonarthrose ist eine der häufigsten Gelenkserkrankungen und stellt ein schwerwiegendes Problem der öffentlichen Gesundheit dar 1 2. In der Regel ist in frühen Stadien der Gonarthrose nicht das komplette Kniegelenk degeneriert. Insbesondere bei Varusfehlstellungen ist hauptsächlich das mediale Kompartiment betroffen und symptomatisch 3 4. In diesen Fällen stellt die Entlastung des betroffenen Kompartiments eine anerkannte und erfolgversprechende Behandlungsoption zur Linderung der Symptome dar 5 6 7. Diese kann nichtinvasiv mittels Orthesen zur Korrektur der Fehlstellung erzielt werden 8 9 10. Ein Dreipunkt-Kraftsystem mit regulierbarem konstantem Abduktionsmoment (Valgusmoment) wird unmittelbar am Knie angebracht und führt zu einer leichten, aber messbaren einseitigen Trennung des femorotibialen Gelenkspalts und nachfolgender Schmerzreduktion im betroffenen Kompartiment 11 12.
Unter sämtlichen chirurgischen Optionen stellt eine valgisierende hohe tibiale Osteotomie (HTO) die anerkannteste Option zur Entlastung des medialen Kompartiments durch mechanische Verlagerung der gewichttragenden Achse zum asymptomatischen Kompartiment dar und erzielt gute bis ausgezeichnete Resultate in mittel- bis langfristigen Studien 13 14 15 16 17 18 19.
Die International Society of Arthroscopy, Knee Surgery and Orthopaedic Sports Medicine (Internationale Gesellschaft für Arthroskopie, Kniechirurgie und Sportorthopädie) hat im Jahr 2004 Kriterien für den idealen Patienten für eine HTO formuliert 20. Im Detail sind diese Patienten aktiv, zwischen 40 und 60 Jahre alt und haben einen Body-Mass-Index (BMI) von unter 30 kg/m² sowie isolierte Schmerzen im medialen Gelenkspalt 21. Manchmal sind jedoch nicht alle diese Kriterien erfüllt, oder die Patienten weisen noch weitere klinische Befunde auf, wie zum Beispiel Druckschmerzhaftigkeit oder leichte Knorpeldefekte im nicht betroffenen Kompartiment. Bei diesen Kombinationen können sich begründete Zweifel ergeben hinsichtlich der Indikationsstellung und sofortigen Durchführung einer Osteotomie. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass der Patient, selbst wenn die Indikation für eine Osteotomie aus Sicht des Arztes eindeutig ist, aufgrund der Invasivität des Eingriffs noch skeptisch ist.
Daher lautete die Hypothese dieser Studie, dass eine Entlastung des medialen Kompartiments bei Patienten mit symptomatischer Varusfehlstellung zu einer signifikanten Reduktion der Knieschmerzen führt und entweder durch Einsatz einer valgisierenden Knieorthese oder Durchführung einer valgisierenden HTO mit vergleichbaren Resultaten erzielt werden kann. Das Ziel war herauszufinden, ob der postoperative Schmerzstatus nach valgisierender HTO durch präoperativen vorübergehenden Einsatz einer Knieentlastungsorthese zuverlässig prognostiziert werden kann, um einen Test (Brace-Test) zur Identifizierung von geeigneten Patienten oder zur Verifizierung der Indikation zu entwickeln.
Materialien und Methodik
Von 2008 bis 2011 wurden 57 Patienten mit symptomatischer Varusfehlstellung in die Prospektivstudie aufgenommen. Einschlusskriterien waren eine femorotibiale Varusdeformität (> 2° in Ganzbein-Belastungsröntgenaufnahmen) in Verbindung mit hochgradigen chondralen Läsionen im betroffenen Kompartiment von Grad III/IV nach dem Outerbridge-Klassifikationssystem im MRT sowie im Röntgenbild erkennbare mediale Gonarthrose von mindestens Grad I gemäß der Röntgenklassifikation nach Kellgren und Lawrence 22 23. Die ursprüngliche Outerbridge-Klassifikation basierte nicht auf MRT-Aufnahmen, ihre Anwendung in Verbindung mit MRT-Aufnahmen ist jedoch weitgehend anerkannt durch die „orthopädische Gemeinschaft” 24 25. All diese Patienten waren Non-Responder auf die konservative Therapie (Analgetikatherapie, Physiotherapie und Gewichtsreduktion) im entsprechenden Kompartiment. Sie wollten sich nicht für eine Umstellungsosteotomie entscheiden oder waren während der Konsultation skeptisch gegenüber einem zu erwartenden schmerzlindernden Entlastungseffekt oder sie wiesen eine Druckschmerzhaftigkeit im asymptomatischen Kompartiment bzw. kleinere oberflächliche Knorpeldefekte im asymptomatischen kontralateralen Kompartiment auf 26.
