Einleitung
Die Verordnung von Hilfsmitteln wie z. B. Einlagen und Orthesen gehört zum Alltag der neuroorthopädischen Sprechstunde des SPZ Westmünsterland. Im Jahr 2014 wurden am Standort Coesfeld ca. 1.700 Kinder in dieser Sprechstunde untersucht. In der Regel stellen sich die Patienten am SPZ Westmünsterland mindestens zweimal pro Jahr zur orthopädischen Verlaufskontrolle vor; hinzu kommen separate Termine zur Hilfsmittelabnahme, an denen die Versorgungen auf ihre Passgenauigkeit und Funktionsgerechtigkeit überprüft werden. Bei gehfähigen Kindern wird in der Regel an diesem Termin auch eine apparative Ganganalyse durchgeführt. Diese engmaschigen Kontrollen sind erforderlich, da sich im Wachstum u. a. die Hebelverhältnisse verändern und sich der Bedarf an Hilfsmitteln bzw. Therapien verändern kann. Nur so kann gewährleistet werden, dass es weder zu einer Unter- noch zu einer Überversorgung kommt.
Eines der häufigsten Krankheitsbilder, mit denen sich Patienten in der neuroorthopädischen Sprechstunde vorstellen, ist die infantile Cerebralparese (ICP). Nach Nomenklatur der WHO wird die Cerebralparese nicht mehr anhand des betroffenen Körperteils beschrieben, sondern je nach Schädigungsort auf einer oder beiden Hirnhemisphären (uni- und bilateral) klassifiziert. Bei einer unilateralen Cerebralparese kommt es in der Peripherie zu einer spastischen Mono- oder Hemiparese; bei einer bilateralen Cerebralparese kann es zu Di‑, Tri- oder Tetraparese kommen, ferner zu Athetose und Ataxie 1.
Dreidimensionale Bewegungsanalyse
Eine dreidimensionale (3‑D-)Bewegungsanalyse bietet die Möglichkeit, den Körper in seiner Gesamtheit oder Teile des Körpers (z. B. Kopf, Arm, Fuß, Bein) sowohl zeitlich als auch räumlich zu erfassen. Dies ermöglicht u. a., Gelenkwinkel über den gesamten Gangzyklus detailliert darzustellen. Neben den Gelenkwinkeln werden auch weitere kinematische Parameter (z. B. Schrittlänge und Standphasendauer) aufgezeichnet. Durch die Kombination mit Kraftmessplatten können die auf die Gelenke wirkenden Kräfte und Drehmomente (Kinetik) berechnet werden 2 3.
In der Kinematik werden die Gelenkwinkel in allen drei Ebenen des Körpers erfasst; dies geschieht in einem körpereigenen Koordinatensystem. Beschränkt man sich allein auf visuelle Diagnostik wie z. B. in der Videodokumentation, kann sich der Eindruck der Gelenkwinkel verfälschen, da der Patient in der Sagittalebene bei fest installierter Kamera im Verlauf tangential aufgenommen wird. Allein die dreidimensionale Bewegungsanalyse ermöglicht es, den Patienten im gesamten Verlauf stets in allen drei Ebenen zu erfassen.
In der Sagittalebene werden u. a. die Gelenkwinkel des Knies und der Hüfte erfasst; dies ermöglicht z. B., Streckdefizite und ihre eventuellen Ausgleichsbewegungen zu detektieren. In der Frontalebene kann durch Betrachtung der kinematischen Daten z. B. das Auftreten eines Trendelenburg- und Duchenne-Hinkens sehr gut erkannt werden, des Weiteren, ob eine Gliedmaße ab- oder adduziert wird. In der Transversalebene ist gut erkennbar, ob es in einem Gelenk zu Innen- oder Außenrotation kommt und ob eine Körperhälfte führend ist.
