Ukrai­ni­sche Fach­kräf­te schät­zen „Ger­man Gründlichkeit“

Seit November 2023 werden an fünf BG-Kliniken sowie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) Ärzt:innen und Therapeut:innen aus der Ukraine fortgebildet.

Im Gespräch mit der OT-Redak­ti­on berich­tet Dr. med. Sebas­ti­an Ben­ner, Sek­ti­ons­lei­ter Tech­ni­sche Ortho­pä­die, Lei­ten­der Ober­arzt BG Ser­vice- und Reha­bi­li­ta­ti­ons­zen­trum sowie Fach­arzt für Ortho­pä­die und Unfall­chir­ur­gie an der BG Unfall­kli­nik Frank­furt am Main, inwie­fern die ukrai­ni­schen Fach­kräf­te von der Hos­pi­ta­ti­on pro­fi­tie­ren und wel­chen Nut­zen die deut­schen Kolleg:innen im Gegen­zug haben. Über das Auro­ra-Pro­jekt infor­miert Ben­ner im OTWorld-Kon­gress inner­halb des Sym­po­si­ums „Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung im Kri­sen­ge­biet: Was sind die Her­aus­for­de­run­gen?“ am Don­ners­tag, 16. Mai.

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OT: Zehn­tau­sen­de Soldat:innen und Zivilist:innen wur­den seit Beginn des Angriffs­kriegs Russ­lands auf die Ukrai­ne ver­letzt. Es liegt auf der Hand, dass der Bedarf an Ver­sor­gun­gen seit­dem enorm steigt. Inwie­fern soll das Auro­ra-Pro­jekt hier unterstützen?

Sebas­ti­an Ben­ner: Der Bedarf akut­chir­ur­gi­scher Ver­sor­gun­gen ist immens, wobei vor allem die lang­wie­ri­gen Ver­läu­fe nach Schuss­wun­den oder Explo­sio­nen mit aus­ge­dehn­ten Ver­let­zun­gen der Extre­mi­tä­ten sowie Weich­teil- und Kno­chen­in­fek­ten eine Her­aus­for­de­rung dar­stel­len. Oft­mals ist ein Erhal­ten der Extre­mi­tä­ten nicht mög­lich und eine Ampu­ta­ti­on mit ent­spre­chen­der Pro­the­sen­ver­sor­gung unumgänglich.
Das Auro­ra-Pro­jekt zielt auf die Schu­lung und den Aus­tausch zwi­schen dem ukrai­ni­schen und deut­schen medi­zi­ni­schen Per­so­nal ab. Dabei hos­pi­tie­ren seit Novem­ber 2023 ins­ge­samt 72 Ärz­te und The­ra­peu­ten in Klein­grup­pen für den Zeit­raum eines Monats in ins­ge­samt fünf BG-Kli­ni­ken und der Medi­zi­ni­schen Hoch­schu­le Han­no­ver. Durch die hohe Exper­ti­se und die Mul­ti­dis­zi­pli­na­ri­tät der Berufs­ge­nos­sen­schaft­li­chen Unfall­kli­ni­ken gelingt es, einen guten Über­blick in den Berei­chen Trau­ma­chir­ur­gie, Sep­ti­sche- und Hand-/Plas­ti­sche Chir­ur­gie, aber auch der Fuß‑, Sport- und Wir­bel­säu­len­chir­ur­gie zu ver­mit­teln. Einen gro­ßen Stel­len­wert nimmt aber vor allem die Reha­bi­li­ta­ti­on und Pro­the­sen­ver­sor­gung von Ampu­tier­ten ein. Dabei rotie­ren die Hos­pi­tan­ten durch die sta­tio­nä­re und ambu­lan­te Reha­bi­li­ta­ti­ons­ab­tei­lung der BG-Kli­ni­ken sowie die Sek­ti­on für Tech­ni­sche Ortho­pä­die und die an die Kli­nik ange­glie­der­te Orthopädiewerkstatt.

OT: In wel­chen Berei­chen bestehen Wis­sens­lü­cken bei den Fachkräften?

