TMR („Targeted Muscle Reinnervation“) ist eine zielgruppengeführte Wiederherstellung nervaler Versorgung durch Nervenregeneration, die durch eine bestimmte Operationstechnik erreicht wird. In der OP werden Nervenhauptstämme mit Muskelnerven verbunden (Abb. 1).
Erste Erfolge in Chicago und Wien
Dr. Todd Kuiken (Rehabilitation Institute of Chicago) hat bereits ca. 45 Patienten nach dieser Methode operiert. In Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Oskar Aszmann (Abteilung plastische Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Wien) sind bereits gute Erfolge mit dieser Operationstechnik erreicht worden. Der erste operierte Patient war doppelt Schulter-exartikuliert und konnte eine Prothese mit Hilfe der TMR-Steuerung in allen sechs Bewegungsfreiheiten hervorragend ansteuern.
Gedanken steuern
Bei der TMR-Prothesensteuerung geht es um die sogenannte „gedankengesteuerte Prothesenversorgung“. Durch die Neuinnervation von Nervenstämmen in bestimmten Muskeln bekommen diese die Ansteuerung der herkömmlichen Gefühlseinheit.
Im März 2010 wurde ein Patient in Zusammenarbeit mit der BG Unfallkinik Duisburg in Wien nach dieser Methode operiert. Der Patient ist seit dem 24. März 2001 linksseitig oberarmamputiert. Seit 2003 mit einem Dynamik-Arm versorgt, konnte der Patient sein tägliches Leben meistern. Er hat drei Kinder, steht ganztags im Arbeitsprozess, angelt in seiner Freizeit und ist begeisterter Camper. 2007 wurde eine Exzision von Neuromknoten am linken Oberarmstumpf durchgeführt. 2009 haben sich erneut Neuromknoten gebildet. Eine Operation war aufgrund der Schmerzsituation unumgänglich. Dies war der Anlass, über eine TMR-Operation nachzudenken.
Kostenträger lehnte zunächst TMR ab
Der Patient wurde im Beisein von Chefarzt Dr. Jostkleigrewe, OA Dr. Räder (BG Unfallklinik Duisburg) sowie dem Autor auf einem Symposium im Januar 2010 in der Universitätsklinik Wien vorgestellt.
Anschließend schickte man dem zuständigen Kostenträger einen Erstbericht und einen Kostenvoranschlag für die entsprechende Operation. Im März 2010 wurde diese OP abgelehnt, mit der Begründung, dass sich die TMR noch in der experimentellen Phase befinde.
In einer erneuten Vorstellung des Patienten wurde diese Aussage eingehend diskutiert und entsprechend beantwortet:
- Die TMR-Operation ist aus dem Stadium der experimentellen Phase herausgetreten.
- Bei der TMR-Operation geht es nicht um eine Neuromentfernung, sondern um eine deutliche Verbesserung der Ansteuerung der myoelektrischen Oberarmprothese mit simultaner Steuerung mehrerer Gelenke.
- Die Neuromknotenentfernung erledigt sich durch die OP-Technik.
Aufgrund der Darlegung der bisherigen Erfolge wurde die Operation im Juli 2010 genehmigt und zwei Monate später in Wien durch Prof. Dr. Aszmann unter Assistenz von OA Dr. Räder (BG Unfallklinik Duisburg) durchgeführt.
In dieser OP werden Nervenhauptstämme mit anderen Muskelnerven verbunden. In einer schematischen Darstellung werden die zu innervierenden Muskeln und Nerven zunächst aufgezeichnet, um den Operationsvorgang zu planen. In einer vierstündigen Operation wurden vier Muskelgruppen am linken Oberarmstumpf mit bisher funktionslosen Nervenstämmen neu innerviert (Abb. 2).
- Nervus ulnaris wurde umgeleitet auf das Caput breve des M. bizeps. Ziel: Muskelkontraktion bei dem Gedanken „Fingerbeugung“. Caput longum des M. bizeps ist weiterhin durch N. musculocutaneus innerviert zur Beugung des Ellenbogengelenkes.
- Nervus medianus wurde umgeleitet auf Reste des M. brachialis. Ziel: Muskelkontraktion bei dem Gedanken „Unterarmpronation“.
- Ramus profundus des N. radialis wurde umgeleitet auf a) Caput laterale triceps, mit dem Ziel Muskelkontraktion bei dem Gedanken „Fingerstreckung“.
- Ramus profundus des N. radialis wurde umgeleitet auf b) M. brachioradialis, mit dem Ziel Muskelkontraktion bei dem Gedanken „Unterarmsupination“.
Dynamik-Prothese konnte weiter getragen werden
Hervorzuheben ist, dass der Patient nach Wundheilung seinen alten Dynamik-Arm wie gewohnt tragen und durch die Signale von Bizeps und Trizeps ohne Probleme ansteuern konnte. Es gab nach dieser Operation keinerlei Beeinträchtigung in der herkömmlichen Nutzung der Prothese im täglichen Bereich und der Patient trägt die Prothese ca. 14 Stunden pro Tag.
Anfänglich wurde dem Patienten Lyrika als Schmerzmittel verordnet. Nach zwölf Monaten benötigte er keine Schmerzmittel mehr. Neuromschmerzen sind seit der TMR-Operation völlig verschwunden.