Das 3‑D-Ganglabor im SPZ Westmünsterland
Im SPZ Westmünsterland wird für die 3‑D-Bewegungsanalyse ein System der Firma Vicon mit zehn Bonita-10-Kameras, zwei Bonita-Videokameras zur Videodokumentation sowie zwei Amti-Kraftmessplatten genutzt. Die Messungen erfolgen meist im Rahmen der Hilfsmittelabnahme, um die Wirksamkeit der verordneten Orthesen bzw. Einlagen nachzuweisen 4. Dabei wird zunächst das Barfußgangbild dokumentiert, im Anschluss erfolgt die Messung mit Orthesen. Die Markerplatzierung erfolgt nach dem Plugin-Gait-Modell (Full Body Model; Vicon Nexus 1.8). Wird mit Schuhen und Orthese(n) gemessen, werden die Marker des Fußes auf den Schuh übertragen. In wenigen Fällen kann es notwendig sein, den Kniemarker auf den Orthesenrand zu kleben; auch hier wird der Kniedrehpunkt im Stand auf die Orthese projiziert. Nach Möglichkeit wird jedoch der Kniemarker, wie auch alle anderen Marker außer denen des Fußes, unverändert gelassen, um eine größtmögliche Vergleichbarkeit zu erzielen. Auswertung und Erstellung der Grafiken erfolgen mit Vicon Polygon 4.0.
In den vergangenen zwei Jahren wurden 126 3‑D-Bewegungsanalysen an 106 Kindern durchgeführt. 64 der 126 untersuchten Kinder sind mit dynamischen Unterschenkelorthesen versorgt. Die Indikation für die Orthesenversorgung wurde am häufigsten aufgrund einer Cerebralparese (insgesamt 51, 29 davon unilateral, 22 bilateral), in sechs Fällen wegen Spina bifida gestellt. Sieben Kinder wiesen andere Erkrankungen auf. Das Alter bei Erstuntersuchung lag im Mittel bei 12,0 Jahren.
Gangbildauffälligkeiten bei ICP
Bei der ICP kommt es aufgrund angeborener oder erworbener zerebraler Läsionen zu einer Veränderung des Muskeltonus‘ mit Auswirkungen auf die gesamte Motorik und damit auf das Gangbild des Betroffenen. Unterschieden werden hierbei neurologische von biomechanischen Faktoren, die sich jedoch wechselseitig beeinflussen können 5. Neurologische Faktoren sind beispielsweise ein erhöhter Muskeltonus bei oft gleichzeitiger Schwäche bestimmter Muskelgruppen, des Weiteren Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen. Zu den biomechanischen Faktoren zählen z. B. überlange Sehnen, Gelenk- und Muskelkontrakturen (oft als Folge der o. g. neurologischen Faktoren) und Veränderungen der Hebelarme.
Typischerweise ist das Bewegungsmuster von Patienten mit ICP gekennzeichnet durch eine Spastik bestimmter Muskelgruppen, welche u. a. schnelle Bewegungen hemmt. Weiterhin sind funktionelle und/oder strukturelle Gelenkkontrakturen in Kombination mit Streckdefiziten häufig zu beobachten. Das Gangbild ist daher häufig gekennzeichnet durch einen Spitzfußgang mit erhöhter Knie- und Hüftflexion über den gesamten Gangzyklus. Eine reduzierte Hyperextension der Hüfte muss dabei nicht auf ein strukturelles Streckdefizit derselben hindeuten; es kann als kompensatorische Bewegung entstehen, wenn durch ein Streckdefizit im Kniegelenk der Oberkörper verstärkt vorgeneigt wird, um ausreichend Stabilität zu bekommen 6.
Die Spastik kann durch Emotionen weiter verstärkt werden, beispielsweise durch Stress, welcher u. a. bei unsicherer Haltung aufkommt. So wird ein Teufelskreis geschaffen, da die erhöhte Spastik die Gelenkkontraktur verstärken kann und die biomechanischen Voraussetzungen für einen stabilen Stand bzw. Gang immer weniger gewährleistet sind. Bekommt der Patient eine dynamische Unterschenkelorthese, gelingt in den meisten Fällen ein primärer Fersenkontakt. Einer übermäßigen Flexion der Knie- und Hüftgelenke während der Standphase wird entgegengewirkt; das Gangbild wird stabilisiert und vertikalisiert. Des Weiteren wird es ökonomisiert, denn der Kauergang führt durch seine ungünstigen und hohen auf die Gelenke wirkenden Momente zu einem vermehrten Energieverbrauch 7.