Ausschlusskriterien waren im MRT ersichtliche hochgradige chondrale Läsionen im lateralen Kompartiment (> 3 nach Outerbridge), eine Insuffizienz des vorderen oder hinteren Kreuzbandes, Hautläsionen im Kniebereich oder eine vorausgegangene valgisierende Orthesenbehandlung oder eine Beugekontraktur von > 25°.
Das Durchschnittsalter betrug 49,9 Jahre [Bereich 25–73; Standardabweichung (SD) 9,1], und der durchschnittliche BMI betrug 27,0 kg/m² (Bereich 20–37; SD 3,6). Vier Patienten waren jünger als 40 Jahre, und sechs Patienten waren älter als 60 Jahre. Insgesamt waren 19 Patienten (33,3 %) weiblich und 38 (66,6 %) männlich, wobei bei 23 Patienten (40,4 %) das rechte und bei 34 Patienten (59,6 %) das linke Knie betroffen war.
Klinische und radiologische Untersuchung
Alle Patienten wurden bezüglich vorangegangener Knieoperationen sowie aktueller Knieschmerzintensität und ‑lokalisation (medial/lateral) bei alltäglichen Aktivitäten anamnestiziert. Die Quantifizierung der Schmerzintensität im symptomatischen Kompartiment erfolgte anhand der visuellen Analogskala (VAS) 27. Eine standardisierte klinische Untersuchung des Knies erfolgte durch einen Assistenzarzt, unter der Aufsicht eines auf Knieoperationen spezialisierten orthopädischen Chirurgen (P. U. B., A. B. I., S. H.). Zusätzlich zu den klinischen Befunden im symptomatischen Kompartiment wurde weiter eine Druckschmerzhaftigkeit im asymptomatischen Kompartiment untersucht und dokumentiert. Insgesamt wiesen 14 Patienten (24,6 %) eine Druckschmerzhaftigkeit im asymptomatischen Kompartiment auf. Darüber hinaus zeigten sich bei der Erstuntersuchung 47 Patienten (82,5 %) skeptisch gegenüber einer valgisierenden HTO.
Die Beinachsenabweichung wurde anhand einer Ganzbein-Belastungsröntgenaufnahme gemessen, und der Grad der Gelenkdegeneration wurde anhand der Skala nach Kellgren und Lawrence anhand von Röntgenaufnahmen (anterior-posterior, lateral und patella-axial) klassifiziert 28.
Die Knorpelläsionen des symptomatischen Knies wurden anhand von MRT-Aufnahmen gemäß der Outerbridge-Klassifizierung eingestuft 29. Die Daten bezüglich der Varusfehlstellung sowie die Gradeinstufung der osteoarthritischen Läsionen und Knorpelläsionen sind in Tabelle 1 aufgelistet. Darüber hinaus wurden kleine chondrale Läsionen im asymptomatischen Kompartiment bei 30 Knien (52,6 %) festgestellt (Grad I/II n = 26; Grad III n = 2; kleine osteochondrale Läsionen n = 2).
Insgesamt wurde in allen Fällen eine valgisierende HTO zur Entlastung des symptomatischen medialen Kompartiments als adäquate therapeutische Option gewertet.