Ben­ner: Wir sehen uns als gleich­ge­stellt und auf einer Ebe­ne, wes­halb ich nicht von Wis­sens­lü­cken spre­chen wür­de. Den­noch pro­fi­tie­ren gera­de die „jün­ge­ren“ Chir­ur­gen davon, kom­ple­xe Ope­ra­tio­nen mit­zu­be­glei­ten, ohne den Druck einer Kriegs­si­tua­ti­on zu ver­spü­ren. Ich erin­ne­re mich aber auch an die Rück­mel­dung eines älte­ren und erfah­re­nen Unfall­chir­ur­gen aus der Ukrai­ne, wel­cher die „Ger­man Gründ­lich­keit“ her­vor­hob und für sich den Vor­teil dar­in sah, klei­ne­re, aber hilf­rei­che Unter­schie­de in ein­zel­nen Ope­ra­ti­ons­schrit­ten aus Deutsch­land ken­nen­ge­lernt zu haben. Auch struk­tu­rel­le Abläu­fe unse­res Kran­ken­hau­ses sind von gro­ßem Interesse.

OT: Wie ver­sucht „Auro­ra“ die­se Lücken zu schließen?

Ben­ner: Wir geben unse­ren Gäs­ten die Mög­lich­keit, ihre vier­wö­chi­ge Hos­pi­ta­ti­on so indi­vi­du­ell zu gestal­ten, wie sie es wün­schen. Aus die­sem Grund wird meist tages­ak­tu­ell ent­schie­den, in wel­cher Fach­ab­tei­lung sie hos­pi­tie­ren möch­ten, um der für sie inter­es­san­tes­ten Ope­ra­ti­on oder The­ra­pie bei­zu­woh­nen. Genau­so wich­tig ist aber auch, dass Zeit zum „Durch­at­men“ bleibt und zum Bei­spiel das Wochen­en­de für einen Kurz­trip inner­halb Deutsch­lands genutzt wird.

OT: Essen­zi­ell sind nach einer Ampu­ta­ti­on und ande­ren kriegs­be­ding­ten ope­ra­ti­ven Ein­grif­fen die ortho­pä­die­tech­ni­sche Ver­sor­gung und Reha­bi­li­ta­ti­on. Inwie­fern unter­schei­den sich die Struk­tu­ren bezüg­lich der Ver­sor­gung und die Beglei­tung der Patient:innen in der Ukrai­ne von der in Deutschland? 

Ben­ner: Ein sicher gro­ßer Unter­schied liegt dar­in, dass der Beruf des ukrai­ni­schen „Pro­the­sis­ten“ in sei­ner Wer­tig­keit nicht mit dem Aus­bil­dungs­be­ruf des deut­schen Ortho­pä­die­tech­ni­kers zu ver­glei­chen ist. Hin­zu kommt die Pro­ble­ma­tik, dass bei rasant gestie­ge­nem Bedarf nicht genü­gend Fach­per­so­nal zur Pro­the­sen­ver­sor­gung zur Ver­fü­gung steht. Auch ein flä­chen­de­cken­des Netz­werk an Ortho­pä­die­tech­ni­kern, wie wir es in Deutsch­land ken­nen, gab und gibt es in der Ukrai­ne bis­her nicht. Die Reha­bi­li­ta­ti­on nach Ampu­ta­ti­on mit täg­li­cher Pro­the­sen­geh­schu­le, wie wir dies vor allem aus der Welt der Arbeits­un­fäl­le in BG-Kli­ni­ken ken­nen, war bis­her in der Ukrai­ne eben­falls nicht existent.

OT: Das bes­te Wis­sen nützt wenig, wenn die not­wen­di­gen Gege­ben­hei­ten und Res­sour­cen nicht zur Ver­fü­gung ste­hen. Kann das, was in Deutsch­land gelernt wird, den­noch auf die Arbeits­ab­läu­fe in der Ukrai­ne über­tra­gen werden?

Ben­ner: Gera­de was die Akut­ver­sor­gung mit spe­zi­el­len Ope­ra­ti­ons­tech­ni­ken und Behand­lungs­al­go­rith­men angeht, fin­det trotz Res­sour­cen­knapp­heit ein guter Lern­prozess statt, der sich sicher posi­tiv auf die Abläu­fe in der Ukra­ine aus­wirkt. Hier­bei fällt immer wie­der auf, dass ein gro­ßes Inter­es­se auch an orga­ni­sa­to­ri­schen Abläu­fen in einer gro­ßen Kli­nik wie der BGU besteht. Da zum Bei­spiel die Reha­bi­li­ta­ti­on erst in jüngs­ter Ver­gan­gen­heit einen grö­ße­ren Stel­len­wert in der Ukrai­ne erlangt hat und der Berufs­zweig des Reha­bi­li­ta­ti­ons­arz­tes bis­her noch nicht exis­tier­te, ist das dies­be­züg­li­che Know-how aus einer BG-Kli­nik ­essen­zi­ell für den Wis­sens­trans­fer in die Ukraine.