Gangbildauffälligkeiten bei Spina bifida
Je nach Läsionsniveau kommt es bei der Spina bifida zu symmetrischen oder asymmetrischen motorischen und sensiblen Störungen, wobei die sensiblen Defizite meistens zwei Segmente tiefer liegen als die motorischen 8. Die Ausprägungen der Bewegungsstörungen bei Spina bifida sind sehr verschieden, zum einen wegen der unterschiedlichen Läsionshöhe des jeweiligen Patienten, zum anderen aufgrund der unterschiedlich guten Anpassungs- und Kompensationsfähigkeit. Eine verfrühte Aussage zur Gehfähigkeit des betroffenen Kindes sollte daher vermieden werden; dennoch ist eine Läsion ab L3 oder höher wegen der damit verbundenen eingeschränkten Funktion des M. quadriceps ein negativer Prädiktor für eine spätere mögliche Gehfähigkeit.
Das Gangbild bei Spina bifida ist üblicherweise gekennzeichnet durch eine schlaffe Lähmung der unteren Extremitäten, d. h., der Fußaufsatz erfolgt entweder vollflächig oder primär mit dem Vorfuß. Des Weiteren kommt es häufig zu Trendelenburg- und Duchenne-Hinken. Am Knie lässt sich eine erhöhte Flexion in der Standphase beobachten; die maximale Flexion in der Schwungphase ist hingegen meist reduziert. Am Hüftgelenk ist die Hyperextension eingeschränkt und zugunsten einer erhöhten Flexion verschoben. Alle Effekte sind umso stärker ausgeprägt, je höher sich das Läsionsniveau an der Wirbelsäule befindet.
Dynamische Unterschenkelorthesen in Prepreg-Technik
Mit Hilfe der Prepreg-Technik aus Carbon ist es inzwischen möglich, hochdynamische und vor allem ultraleichte Orthesen herzustellen (Abb. 5). Die hier untersuchten dynamischen Unterschenkelorthesen in Prepreg-Technik werden individuell für den einzelnen Patienten gefertigt und bestehen aus einer vollkontaktigen Fußfassung (meist Polypropylen), die eine anatomische Korrektur des Fußes auch unter Belastung gewährleistet. Die Führung der Prepreg-Feder verläuft von der Plantarseite des Fußes der Anatomie der Ferse folgend dorsal am Unterschenkel entlang und endet in einer tibialen Kondylenanstützung. Der Einsatz einer solchen Feder ermöglicht es, auf zusätzliche Knöchelgelenke zu verzichten, sodass in der Regel diese Orthesen aufgrund der schlanken Ausführung in konfektioniertem Schuhwerk getragen werden können. Je nach Fertigungsweise kontrolliert die Feder durch ihre Steifigkeit unterschiedlich stark das Bewegungsausmaß der Dorsalextension/Plantarflexion im Sprunggelenk. Im Gegensatz zu vorkonfektionierten Federn kann durch die handwerklich gefertigte Feder der Fersenaufbau reduziert werden 9.
Mit Hilfe dieser Orthesen soll bei den oben vorgestellten Patienten zum einen die notwendige Korrektur des Rückfußes über den langen Hebel sichergestellt werden, zum anderen ermöglichen die Orthesen eine Hemmung der Plantarflexion in der Schwungphase, was zu einem primären Fersenkontakt führen soll. In der mittleren Standphase wirkt die dorsale Feder extendierend auf das Kniegelenk, dies bewirkt gleichzeitig auch eine Streckung der Hüfte. Das Gangbild wird somit stabilisiert und vertikalisiert.
Ergebnisse ICP
Für die unilaterale Cerebralparese wurde exemplarisch ein Patient mit einem (wie oben beschriebenen) typischen Gangbild ausgewählt. Dieser Patient (Patient 1) ist ein zum Untersuchungszeitpunkt 15-jähriger Junge mit spastischer Hemiparese und Spitzfuß rechts, der zuletzt 2013 operativ behandelt wurde.
Für die bilaterale Cerebralparese wurden zwei Kinder ausgewählt, die ein typisches, jedoch unterschiedliches Gangmuster aufweisen. Bei Patient 2 handelt es sich um ein zum Untersuchungszeitpunkt 8‑jähriges Mädchen mit linksbetonter spastischer Diplegie. Es besteht ein funktioneller Spitzfuß, der links stärker ausgeprägt ist als rechts, beidseits mit einer zusätzlichen Pes-planovalgusKomponente. Patient 3 ist zum Untersuchungszeitpunkt 7 Jahre alt; es besteht eine rechtsbetonte spastische Tetraparese.
Im Folgenden wird das Gangbild der Patienten exemplarisch anhand der Gelenkwinkel der Kniegelenke sowie der Sprunggelenke in der Sagittalebene betrachtet.
