Im Gespräch mit der OT-Redaktion berichtet Dr. med. Sebastian Benner, Sektionsleiter Technische Orthopädie, Leitender Oberarzt BG Service- und Rehabilitationszentrum sowie Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie an der BG Unfallklinik Frankfurt am Main, inwiefern die ukrainischen Fachkräfte von der Hospitation profitieren und welchen Nutzen die deutschen Kolleg:innen im Gegenzug haben. Über das Aurora-Projekt informiert Benner im OTWorld-Kongress innerhalb des Symposiums „Hilfsmittelversorgung im Krisengebiet: Was sind die Herausforderungen?“ am Donnerstag, 16. Mai.
OT: Zehntausende Soldat:innen und Zivilist:innen wurden seit Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine verletzt. Es liegt auf der Hand, dass der Bedarf an Versorgungen seitdem enorm steigt. Inwiefern soll das Aurora-Projekt hier unterstützen?
Sebastian Benner: Der Bedarf akutchirurgischer Versorgungen ist immens, wobei vor allem die langwierigen Verläufe nach Schusswunden oder Explosionen mit ausgedehnten Verletzungen der Extremitäten sowie Weichteil- und Knocheninfekten eine Herausforderung darstellen. Oftmals ist ein Erhalten der Extremitäten nicht möglich und eine Amputation mit entsprechender Prothesenversorgung unumgänglich.
Das Aurora-Projekt zielt auf die Schulung und den Austausch zwischen dem ukrainischen und deutschen medizinischen Personal ab. Dabei hospitieren seit November 2023 insgesamt 72 Ärzte und Therapeuten in Kleingruppen für den Zeitraum eines Monats in insgesamt fünf BG-Kliniken und der Medizinischen Hochschule Hannover. Durch die hohe Expertise und die Multidisziplinarität der Berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken gelingt es, einen guten Überblick in den Bereichen Traumachirurgie, Septische- und Hand-/Plastische Chirurgie, aber auch der Fuß‑, Sport- und Wirbelsäulenchirurgie zu vermitteln. Einen großen Stellenwert nimmt aber vor allem die Rehabilitation und Prothesenversorgung von Amputierten ein. Dabei rotieren die Hospitanten durch die stationäre und ambulante Rehabilitationsabteilung der BG-Kliniken sowie die Sektion für Technische Orthopädie und die an die Klinik angegliederte Orthopädiewerkstatt.
OT: In welchen Bereichen bestehen Wissenslücken bei den Fachkräften?
Benner: Wir sehen uns als gleichgestellt und auf einer Ebene, weshalb ich nicht von Wissenslücken sprechen würde. Dennoch profitieren gerade die „jüngeren“ Chirurgen davon, komplexe Operationen mitzubegleiten, ohne den Druck einer Kriegssituation zu verspüren. Ich erinnere mich aber auch an die Rückmeldung eines älteren und erfahrenen Unfallchirurgen aus der Ukraine, welcher die „German Gründlichkeit“ hervorhob und für sich den Vorteil darin sah, kleinere, aber hilfreiche Unterschiede in einzelnen Operationsschritten aus Deutschland kennengelernt zu haben. Auch strukturelle Abläufe unseres Krankenhauses sind von großem Interesse.
OT: Wie versucht „Aurora“ diese Lücken zu schließen?
Benner: Wir geben unseren Gästen die Möglichkeit, ihre vierwöchige Hospitation so individuell zu gestalten, wie sie es wünschen. Aus diesem Grund wird meist tagesaktuell entschieden, in welcher Fachabteilung sie hospitieren möchten, um der für sie interessantesten Operation oder Therapie beizuwohnen. Genauso wichtig ist aber auch, dass Zeit zum „Durchatmen“ bleibt und zum Beispiel das Wochenende für einen Kurztrip innerhalb Deutschlands genutzt wird.
