OT: Sie arbeiten bereits seit mehr als 25 Jahren mit einer eigenen Software. Wie kam es dazu?
Tom Jaeger: Hintergrund war, dass wir bereits Mitte der 1990er-Jahre von den Karteikarten loskommen wollten. Eine Branchensoftware, so wie wir sie heute kennen, gab es zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht. Wir haben dann angefangen die Daten der Kunden von den Karteikarten auf eine Datenbank zu übertragen. Das war für lange Zeit der Stand der Dinge. Irgendwann habe ich festgestellt, dass ich selbst gut programmieren kann. Über die Jahre ist so eine hochkomplexe Lösung entstanden, die maßgeschneidert für unsere Firma ist. Ich sage immer: Bei uns trägt die Firma den Maßanzug und nicht der Chef. In den 2000er-Jahren haben wir mal andere Software ausprobiert, sind aber schnell wieder zu der eigenen Lösung zurück.
OT: Welche Vorteile bringt Ihre eigene Software für Ihren Betrieb mit sich?
Jaeger: Das Besondere ist – und das vermisse ich bei den meisten Branchenlösungen –, dass wir sehr prozessorientiert sind. Eine Firma muss laufen wie eine gut geschmierte Nähmaschine. Und all diese Prozesse lassen sich heutzutage digital abbilden. Unsere Mitarbeiter dokumentieren in dem Programm jeden Schritt: Was habe ich gemacht? Mit wem habe ich gesprochen? Wann habe ich mit dem Kunden telefoniert? Was wurde mit dem Kostenträger besprochen? Und: Alle Informationen sind suchbar und auswertbar. Eine weitere Funktion – und die war gar nicht aufwendig zu programmieren, hat aber einen enormen Nutzen – ist die Tagesplanung. Auf allen PCs werden über den Bildschirmschoner die Termine des Tages angezeigt, wann ein Kunde kommt, wie lange er wartet, ob er bedient wird oder ob ein Termin abgesagt wurde. Der aktuelle Stand der Dinge kann so jederzeit eingesehen werden. Wenn ein Kunde länger als fünf Minuten wartet, wird der Eintrag rot und die Mitarbeiter wissen, dass schnellstmöglich jemand unten an der Theke gebraucht wird. Das ist nonverbale Kommunikation. Wenn man einem Kollegen zehn Mal am Tag das Gleiche sagt, ist er irgendwann genervt. Wenn ich das dagegen einfach anzeige, und alle Mitarbeiter die Informationen in dem Moment haben, in dem sie sie wahrnehmen können, habe ich einen ganz großen Stressfaktor in der Firma weniger. Und dieser reduzierte Stress ist gut für die Mitarbeiter und auch für die Kunden.
OT: Waren das Ziele, die Sie sich von Anfang an gesetzt haben?
Jaeger: Ich hatte vor 25 Jahren keine wirkliche Strategie. Das hat sich nach und nach so entwickelt. Die Branche ist extrem komplex geworden. Die Anforderungen, die bürokratischen Hürden sind in den vergangenen Jahren immer höher geworden. Mit der Zeit habe ich diese Prozessverliebtheit entwickelt und von meinen Mitarbeitern das Feedback bekommen, dass ihnen das gut tut, dass sie sich weniger im Alltag ärgern müssen. Die „Störungen“ von außen, also zum Beispiel die Anforderungen der Kostenträger oder die Erwartungshaltung der Kunden, kann ich nicht beeinflussen. Was ich aber im Griff habe, sind die internen Abläufe, die alle so glatt wie möglich laufen sollen.
OT: Wann läuft für Sie alles glatt?
Jaeger: Wenn jeder die Info, die er braucht, in dem Moment kriegt, wenn er sie braucht – und das in kurzer Zeit und mit wenigen Klicks. Und das ist meiner Meinung nach hoch rentabel.
OT: Inwiefern?