OT: Am Abrei­se­tag haben die Fach­kräf­te nicht nur ihren Kof­fer im Gepäck. Was hof­fen Sie, kön­nen die Teilnehmer:innen mit zurück in die Ukrai­ne nehmen?

Ben­ner: Wich­tig ist mir vor allem, dass unse­re Gäs­te eine lehr­rei­che und mög­lichst unbe­schwer­te Zeit bei uns in Deutsch­land hat­ten. Mit vie­len besteht auch noch Kon­takt über die Hos­pi­ta­ti­ons­zeit hin­aus. Die­ses wert­vol­le Netz­werk wird immer dann akti­viert, wenn über kom­ple­xe Fäl­le ent­schie­den wer­den muss.

OT: Pro­fi­tiert umge­kehrt auch das Per­so­nal den BG Kli­ni­ken und dem MHH von dem Pro­jekt und dem Aus­tausch mit den Teilnehmer:innen?

Ben­ner: Ja abso­lut! Je län­ger der Krieg andau­ert, des­to erfah­re­ner sind selbst die jün­ge­ren Kol­le­gen aus der Ukra­ine. So tra­gisch es klingt, die hohe Anzahl an Ver­letz­ten führt zu einer stei­len Lern­kur­ve. In Bezug auf die Ver­sor­gung von Ampu­tier­ten kön­nen wir mitt­ler­wei­le gemein­sam an Fäl­len ler­nen, die wir glück­li­cher­wei­se in der Form in Deutsch­land nur ganz sel­ten sehen. Es stellt sich immer häu­fi­ger die Fra­ge, wie drei- oder sogar vier­fach ampu­tier­te Pati­en­ten ver­sorgt wer­den soll­ten. Soll­te man in der­art spe­zi­el­len Fäl­len erst mit der Pro­the­ti­sie­rung der obe­ren oder erst der unte­ren Extre­mi­tät begin­nen? Die­se Fra­gen kön­nen nicht sel­ten nur im inter­dis­zi­pli­nä­ren Team aus deut­schen und ukrai­ni­schen Ärz­ten, The­ra­peu­ten und Ortho­pä­die­tech­ni­kern beant­wor­tet wer­den. Da durch die hohe Anzahl an Ampu­tier­ten auch die Exper­ti­se auf die­sem Gebiet rasant steigt, wird es mut­maß­lich nicht mehr lan­ge dau­ern, bis wir uns mit kom­ple­xen Fäl­len an die gro­ßen Ein­rich­tun­gen in der Ukrai­ne wen­den, um uns in Ein­zel­fäl­len deren Exper­ti­se als Hil­fe zu holen.

OT: Sie und Ihr Team schu­len die ukrai­ni­schen Fach­kräf­te in Deutsch­land. Ande­re Hilfs­pro­jek­te set­zen auf die Weiter­bildung vor Ort in der Ukrai­ne. Wo lie­gen die Vor- und ­Nach­teile der bei­den Ansätze?