OT: Essenziell sind nach einer Amputation und anderen kriegsbedingten operativen Eingriffen die orthopädietechnische Versorgung und Rehabilitation. Inwiefern unterscheiden sich die Strukturen bezüglich der Versorgung und die Begleitung der Patient:innen in der Ukraine von der in Deutschland?
Benner: Ein sicher großer Unterschied liegt darin, dass der Beruf des ukrainischen „Prothesisten“ in seiner Wertigkeit nicht mit dem Ausbildungsberuf des deutschen Orthopädietechnikers zu vergleichen ist. Hinzu kommt die Problematik, dass bei rasant gestiegenem Bedarf nicht genügend Fachpersonal zur Prothesenversorgung zur Verfügung steht. Auch ein flächendeckendes Netzwerk an Orthopädietechnikern, wie wir es in Deutschland kennen, gab und gibt es in der Ukraine bisher nicht. Die Rehabilitation nach Amputation mit täglicher Prothesengehschule, wie wir dies vor allem aus der Welt der Arbeitsunfälle in BG-Kliniken kennen, war bisher in der Ukraine ebenfalls nicht existent.
OT: Das beste Wissen nützt wenig, wenn die notwendigen Gegebenheiten und Ressourcen nicht zur Verfügung stehen. Kann das, was in Deutschland gelernt wird, dennoch auf die Arbeitsabläufe in der Ukraine übertragen werden?
Benner: Gerade was die Akutversorgung mit speziellen Operationstechniken und Behandlungsalgorithmen angeht, findet trotz Ressourcenknappheit ein guter Lernprozess statt, der sich sicher positiv auf die Abläufe in der Ukraine auswirkt. Hierbei fällt immer wieder auf, dass ein großes Interesse auch an organisatorischen Abläufen in einer großen Klinik wie der BGU besteht. Da zum Beispiel die Rehabilitation erst in jüngster Vergangenheit einen größeren Stellenwert in der Ukraine erlangt hat und der Berufszweig des Rehabilitationsarztes bisher noch nicht existierte, ist das diesbezügliche Know-how aus einer BG-Klinik essenziell für den Wissenstransfer in die Ukraine.
OT: Am Abreisetag haben die Fachkräfte nicht nur ihren Koffer im Gepäck. Was hoffen Sie, können die Teilnehmer:innen mit zurück in die Ukraine nehmen?
Benner: Wichtig ist mir vor allem, dass unsere Gäste eine lehrreiche und möglichst unbeschwerte Zeit bei uns in Deutschland hatten. Mit vielen besteht auch noch Kontakt über die Hospitationszeit hinaus. Dieses wertvolle Netzwerk wird immer dann aktiviert, wenn über komplexe Fälle entschieden werden muss.
OT: Profitiert umgekehrt auch das Personal den BG Kliniken und dem MHH von dem Projekt und dem Austausch mit den Teilnehmer:innen?
Benner: Ja absolut! Je länger der Krieg andauert, desto erfahrener sind selbst die jüngeren Kollegen aus der Ukraine. So tragisch es klingt, die hohe Anzahl an Verletzten führt zu einer steilen Lernkurve. In Bezug auf die Versorgung von Amputierten können wir mittlerweile gemeinsam an Fällen lernen, die wir glücklicherweise in der Form in Deutschland nur ganz selten sehen. Es stellt sich immer häufiger die Frage, wie drei- oder sogar vierfach amputierte Patienten versorgt werden sollten. Sollte man in derart speziellen Fällen erst mit der Prothetisierung der oberen oder erst der unteren Extremität beginnen? Diese Fragen können nicht selten nur im interdisziplinären Team aus deutschen und ukrainischen Ärzten, Therapeuten und Orthopädietechnikern beantwortet werden. Da durch die hohe Anzahl an Amputierten auch die Expertise auf diesem Gebiet rasant steigt, wird es mutmaßlich nicht mehr lange dauern, bis wir uns mit komplexen Fällen an die großen Einrichtungen in der Ukraine wenden, um uns in Einzelfällen deren Expertise als Hilfe zu holen.