Brace-Test
Eine valgisierende Kraft ausübende Knieorthese (M4 OATM Varus; Medi® GmbH, Bayreuth) wurde für die Dauer von 6 bis 8 Wochen zum permanenten täglichen Einsatz (vom morgendlichen Aufstehen bis zum abendlichen Zubettgehen) einschließlich Vollbelastung bereitgestellt zur Simulation der Auswirkungen einer Umstellungsosteotomie. Bereits zuvor konnten innerhalb dieses Zeitraums positive Auswirkungen der Orthese festgestellt werden 30. Das ausgeübte Valgusmoment war abhängig von der Toleranz des einzelnen Patienten. Ein Orthopädie-Techniker nahm die Ersteinstellung vor, und die Patienten wurden angewiesen, die Orthese während des Behandlungszeitraums nachzujustieren. Der VAS-Wert wurde nachfolgend erneut bewertet, und die Patienten wurden einer erneuten Untersuchung unterzogen mit besonderem Schwerpunkt auf der Schmerzreduktion im symptomatischen medialen Kompartiment sowie neu aufgetretenen Symptomen im zuvor asymptomatischen lateralen Kompartiment bei Aktivitäten des täglichen Lebens. Des Weiteren wurde dokumentiert, ob das Tragen der Orthese unangenehm war.
Der Brace-Test wurde als „positiv” gewertet bei Schmerzreduktion medial und fehlenden neu aufgetretenen Schmerzen lateral. In diesen Fällen wurde der positive Entlastungseffekt bestätigt und eine Osteotomie als erfolgversprechende chirurgische Behandlungsoption im Hinblick auf die postoperative Gesamtschmerzreduktion gewertet.
Der Brace-Test wurde „negativ” bewertet bei unzureichender Schmerzreduktion oder neu aufgetretenen Symptomen im zuvor asymptomatischen lateralen Kompartiment. In diesen Fällen wurde eine Entlastung des Kompartiments durch eine Osteotomie nicht empfohlen, und es wurden andere chirurgische Optionen vorgeschlagen (Knieteilprothese oder Knietotalendoprothese).
Bei nachfolgend durchgeführter valgisierender HTO nach positivem Brace-Test erfolgte ein Jahr postoperativ eine erneute Kontrolluntersuchung der Patienten. Der postoperative VAS-Wert zu diesem Zeitpunkt wurde mit dem Ergebnis des Brace-Tests verglichen.
Operationsverfahren
In Rückenlage wurde der Knorpelstatus im patellofemoralen und medialen und lateralen femorotibialen Kompartiment arthroskopisch beurteilt. Das Korrekturziel wurde in Abhängigkeit von der Differenz des Chondromalazie-Gradings zwischen dem medialen und lateralen Kompartiment nach Müller und Strecker bestimmt, und eine valgisierende HTO in öffnender Technik („open-wedge”) wurde in der zuvor von Hinterwimmer et al. beschriebenen Technik durchgeführt 31 32. Die Osteotomie wurde unter Erhalt einer lateralen Knochenbrücke langsam aufgespreizt und das Korrekturergebnis mit einem internen winkelstabilen Plattenfixateur fixiert (TomofixTM, DePuy-Synthes®, Solothurn, Schweiz oder Peek Power PlateTM, Arthrex®, Naples, Florida).
Die Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität München hat die Studie unter ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten zustimmend bewertet (IRB Nr. 5562/12). Alle Patienten haben der Teilnahme an der Studie zugestimmt.
Statistische Analyse
Die Software „Statistical Package for Social Sciences” (SPSS, Version 20, SPSS Inc., Chicago, IL, USA) wurde zur Analyse verwendet. Für kategoriale Daten werden absolute und relative Häufigkeiten gezeigt. Für quantitative Daten werden Mittelwerte, Minima, Maxima und Standardabweichungen dargestellt. Zum Vergleich der VAS-Werte (vor und nach dem Brace-Test; nach dem Brace-Test und 1 Jahr postoperativ nach valgisierender HTO) wurde der T‑Test für abhängige Stichproben verwendet.
Der Brace-Test wurde als prognostizierbar für das Endergebnis definiert, wenn der VAS-Wert ein Jahr postoperativ nach valgisierender HTO nicht um einen Punkt schlechter war, verglichen mit dem VAS-Wert nach dem Brace-Test (Abb. 1a u. b).
Die Anzahl und der Prozentsatz der Patienten mit prognostizierbarem Brace-Test werden dargelegt. Ein exaktes Konfidenzintervall (CI) von 95 % wurde für den Prozentsatz an prognostizierbaren Brace-Tests verwendet.
Zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Ausmaß der Varusfehlstellung, dem BMI, dem Alter und der Reduktion des VAS-Wertes nach dem Brace-Test wurde der Pearson-Korrelationskoeffizient berechnet.
Alle statistischen Tests wurden zweiseitig durchgeführt, und ein P‑Wert von unter 0,05 wurde als Hinweis für eine statistische Signifikanz gewertet.