Jaeger: Wir arbeiten bei uns in der Firma mit der Ein-Prozent-Methode. Heißt, alles, was nervt, wird optimiert. Auch jede Kleinigkeit. Ich mache lieber zehn kleine Schritte und gebe jedem Mitarbeiter das Gefühl, dass seine Meinung zählt, als zu warten, dass Probleme auflaufen, um dann eine Hauruckaktion zu starten. Wenn ein Mitarbeiter mit einer Idee zu mir kommt, um einen Ablauf zu verbessern und das spart vielleicht eine Minute am Tag und ich brauche eine Stunde, um das Thema zu lösen, dann habe ich einen Return on Invest von 60 Tagen. Das ist sehr schnell. Und es ist egal, ob es dabei um einen Azubi oder einen Gesellen geht: Wenn bei einer Person ein Prozess hängt, hängen alle Schritte danach auch. Und deswegen glaube ich, dass es sinnvoll ist, Zeit in die Programmierung der Software zu investieren. Pro Woche sind das bei mir um die zehn bis 15 Stunden.
Dokumentation = Zeitverschwendung?
OT: Gibt es weitere Anwendungen, die Sie programmiert haben?
Jaeger: Wir haben eine Mailingfunktion, die die Kunden beispielsweise erinnert, wenn ein Medizinprodukt kontrolliert oder ausgetauscht werden sollte. In unserer Werkstattplanung halten wir fest, wer wann welchen Auftrag bearbeiten muss. Eine weitere Funktion: Der Mitarbeiter, der für einen Kunden zuständig ist, wird per Smartwatch informiert. Damit habe ich gleich zwei zufriedene Mitarbeiter. Den, der die Info überbringt, und den, der sie empfängt. Es muss nicht nach jemandem gesucht werden, auch wenn der Kollege in der Pause oder auf der Toilette ist. Er erhält die Info, wenn er sie braucht. Bei 30 Mitarbeitern auf 1.000 Quadratmetern eine echte Erleichterung. Kernthema aber ist und bleibt die Dokumentation.
OT: Kam das bei den Mitarbeiter:innen von Anfang an gut an?
Jaeger: Nein (lacht). Bei den Handwerkern lief Dokumentation gern mal unter Zeitverschwendung, bis sie gemerkt haben, dass sie enorm davon profitieren, wenn die Kollegen auch ihre Arbeit dokumentieren.
OT: Das Vorgehen könnte man auch als Kontrolle der Mitarbeiter:innen verstehen. Ist das so?
Jaeger: Das kann man bestimmt so verstehen. Und klar, ich hätte die Möglichkeit dazu, nutze sie aber nicht. Es gab in der Vergangenheit allerdings tatsächlich Mitarbeiter, die versucht haben das System zu umgehen. Das hat auf Dauer dazu geführt, dass wir uns nicht mehr verstanden haben und getrennte Wege gegangen sind. Die Mitarbeiter, die da sind, die leben das gut. Ich glaube, ihre Akzeptanz ist auch deshalb so groß, weil auf ihre Wünsche eingegangen wird. So bekommt jeder die Funktionen, die er benötigt, um seinen Bereich bestmöglich zu organisieren. Gerade unsere Azubis kennen es gar nicht anders und wachsen in das System hinein.
OT: Jeden Schritt zu dokumentieren kostet auch Zeit. Lohnt sich dieser Mehraufwand?
Jaeger: Es bedeutet erstmal mehr Arbeit. Es ist eine Investition in Zeit. Aber eine, die sich später rechnet. Eine Reklamation kostet schnell mal 15 bis 20 Minuten Arbeitszeit und in der Regel sind zwei bis drei Mitarbeiter damit beschäftigt. Der eine beruhigt den Kunden, der andere sucht und der dritte läuft vielleicht aufgeregt durch die Gegend, weil es mal etwas lauter im Laden geworden ist. Das heißt, ich habe eine unproduktive Gesamtarbeitszeit von circa 60 Minuten. Die hätte vielleicht produktiver genutzt werden können, wenn einer vorher zwei Minuten dokumentiert hätte. Und der Stresspegel ist darin noch nicht mal eingerechnet.
„Attraktiver Arbeitgeber Rheinland-Pfalz“
OT: Inwiefern profitieren Ihre Mitarbeiter:innen von der Software?
Jaeger: Wir wurden im November vergangenen Jahres von der Landeswirtschaftsministerin Daniela Schmitt als eines von acht Unternehmen in Rheinland-Pfalz als „Attraktiver Arbeitgeber“ ausgezeichnet. Ein Grund dafür war, dass wir diesen Maßanzug für die Firma geschneidert haben. Mein Ziel ist es, dass meine Mitarbeiter angenehm arbeiten und abends möglichst gut gelaunt nach Hause gehen. Dass ein Kunde ihnen den Tag versaut, weil er sich nicht gut benommen hat, habe ich nicht im Griff, aber ich kann den Kollegen den Rücken freihalten. Das empfinde ich als meine Aufgabe als Unternehmer.