In Abbildung 1a und b sind die Kniewinkel von Patient 1 (unilaterale Cerebralparese) über einen Gangzyklus dargestellt. Fünf Messreihen wurden dabei zu einem Mittelwert und der zugehörigen Standardabweichung zusammengefasst. Die senkrechten Striche bezeichnen das jeweilige Ende der Standphase.
Das Barfußgangbild ist in Abbildung 1a dargestellt. Man erkennt ein deutlich asymmetrisches Gangmuster. Auf der hemiparetischen Seite (rechts) ist die Knieflexion bei Lastübernahme reduziert, wie auch in der initialen Schwungphase. Die Standphasendauer ist rechts ebenfalls kürzer als links. Beim Gehen mit der dynamischen Unterschenkelorthese (siehe Abb. 1b) kommt es zu einer deutlich verbesserten Gangsymmetrie. Rechts wird eine stärkere Knieflexion zur Stoßdämpfung sowie eine verbesserte Knieflexion in der initialen Schwungphase gemessen.
Abbildung 1c zeigt den Sprunggelenkwinkel bds. barfuß, Abbildung 1d mit Orthese rechts. Barfuß erfolgt rechts ein primärer Vorfußkontakt; dies zeigt sich in der Darstellung des Sprunggelenkwinkels an der Plantarflexion beim initialen Kontakt und bei Lastübernahme (0–10 % des Gangzyklus‘). Ebenfalls erkennbar ist eine Plantarflexion in der mittleren und terminalen Schwungphase. Mit Orthese zeigt der Patient einen primären Fersenkontakt (Dorsalextension im Sprunggelenk beim initialen Kontakt); es wird im Anschluss bei Lastübernahme eine physiologische Plantarflexion durchgeführt. Im weiteren Verlauf kommt es zu einer Dorsalextension, die allerdings in der terminalen Standphase erhöht ist und dabei sogar größer ausfällt als auf der kontralateralen Seite. In der Schwungphase wird das Sprunggelenk durch die Orthese in Dorsalextension gehalten. Die dynamische Orthese bietet somit umfangreiche Bewegungsmöglichkeiten in der Standphase, ohne die notwendige Korrektur zu vernachlässigen.
Patient 2 (bilaterale Cerebralparese) zeigt barfuß ein Gangbild mit deutlich erhöhter initialer Knieflexion (Abb. 2a). Es wird keine (weitere) Knieflexion zur Stoßdämpfung bei Lastübernahme gemessen; es kommt weiterhin zu einer deutlich verfrühten und teilweise erhöhten Knie(hyper)extension in der mittleren Standphase. Mit Orthesen (Abb. 2b) verändern sich die Kniewinkel nur unwesentlich. Es wird weiterhin eine erhöhte initiale Knieflexion gemessen, zusätzlich kommt es zu einer leichten Flexion für die Stoßdämpfung.
Das Gangbild von Patient 3 (ebenfalls bilaterale Cerebralparese) entspricht dem häufig anzutreffenden oben beschriebenen Kauergang mit erhöhter Knieflexion über den gesamten Gangzyklus und fehlender Extension in der mittleren Standphase (Abb. 3a). Auch mit Orthesen werden die Kniewinkel wieder nur unwesentlich beeinflusst (Abb. 3b). Exemplarisch für beide Patienten mit bilateraler Cerebralparese zeigen die Abbildungen 3c und d die Wirkung der dynamischen Orthesen am Sprunggelenk bei Patient 3. Während es barfuß (Abb. 3c) zu einer vermehrten Dorsalextension bei Lastübernahme kommt, wird neben einer verfrühten Fersenanhebung (reduzierte Dorsalextension in der terminalen Standphase) eine deutlich vermehrte Plantarflexion vor allem rechts in der Vorschwungphase gemessen. Mit den dynamischen Orthesen (Abb. 3d) werden die Sprunggelenke bds. in Dorsalextension gehalten. Im Gegensatz zu dem Patienten mit unilateraler Cerebralparese (siehe Abb. 1c) wird das Potenzial (sprich die Dynamik) der Orthesen nicht ausgenutzt. Es bleibt bei einer relativ konstanten Dorsalextension, die nur bei Lastübernahme verstärkt wird.