Ergebnisse
Sämtliche Patienten der Studienpopulation wiesen Schmerzen im betroffenen Kompartiment bei Aktivitäten des täglichen Lebens auf mit einem durchschnittlichen VAS-Wert von 6,7 (Intervall 3–10; SD 1,6). Nach dem Brace-Test sank der durchschnittliche VAS-Wert signifikant (p < 0,001) auf 2,5 (Intervall 0–7; SD 1,7; siehe Abb. 1a) mit Schmerzreduktion im medialen Kompartiment bei 53 Patienten (93,0 %). Fünf dieser 53 Patienten (9,4 %) entwickelten weitere Symptome im lateralen Kompartiment bei Aktivitäten des täglichen Lebens. Vier der 57 Patienten (7,0 %) waren Non-Responder auf den Brace-Test. Diese Patienten wiesen keine Schmerzreduktion im betroffenen Kompartiment auf, und einer von ihnen entwickelte zusätzliche Schmerzen im zuvor asymptomatischen lateralen Kompartiment (Abb. 2). Alle Patienten schlossen die vorübergehende Orthesenbehandlung ab, 31 Patienten (54,4 %) gaben jedoch an, dass das Tragen der Orthese unpraktisch war, und klagten über Beschwerden aufgrund der Ausübung der valgisierenden Kraft, wobei es in einigen Fällen zu Hautirritationen kam.
Eine valgisierende medial öffnende HTO wurde bei 29 von 48 Patienten (60,4 %) mit „positivem” Brace-Test durchgeführt. Das Ausmaß der Korrektur wurde basierend auf den von Müller und Strecker veröffentlichten Empfehlungen 33 ermittelt, und als Korrekturziel wurden bei einem Patienten 50 % des medio-lateralen Tibiaplateaus, bei 17 55 %, bei einem 58 % und bei zehn 62 % anvisiert, in Abhängigkeit von der Differenz des Chondromalazie-Gradings zwischen dem zu entlastenden Kompartiment (medial) und dem zu belastenden Kompartiment (lateral), die vor der Osteotomie arthroskopisch festgestellt worden war.
Ein Jahr postoperativ lag der durchschnittliche VAS-Wert bei diesen Patienten bei 1,9 (Intervall 0–8; SD 1,7; siehe Abb. 1b). Bei keinem der Patienten traten Schmerzen im lateralen Kompartiment auf. Es lag keine statistische Differenz zwischen dem VAS-Wert nach dem Brace-Test und dem postoperativen Ergebnis nach valgisierender HTO vor (n. s.). Im Detail war der VAS-Wert postoperativ bei zehn Patienten gleich dem Ergebnis des Brace-Tests (34,5 %), bei 13 Patienten besser (44,8 %) und bei drei Patienten um mehr als einen Punkt schlechter (10,3 %). Gemäß unserer Definition war der Brace-Test geeignet, das Endergebnis bei 26 von 29 Patienten (89,6 %) zu prognostizieren (95 % CI 72,6–97,8 %). Der VAS-Wert stieg bei einem Patienten von 1 auf 3, in einem Fall von 2 auf 4 und bei einem Patienten von 2 auf 8.
Es gab statistisch keine signifikante Korrelation zwischen dem Ausmaß der Varusfehlstellung (n. s.), dem BMI (n. s.), dem Alter (n. s.) und der Reduktion des VAS-Wertes nach dem Brace-Test.
Insgesamt entschieden sich 19 Patienten (39,6 %) mit positivem Brace-Test für eine konservative Therapie und verweigerten eine Operation aufgrund ihrer beruflichen Aktivität oder privater Umstände. Elf von ihnen setzten die Orthesenbehandlung zunächst fort. Sechs von ihnen brachen diese Behandlung innerhalb eines Jahres aufgrund von Umständlichkeit, Unbequemlichkeit, schlechter Passgenauigkeit, Hautläsionen oder Forderungen seitens ihrer Krankenversicherung ab. Fünf Patienten trugen die Orthese weiterhin bei zu erwartender körperlicher Belastung.