OT: Und was haben die Kund:innen davon?
Jaeger: Durch unsere klaren Abläufe arbeiten wir sehr termintreu und unsere Kunden werden sehr schnell und zuverlässig versorgt. Über die Tagesplanung kann es nicht passieren, dass ein Kunde in der Kabine vergessen wird. Denn der rote Hinweis bei zu langer Wartezeit erscheint gleichzeitig an jedem der 30 Mitarbeiter-PCs. Ein weiterer Service: Wenn ein Produkt die Endkontrolle durchlaufen hat, erhält der Kunde eine SMS, dass der Auftrag fertig ist und er das Produkt abholen kann. Gleichzeitig schicken wir eine E‑Mail heraus, in der der berechnete Eigenanteil vermerkt ist und den der Kunde per Paypal-Link direkt bezahlen kann. Das sind Feinheiten, durch die der Kunde die Verliebtheit in den Prozess spüren kann.
OT: Melden die Kund:innen das auch zurück?
Jaeger: Ja, besonders das Tracking kommt gut an. Man muss aber auch sagen: Dass der Kunde zufrieden ist, merkt man in erster Linie daran, dass nichts passiert. Unsere Reklamationsquote ist mit unter einem Prozent minimal. Unsere Auditorin für die DIN-ISO-Zertifizierung bestätigt uns das jährlich.
OT: Besteht die Gefahr, in einen Prozesswahn zu verfallen?
Jaeger: Da ich positives Feedback von meinen Mitarbeitern erhalte, bin ich, glaube ich, noch nicht in der krankhaften Phase (lacht). Trotz aller Prozessverliebtheit bin ich auch Pragmatiker. Mir ist es wichtig, dass das, was wir machen, auch Sinn ergibt.
OT: Was halten Sie von gängiger Branchensoftware?
Jaeger: Die machen alle einen großartigen Job, bringen zum Teil aber viele Leistungen, die wir gar nicht benötigen. Wir machen Technische Orthopädie, brauchen den Bereich Reha-Technik zum Beispiel überhaupt nicht. Würden wir auf eine gängige Software zurückgreifen, würden wir also Leistungen kaufen, die wir nicht benötigen. Dagegen werden meiner Meinung nach Themen wie Werkstattabläufe und ‑prozesse, also die Frage, welcher Mitarbeiter was wann und wie macht, eher stiefmütterlich behandelt.
„Suchen ist pure Zeitverschwendung“
OT: Sind die Daten der Kund:innen sicher?
Jaeger: Auf jeden Fall. Darauf legen wir großen Wert. Die Datenbank läuft über einen separaten Server. Neben mir haben nur zwei Leute Zugriff darauf.
OT: Stoßen Sie mit der Software auch an Grenzen?
Jaeger: Die Anforderungen von außen steigen immer mehr. Als es mit dem Auslesen der Krankenkassenkarten losging, waren meine Mitarbeiter skeptisch, ob ich das hinkriege. Letztendlich hat das aber problemlos funktioniert. Wie wird das künftig mit dem E‑Rezept laufen? Vielleicht sind die Anforderungen höher und es gibt bürokratische Hürden, die ich nicht nehmen kann und darf. Dazu bin ich bereits im Gespräch mit einer Softwareschmiede, um die Datenbank zu professionalisieren.
OT: Können Sie Betrieben, die überlegen auf eine andere Software umzusteigen, Tipps an die Hand geben?
Jaeger: Es ist wichtig, sich Prozesse anzuschauen, zu hinterfragen, ob die Handgriffe, die die Mitarbeiter machen, sinnvoll sind. Mich macht es verrückt, wenn der eine ein Werkzeug nach links und der andere es nach rechts legt. Suchen ist pure Zeitverschwendung. Das kann ich schon optimieren, indem ich die Regale beschrifte. Dieses Achten auf Kleinigkeiten sorgt für Zufriedenheit und Ruhe bei den Mitarbeitern, wenn sie sich daran gewöhnt haben. Es braucht eine Systematik, die jedem klar macht, was er zu tun hat, ohne dass man viel erklären muss. Man setzt immer voraus, dass alle denken wie man selbst. Das ist aber nicht der Fall.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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