Ergebnisse Spina bifida
Bei Patienten mit Spina bifida zeigen die Untersuchungen meist deutliche Gangbildverbesserungen durch die Orthesen. Patient 4 ist ein zum Untersuchungszeitpunkt 6‑jähriges Mädchen mit Spina bifida, Läsionshöhe L4/L5. Es besteht bds. ein funktioneller Spitz-Klumpfuß, der links stärker ausgeprägt ist als rechts.
In Abbildung 4a zeigt sich im Barfußgang eine deutlich erhöhte initiale Knieflexion mit anschließender geringer Flexion zur Stoßdämpfung. Mit Orthesen (Abb. 4b) erkennt man eine deutliche Verbesserung des Gangbildes; z. B. wird die erhöhte Knieflexion beim initialen Kontakt deutlich reduziert. Es zeigt sich weiterhin eine gute, wenn auch noch erhöhte Knieflexion zur Stoßdämpfung. Anhand der Sprunggelenkwinkel (Abb. 4c u. d) lässt sich ebenfalls die Wirksamkeit der Orthesen im Gangablauf gut nachvollziehen. Aus dem primären Vorfußkontakt mit leichter Plantarflexion beim initialen Kontakt sowie deutlich erhöhter Dorsalextension bei Lastübernahme (Abb. 4c) wird ein primärer Fersenkontakt in Dorsalextension mit anschließender Plantarflexionsbewegung sowie reduzierter Dorsalextension bei Lastübernahme (Abb. 4d); im Vergleich zu barfuß ist die Dorsalextension mit Schuhen und Orthesen zwar reduziert worden, bleibt insgesamt jedoch erhöht (insbesondere rechts). In der terminalen Standphase ist die Dorsalextension im Sprunggelenk sowohl barfuß als auch mit Orthesen weiterhin teils deutlich erhöht. Während es in der Schwungphase barfuß wieder zu einer Plantarflexion des Sprunggelenkes kommt, wird dieses mit Orthesen in Dorsalextension gehalten.
Diskussion
Die Patienten 1 bis 4 wurden exemplarisch für typische Gangbilder bei uni- und bilateraler Cerebralparese sowie Spina bifida ausgewählt. Während die Gangmuster für unilaterale Cerebralparese (Patient 1) und Spina bifida (Patient 4) repräsentativ sind, zeigt sich bei der bilateralen Cerebralparese durch unterschiedliche Kompensationsmechanismen ein differenzierteres Bild, daher wurden hier zwei Beispiele herangezogen (Patienten 2 und 3).
Bei Patienten mit unilateraler Cerebralparese (Patient 1, Hemiparese rechts) kann die Wirksamkeit der dynamischen Orthese bestätigt werden. Es ist jedoch ersichtlich, dass in diesem individuellen Fall die Federstärke erhöht werden kann, um die deutliche Plantarflexion bei Lastübernahme sowie die erhöhte Dorsalextension in der terminalen Standphase (siehe Abb. 1c) zu reduzieren und damit auch den Zeitpunkt der verspäteten Fersenanhebung zu optimieren.
Bei den Patienten mit bilateraler Cerebralparese (Patienten 2 und 3) waren die Ergebnisse in Bezug auf Knie- und Sprunggelenkwinkel ähnlich; unter Einbezug weiterer Gangparameter sowie auch der persönlichen Kontextfaktoren wurden jedoch unterschiedliche Konsequenzen gezogen.
Patient 2 (linksbetonte spastische Diplegie) zeigte insgesamt keine wesentlichen Gangbildverbesserungen unter Nutzung der dynamischen Unterschenkelorthesen. Da sich auch die statomotorischen Möglichkeiten der Patientin verbessert hatten, wurde sie im späteren Behandlungsverlauf auf eine Versorgung mit Sprunggelenkorthesen umgestellt.
Patient 3 (rechtsbetonte spastische Tetraparese) ist ein typisches Beispiel, bei dem zwar eine wesentliche Gangbildverbesserung ausgeblieben ist, das Gangbild aber insgesamt deutlich stabiler wurde und sich vor allem die Gangspurparameter wie Schrittlänge und Ganggeschwindigkeit mit Orthesen deutlich erhöht haben. In diesem Fall wurde die Indikation für eine Versorgung mit dynamischen Unterschenkelorthesen in Prepreg-Technik bestätigt.