Ohne das Hilfsmittel wiesen 3 der 19 Patienten mit Läsionen im medialen Kompartiment von Grad IV (n = 2)/Grad III (n = 1) ohne jegliche chondrale Läsionen im lateralen Kompartiment (n = 3), die sich trotz positivem Brace-Test für eine konservative Therapie entschieden hatten, nach einem Jahr keine Verschlechterung auf und konnten das Testergebnis aufrechterhalten.
Bei drei Patienten mit Defekten von Grad IV im medialen Kompartiment (n = 3), Defekten von Grad 0 (n = 1)/ Grad 2 (n = 1)/Grad 3 (n = 1) im lateralen Kompartiment und Läsionen von Grad 0 (n = 1)/Grad 2 (n = 1)/Grad 3 (n = 1) im patellofemoralen Kompartiment von neun Personen mit negativem Brace-Test wurde eine Knietotalendoprothese implantiert (siehe Abb. 2).
Diskussion
Das Hauptergebnis der Studie ist, dass eine Entlastung des medialen Kompartiments bei symptomatischer Varusfehlstellung zu einer signifikanten Schmerzreduktion im betroffenen Kompartiment führt. Diese Entlastung kann entweder nichtinvasiv durch Tragen einer die Fehlstellung korrigierenden Orthese oder invasiv durch eine valgisierende HTO erzielt werden, wobei es keinen signifikanten Unterschied zwischen diesen beiden Behandlungsalternativen gibt.
Es stehen verschiedene konservative und chirurgische Behandlungsoptionen zur Linderung der Symptome durch Reduktion der unphysiologischen Belastung des Gelenks aufgrund einer Fehlstellung zur Verfügung 34. In dieser Studie wurde eine valgisierende HTO als adäquate chirurgische Option gewertet. Alle Patienten litten an einer symptomatischen unikompartimentellen Gonarthrose aufgrund einer Varusfehlstellung, die auf eine valgisierende HTO gut anspricht 35 36 37. Aus Sicht des Patienten waren jedoch 82,5 % der in die Studie aufgenommenen Patienten zunächst skeptisch angesichts der Invasivität einer Osteotomie. Darüber hinaus wurden positive klinische Befunde und leichte chondrale Veränderungen im MRT bei 24,6 % der Patienten beziehungsweise bei 52,6 % der Patienten im kontralateralen Kompartiment festgestellt, was dazu führen kann, dass der orthopädische Chirurg bei der Indikationsstellung für eine Umstellungsosteotomie zurückhaltend ist. Aufgrund der unvorhersagbaren Auswirkung einer Umstellungsosteotomie selbst bei asymptomatischen strukturellen Veränderungen im kontralateralen Kompartiment wäre eine nichtinvasive Simulation zum Testen der Auswirkungen einer Umstellungsosteotomie auf diese Veränderungen sowohl für den Patienten als auch für den orthopädischen Chirurgen von Vorteil.
Das Ziel dieser prospektiven deskriptiven Fallserie bestand daher darin, den vorhersagenden Wert des Tragens einer valgisierenden Knieorthese auf die Auswirkung einer Schmerzreduktion nach einer valgisierenden Osteotomie zu bestimmen. Dieser Versuch wurde gestartet zum Nachweis, ob der – zumindest vorübergehende – Nutzen einer Orthese zur Korrektur der Fehlstellung im Vergleich zu dem postoperativen Ergebnis einer Umstellungsosteotomie zu ähnlichen klinischen Resultaten führen würde. Wir untersuchten eine vorbereitende konservative therapeutische Behandlungsoption zur möglichst realitätsnahen Simulation einer operativen Fehlstellungskorrektur, um ein Instrument zur Prognose der zu erwartenden Schmerzreduktion und zur Auswahl der geeigneten Patienten zu schaffen.
Insgesamt wiesen die Ergebnisse unserer Studie bei 93 % der Patienten eine signifikante Schmerzreduktion im betroffenen Kompartiment nach 6- bis 8‑wöchigem Tragen einer valgisierenden Knieorthese nach. Bei vier Patienten, die als Non-Responder eingestuft wurden, führte die Entlastung des symptomatischen Kompartiments mittels einer Orthese zu keiner Linderung der Symptome aufgrund eines verbleibenden symptomatischen Meniskusrisses, angrenzender chondraler Läsionen Grad IV der medialen Trochleagrube, Osteonekrose des medialen Kompartiments sowie einer Varusfehlstellung > 6°. Im letztgenannten Fall könnte die Feststellung, dass Patienten mit einer geringfügigeren Fehlstellung tendenziell bessere klinische Resultate im Hinblick auf den VAS-Wert nach dem Brace-Test aufwiesen, der Grund für diesen Misserfolg sein. Diese Feststellung war allerdings statistisch nicht signifikant.