Ben­ner: Mei­nes Erach­tens sind sowohl die Schu­lung in Deutsch­land als auch die Wei­ter­bil­dung in der Ukrai­ne wich­tig. Die Vor­tei­le des Auro­ra-Hos­pi­ta­ti­ons­pro­gramms bei uns in Deutsch­land lie­gen dar­in, dass wir uns außer­halb des Kriegs­ge­sche­hens Zeit neh­men kön­nen, um im geschütz­ten Raum Wis­sen zu ver­mit­teln und Fäl­le zu dis­ku­tie­ren. Neben Auro­ra sind wir jedoch auch in ande­ren Pro­jek­ten tätig, um direkt mit Ärz­ten und The­ra­peu­ten vor Ort in der Ukrai­ne in Kon­takt zu tre­ten. Zum Bei­spiel fin­det jede Woche Tele­me­di­zin mit Ärz­ten unse­rer Kli­nik und ver­schie­de­nen ukrai­ni­schen Kran­ken­häu­sern statt. Auch kommt es zu einem Wis­sens­trans­fer im Rah­men einer zwei­wö­chent­lich statt­fin­den­den Online­schu­lung, bei der Kol­le­gen aus den BG-Kli­ni­ken und ande­re zu rele­van­ten The­men aus der Unfall­chir­ur­gie, Ampu­ta­ti­ons- und Ver­bren­nungs­chir­ur­gie, der Tech­ni­schen Ortho­pä­die und der Reha­bi­li­ta­ti­on refe­rie­ren. Eine Vor-Ort-Wei­ter­bil­dung gestal­tet sich vor allem aus Sicher­heits­grün­den für uns noch schwie­rig und wird aktu­ell eher durch NGOs (Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen, Anm. der Red.) angeboten.

OT: Auf der OTWorld hal­ten Sie einen Vor­trag über das Aurora­-Pro­jekt. Inner­halb des Sym­po­si­ums „Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung im Kri­sen­ge­biet“ kom­men neben Ihnen wei­te­re Expert:innen zu Wort. Was bedeu­tet Ihnen die­ser Austausch?

Ben­ner: Der Aus­tausch mit ande­ren Exper­ten, die in ähn­liche Pro­jek­te ein­ge­bun­den sind, ist sehr wert­voll. Dies zeigt sich immer wie­der bei grö­ße­ren Zusam­men­tref­fen von in der Ukrai­ne täti­gen Ärz­ten oder The­ra­peu­ten, aber auch bei der Koope­ra­ti­on mit der Indus­trie und Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen. Es ist wich­tig, auch die Stand­punk­te der ande­ren zu ver­ste­hen und die Bedürf­nis­se bes­ser ken­nen­zu­ler­nen. Nicht jeder gut­ge­mein­te Aktio­nis­mus in und für die Ukrai­ne hat Erfolg und führt zum gewünsch­ten Ziel. Zum Bei­spiel ist es im Inter­es­se der Ukrai­ne, deren Kriegs­ver­letz­te im eige­nen Land zu ver­sor­gen und nur in sel­te­ne­ren Fäl­len in ande­re Län­der wie Deutsch­land zu ver­tei­len. Auch müs­sen zum Bei­spiel beim Auf­bau eines Ortho­pä­die­tech­ni­ker-Netz­wer­kes die loka­len Gege­ben­hei­ten und die bis­her in die­ser Bran­che arbei­ten­den Per­so­nen berück­sich­tigt und ein­be­zo­gen werden.

OT: Die OTWorld ist nicht nur ein Ort für den Aus­tausch, s­ondern auch für die Fort- und Wei­ter­bil­dung. Wel­che Kon­gress­ver­an­stal­tun­gen wer­den Sie dafür nutzen?

Ben­ner: Der Kon­gress bie­tet eine exzel­len­te Mög­lich­keit, mit Exper­ten auf dem Gebiet der Tech­ni­schen Ortho­pä­die in Kon­takt zu tre­ten. Ich bin gespannt auf Neu­ig­kei­ten der Indus­trie, freue mich aber vor allem auf Gesprä­che und Kon­tak­te außer­halb der ein­zel­nen Vor­trä­ge. Beson­ders am Her­zen lie­gen mir die Sicht­bar­keit und Wert­schät­zung des Berufs des Ortho­pä­die­tech­ni­kers. Ich hof­fe sehr, dass der Kon­gress hier­bei hel­fen kann und jeder ein­zel­ne Refe­rent mit einem span­nen­den Vor­trag dazu beiträgt.

Die Fra­gen stell­te Pia Engelbrecht.

Zur Info
Die OTWorld prä­sen­tiert auf der Mes­se eine Son­der­schau rund um das The­ma Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung in Kri­sen­ge­bie­ten. Zen­tra­les Ele­ment ist die Aus­stel­lung „Barriere:Zonen“ der Orga­ni­sa­ti­on Han­di­cap Inter­na­tio­nal. Auf 20 Roll-ups wer­den Schick­sa­le von Men­schen mit Behin­de­rung in Konflikt‑, Kriegs- und Kri­sen­ge­bie­ten dokumentiert. 

 

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