Bei Patienten mit Spina bifida konnte anhand von Patient 4 gezeigt werden, dass sie i. d. R. von dieser speziellen Orthesenversorgung profitieren. Mit Hilfe der 3‑D-Bewegungsanalyse konnte nicht nur die Wirksamkeit nachgewiesen werden, sondern es gab darüber hinaus noch Hinweise auf eine notwendige Modifikation. So wurde auch bei dieser Patientin ersichtlich, dass die Federstärke der Orthese erhöht werden muss, um die erhöhte Dorsalextension bei Lastübernahme zu reduzieren und damit auf die Knieflexion einwirken zu können.
Anhand der Beispiele der Patienten 1 und 4 kann man an den Sprunggelenkwinkeln (Abb. 1c und 4c/d) nachvollziehen, welche Bewegung eine dynamische Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik zulässt, ohne dabei gleichzeitig notwendige Korrekturen einzuschränken. Am Beispiel der Patientin 4 mit Spina bifida hätte die Bewegung im Sprunggelenk im Gegenteil sogar stärker eingeschränkt werden können. Im Alltag des SPZ hat sich gezeigt, dass insbesondere Patienten mit einer unilateralen Cerebralparese oder mit schlaffen Lähmungen wie bei einer Spina bifida das Potenzial dieser Orthesenversorgung sehr gut ausnutzen und umsetzen können.
Bei Patienten mit spastischen Diplegien ist der Nutzen der dynamischen Orthesenversorgung oft nicht so deutlich erkennbar. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Mit zunehmender beidseitiger Spastik kommt es vermehrt zu einer Spitzfußstellung; auch Streckdefizite in Hüft- und Kniegelenken führen zu einer Verschlechterung des Gangbildes, das auch mit einer Orthesenversorgung nur eingeschränkt verändert werden kann.
Hier sind weitere Faktoren wichtig, um die Wirksamkeit eines Hilfsmittels im Alltag beurteilen zu können. Dies sind u. a. Gangstabilität, das Sicherheitsgefühl und natürlich auch die Korrektur eines funktionellen Spitzfußes, der sich ohne Orthesenversorgung zunehmend verschlechtern kann.
Bei jeder Bewegungsanalyse müssen selbstverständlich alle Einflüsse und Kontextfaktoren berücksichtigt werden, die sich auf das Gangbild auswirken können. Gerade bei Messungen mit Kindern spielen Ausdauer und Motivation eine große Rolle, um aussagekräftige Messungen zu erhalten. Speziell bei 3‑D-Messungen müssen die Patienten eine ausreichende Geduld mitbringen, da z. B. die korrekte Markerplatzierung sehr zeitintensiv ist. Aus diesen Gründen wird auch jede 3‑D-Messung im Ganglabor des SPZ Westmünsterland zusätzlich mit einer Videoanalyse von frontal und sagittal klinisch überprüft.
Fazit
Mit Hilfe der 3‑D-Bewegungsanalyse konnte gezeigt werden, dass bei Kindern mit unilateralen Cerebralparesen die Versorgung mit dynamischen Unterschenkelorthesen in Prepreg-Technik in den meisten Fällen zu einer deutlichen Verbesserung des Gangbildes und damit auch der Gangstabilität führt. Bei bilateralen Cerebralparesen zeigt die Versorgung mit dynamischen Unterschenkelorthesen differenziertere Ergebnisse. Hier wurden vermehrt keine oder nur geringfügige Gangbildverbesserungen beobachtet. Eine Versorgung mit dynamischen Unterschenkelorthesen kann dennoch im Individualfall in Betracht gezogen werden, wenn andere Kriterien als die reine Verbesserung des Gangbildes im Vordergrund stehen, z. B. die Korrektur einer Fußdeformität, die einen längeren Hebel erfordert, dem Patienten aber mehr Dynamik als eine starre Versorgung bietet. Bei Patienten mit Spina bifida zeigte sich, dass die meisten Kinder sehr deutlich von einer Versorgung mit dynamischen Unterschenkelorthesen profitieren. Die Federstärke sollte jedoch regelmäßig durch Ganganalysen kontrolliert und im Wachstum angepasst werden.
Für die Autoren:
Dr. rer. nat. Juliane Wühr
Ganglabor – SPZ Westmünsterland
St.-Vincenz-Hospital
Christophorus-Kliniken GmbH
Südring 41, 48653 Coesfeld
juliane.wuehr@christophorus-kliniken.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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