Die Entlastungsorthese führte bei 84,2 % der Patienten zu einer Schmerzreduktion im symptomatischen Kompartiment, ohne neue Symptome im lateralen Kompartiment zu verursachen. Dies wurde als positives Testergebnis gewertet. Bei diesen Patienten wurde eine valgisierende HTO als adäquate chirurgische Option angesehen. Nachfolgend wurden 60,4 % dieser Patienten operiert. Alle Patienten zeigten ein Jahr postoperativ einen positiven Effekt mit signifikanter Schmerzreduktion im medialen Kompartiment ohne neu aufgetretene Symptome im lateralen Kompartiment. Es gab keinen signifikanten Unterschied beim VAS-Wert nach der Orthesenbehandlung und der Osteotomie. Dieses Ergebnis ist vermutlich auf den Entlastungseffekt im betroffenen Kompartiment zurückzuführen, der entweder durch eine Osteotomie oder durch eine Entlastungsorthese erzielt werden kann. Unsere Ergebnisse zeigen, dass ein positiver Brace-Test zweckdienlich sein kann zur Auswahl von Patienten, die für eine Osteotomie bei kritischen oder grenzwertigen Indikationen in Frage kommen, sowie zur Prognose der postoperativen Schmerzreduktion. Bei drei Patienten war der postoperative VAS-Wert im Vergleich zu dem Ergebnis des Brace-Tests um einen Punkt schlechter. Nur in einem Fall gab es jedoch eine Differenz um mehr als zwei Punkte. Dieser Patient litt an erheblichen Irritationen aufgrund des medial liegenden Plattenimplantats, was der ursächliche Faktor sein könnte.
Obwohl 54,4 % der Patienten den Brace-Test als „unbequem” bezeichneten, setzten 22,9 % der Patienten mit positivem Brace-Test zunächst die Behandlung fort. Die Compliance aufgrund der Vorrichtung nahm allerdings innerhalb eines Jahres ab. Insgesamt 10,4 % der Patienten mit einem positiven Effekt trugen die Vorrichtung nach einem Jahr weiterhin zeitweise. Ein dauerhaft positiver Effekt ohne die Orthese zeigte sich in unserer Studie nur selten (n = 3). Dies wurde entweder durch die Verwendung von keilförmigen Einlagen (n = 1) oder durch die Reduktion der Krafteinwirkung durch Vermeidung von physischer Belastung in Verbindung mit sportlichen Aktivitäten (n = 1) oder durch eine markante Gewichtsreduktion (n = 1) erzielt. Diese Resultate zeigen, dass die Entlastung des symptomatischen Kompartiments für die Erhaltung eines dauerhaften Nutzens entscheidend ist.
Obgleich Krohn et al. eine positive Auswirkung durch die Verwendung von Fußorthesen schlussfolgerten, konnten mehrere randomisierte kontrollierte Studien keinen Nachweis für eine dauerhafte Besserung bei Verwendung von lateralen Fersenkeil-Schuheinlagen bei Gonarthrose im medialen Kompartiment erbringen 38 39 40 41. Bessere klinische Resultate sowie eine Reduktion des Varusmoments wurden bei Verwendung von Knie-Entlastungsorthesen erzielt 42 43 44. Haladik et al. 45 berichteten über einen signifikant verbesserten WOMAC-Wert ohne vergrößerten Gelenkspalt bei zehn Patienten, die mit einer Entlastungsorthese behandelt wurden. Pollo et al. 46 zeigten eine Reduktion des Knievarusmoments von durchschnittlich 13 % sowie der Belastung des medialen Kompartiments von durchschnittlich 11 %, was verbunden war mit verminderten Schmerzen und gesteigertem Aktivitätsniveau. Komistek et al. 47 maßen mittels eines fluoroskopischen digitalen Röntgengerätes eine Veränderung der Gelenkspaltbreite um 1,2 mm bei Patienten, die mit einer Entlastungsorthese behandelt wurden. Dennis et al. 48 zeigten mittels Videofluoroskopie eine Kondylenseparation an den degenerierten Kompartimenten während des Gehens, wodurch die klinische Wirksamkeit einer valgisierenden Orthese aufgrund der Veränderung der Ausrichtung nachgewiesen wurde. Dagegen ergab eine randomisierte klinische Studie von Brouwer et al. 49 nach zwölf Monaten lediglich einen geringfügigen Unterschied im Hinblick auf die Schmerzreduktion zwischen Patienten, die mit einer Orthese behandelt wurden, und denjenigen, die keine Orthese trugen, mit grenzwertiger Signifikanz. Die Non-Compliance aufgrund von Unbequemlichkeit, Unhandlichkeit und Lästigkeit war bei dieser Studie hoch. Tatsächlich schlossen nur 58,3 % der Patienten die zwölfmonatige Orthesenbehandlung ab 50. In unserer Studie schlossen alle Patienten den Brace-Test innerhalb des empfohlenen Zeitraums ab, beschrieben die Orthesenbehandlung jedoch häufig als unbequem und unpraktisch.