OT: Sie und Ihr Team schulen die ukrainischen Fachkräfte in Deutschland. Andere Hilfsprojekte setzen auf die Weiterbildung vor Ort in der Ukraine. Wo liegen die Vor- und Nachteile der beiden Ansätze?
Benner: Meines Erachtens sind sowohl die Schulung in Deutschland als auch die Weiterbildung in der Ukraine wichtig. Die Vorteile des Aurora-Hospitationsprogramms bei uns in Deutschland liegen darin, dass wir uns außerhalb des Kriegsgeschehens Zeit nehmen können, um im geschützten Raum Wissen zu vermitteln und Fälle zu diskutieren. Neben Aurora sind wir jedoch auch in anderen Projekten tätig, um direkt mit Ärzten und Therapeuten vor Ort in der Ukraine in Kontakt zu treten. Zum Beispiel findet jede Woche Telemedizin mit Ärzten unserer Klinik und verschiedenen ukrainischen Krankenhäusern statt. Auch kommt es zu einem Wissenstransfer im Rahmen einer zweiwöchentlich stattfindenden Onlineschulung, bei der Kollegen aus den BG-Kliniken und andere zu relevanten Themen aus der Unfallchirurgie, Amputations- und Verbrennungschirurgie, der Technischen Orthopädie und der Rehabilitation referieren. Eine Vor-Ort-Weiterbildung gestaltet sich vor allem aus Sicherheitsgründen für uns noch schwierig und wird aktuell eher durch NGOs (Nichtregierungsorganisationen, Anm. der Red.) angeboten.
OT: Auf der OTWorld halten Sie einen Vortrag über das Aurora-Projekt. Innerhalb des Symposiums „Hilfsmittelversorgung im Krisengebiet“ kommen neben Ihnen weitere Expert:innen zu Wort. Was bedeutet Ihnen dieser Austausch?
Benner: Der Austausch mit anderen Experten, die in ähnliche Projekte eingebunden sind, ist sehr wertvoll. Dies zeigt sich immer wieder bei größeren Zusammentreffen von in der Ukraine tätigen Ärzten oder Therapeuten, aber auch bei der Kooperation mit der Industrie und Hilfsorganisationen. Es ist wichtig, auch die Standpunkte der anderen zu verstehen und die Bedürfnisse besser kennenzulernen. Nicht jeder gutgemeinte Aktionismus in und für die Ukraine hat Erfolg und führt zum gewünschten Ziel. Zum Beispiel ist es im Interesse der Ukraine, deren Kriegsverletzte im eigenen Land zu versorgen und nur in selteneren Fällen in andere Länder wie Deutschland zu verteilen. Auch müssen zum Beispiel beim Aufbau eines Orthopädietechniker-Netzwerkes die lokalen Gegebenheiten und die bisher in dieser Branche arbeitenden Personen berücksichtigt und einbezogen werden.
OT: Die OTWorld ist nicht nur ein Ort für den Austausch, sondern auch für die Fort- und Weiterbildung. Welche Kongressveranstaltungen werden Sie dafür nutzen?
Benner: Der Kongress bietet eine exzellente Möglichkeit, mit Experten auf dem Gebiet der Technischen Orthopädie in Kontakt zu treten. Ich bin gespannt auf Neuigkeiten der Industrie, freue mich aber vor allem auf Gespräche und Kontakte außerhalb der einzelnen Vorträge. Besonders am Herzen liegen mir die Sichtbarkeit und Wertschätzung des Berufs des Orthopädietechnikers. Ich hoffe sehr, dass der Kongress hierbei helfen kann und jeder einzelne Referent mit einem spannenden Vortrag dazu beiträgt.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
Die OTWorld präsentiert auf der Messe eine Sonderschau rund um das Thema Hilfsmittelversorgung in Krisengebieten. Zentrales Element ist die Ausstellung „Barriere:Zonen“ der Organisation Handicap International. Auf 20 Roll-ups werden Schicksale von Menschen mit Behinderung in Konflikt‑, Kriegs- und Krisengebieten dokumentiert.
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