Der Zweck dieser Studie bestand darin, die Auswirkungen auf die Schmerzreduktion oder ‑transformation nach Entlastung des Knies mittels einer Orthese für die Dauer von 6 bis 8 Wochen zu untersuchen, um die klinische Auswirkung einer valgisierenden HTO prognostizieren zu können, insbesondere bei skeptischen Patienten oder bei kritischen und grenzwertigen Indikationen. Obwohl wir anhand unserer Daten eine hohe Vorhersagbarkeit feststellen konnten, sind weitere Untersuchungen erforderlich, um nach einer längeren Nachbeobachtungszeit sicherzustellen, dass eine Korrelation zwischen den Resultaten beider Behandlungsformen besteht.
Diese Studie unterliegt einigen Einschränkungen. Es gibt keine Kontrollgruppe, die eine standardmäßige, nicht entlastende Knie-Scharnierorthese erhielt. Aus diesem Grund kann ein potenzieller Placebo-Effekt der Entlastungsorthese nicht vollkommen ausgeschlossen werden. Allerdings hatten frühere Studien eine mediale Kondylenseparation, eine verminderte Belastung des medialen Kompartiments und der Knieadduktionsmomente sowie bessere klinische Resultate mit einer Entlastungsorthese aufgezeigt 51 52 53 54 55. Ferner lag eine Verzerrung aufgrund der Patientenselektion vor, da eine signifikante Anzahl der Patienten mit positivem Brace-Test sich nachfolgend keiner Umstellungsosteotomie unterzog. Außerdem können wir aufgrund von ethischen Gesichtspunkten keine Aussagen darüber treffen, welche Resultate Patienten mit negativem Brace-Test nach einer sekundären Osteotomie erzielen würden.
Der Brace-Test bietet jedoch sowohl dem Patienten als auch dem orthopädischen Chirurgen detailliertere präoperative Informationen hinsichtlich des Faktors Fehlstellung und dem damit verbundenen Schmerzniveau und stellt eine hilfreiche Option zum Testen des zu erwartenden Entlastungseffekts nach einer Osteotomie dar. Der Test kann im Klinikalltag zur Auswahl von geeigneten Patienten für eine valgisierende HTO eingesetzt werden.
Schlussfolgerung
Diese Studie zeigt, dass sich durch vorübergehenden Einsatz einer valgisierenden Knieentlastungsorthese durchaus das zukünftige Resultat einer HTO-Operation im Hinblick auf die zu erwartende postoperative Schmerzreduktion prognostizieren lässt. Dadurch erhält sowohl der Patient als auch der orthopädische Chirurg präoperativ detailliertere Informationen, insbesondere bei kritischen oder grenzwertigen Indikationen.
Für die Autoren:
Dr. med. Philipp Minzlaff
Abteilung für Sportorthopädie –
Knie- und Schulterchirurgie
Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik
Friedberger Landstraße 430
60389 Frankfurt am Main
PhilippMinzlaff@gmx.de
Der Nachdruck des Artikels erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Springer Science+Business Media. Zuerst erschienen in englischer Sprache in: Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc, 17 January 2014, DOI 10.1007/s00167-013‑2832‑1, Valgus bracing in symptomatic varus malalignment for testing the expectable „unloading effect” following valgus high tibial osteotomy, Philipp Minzlaff et al., 2 Abb.
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