Nach der OP fanden in regelmäßigen Abständen Kontrollen in Wien und in Duisburg statt. Bei den Kontrollen in Wien wurden jeweils EMG-Nadelmessungen durchgeführt, um das Reinnervationsstadium zu messen. Bereits in der Untersuchung vom 9. Februar 2011 waren die neu gewonnenen Signale teilweise schon, wenn auch sehr schwach, ableitbar (Abb.3). Der Patient klagte zu diesem Zeitpunkt über Schmerzen, die vor ca. sechs Wochen aufgetreten waren. Diese Art von Schmerzen, plötzliche stromschlagähnliche Symptome, sind typisch für die Reinnervation und waren zu erwarten. Denn sie sind ein Zeichen für das Wachstum des Nervs in den Muskel.
Drei Monate später waren in allen untersuchten Muskeln Potenziale im mittleren sowie frühen Reinnervationsstadium mit jeweils guter isolierter Ansteuerung nachweisbar. Bereits in der Untersuchung vom 13. September 2011 waren sämtliche untersuchten Muskeln im Vergleich zum Vorbefund vom Mai 2011 im Reinnervationsstadium weiter fortgeschritten. In den letzten 12 Monaten sind fünf Testschäfte von Nöten gewesen, um den veränderten Bedingungen Rechnung zu tragen (Abb. 4).
Nach dem derzeitigen Stand der Versorgung trägt der Patient seit Ende April 2012 einen Schaft mit sechs Elektroden, alle vier zusätzlichen Signale sind abrufbar, alle vier zusätzlichen Bewegungen sind ansteuerbar.
In der derzeitigen Phase wird die Trennung der Signale geübt, um die Prothese synchron ansteuern zu können. Dies heißt z. B., dass der Patient beim Beugen des Ellenbogens gleichzeitig die Hand öffnen und beim Strecken des Ellenbogens die Hand schließen kann.
Verschiebung des Muskelsignals
Die Pro- und Supination wird seit Oktober 2012 zwischenzeitlich zu Übungszwecken zugeschaltet. Dabei hat sich herausgestellt, dass sich das Signal für die Supination, die nun von dem M. brachioradialis durchgeführt wird, verschoben hat (Abb. 5).
Eine Neupositionierung ist somit notwendig (Abb. 6). Das bedeutet, dass ein neuer Schaft von Nöten ist.
Derzeit sind in dem Prothesenschaft die sechs Elektroden als Saugelektroden eingebaut. Zu einem späteren Zeitpunkt ist eventuell auch an einen HTV-Schaft zu denken, der aktuell noch nicht zum Tragen kommt.
Simultane Bewegungsmöglichkeiten bieten mehr Lebensqualität
Das derzeitige Ergebnis zeigt, dass die TMR-Operation ein probates Mittel ist, um oberarmamputierten Patienten aufgrund von simultanen Bewegungsmöglichkeiten ein Mehr an Lebensqualität zu bieten. Wünschenswert sind bessere und kleinere Elektroden, um den Platz im Schaft besser nutzen zu können. Auch ist es wünschenswert, in Zukunft den Dynamik-Arm mit einer Michelangelo-Hand und den entsprechenden diversen Greifmöglichkeiten ausstatten zu können.
Bisher funktionslose Nerven haben neue Aufgaben
Aufgrund der Tatsache, dass die bisher funktionslosen Nerven eine neue Aufgabe erhalten haben, ist eine Entstehung von weiteren Neuromknoten unwahrscheinlich.
Unser Wunsch ist es gewesen, nach anderthalb Jahren eine einwandfreie Ansteuerung der Prothese dokumentieren zu können. Es hat sich aber herausgestellt, dass neue Entwicklungen Zeit benötigen und dass man auch dem Nerv die Zeit geben muss, in seinen neuen Bereich hineinzuwachsen, um Bewegungen und Aktivitäten ausführen zu können.
Dynamikarm unterbrach Lernkurve des TMR
Im Oktober 2012 wurden alle Positionen der Elektroden erneut kontrolliert und optimiert. In der Schaftanprobe hat sich gezeigt, dass der Stumpf keinen Endkontakt im Schaft besitzt. Da die Elektroden für Pro- und Supination sehr weit distal liegen, ist ein Endkontakt nicht nur gewünscht, sondern zwingend notwendig. Somit sind die Probeschäfte Nummer 7 und 8 hergestellt geworden. In dieser Phase werden alle sechs Signale freigeschaltet und beübt. Dafür ist ein separater TMR-Ellenbogen mit Testschaft und separaten Elektroden notwendig, damit der Patient auf seine derzeitige TMR-Oberarmprothese nicht verzichten muss. Wir haben festgestellt, dass der Gebrauch des „normalen“ Dynamikarms die Lernkurve der TMR durch die Ansteuerung der Hand und des Ellenbogens durch Bizeps und Trizeps derart stark unterbricht, dass die Nutzung der TMR-Einheit einen zeitlichen Rückschlag erfährt. Für diesen Zeitraum wird eine komplette TMR-Einheit zur Verfügung gestellt. Ein weiter Schritt wird die Austestung eines HTV-Schaftes sein, nachdem mit dem letzten Probeschaft alle Signale ansteuerbar sind (Abb. 7a u. b).
Zusammenfassung
- Die TMR-Operation ist aus Sicht der Autoren über das Stadium der experimentellen Phase hinweg.
- Die TMR-Operation ermöglicht aus Sicht der Autoren einem Patienten eine deutliche Verbesserung der Ansteuerung einer myoelektrischen Prothese, mit der Möglichkeit einer simultanen Ansteuerung mehrerer Muskelgruppen.
- Das Tragen einer vorherigen myoelektrischen Versorgung ist voraussichtlich auch nach der OP durchführbar, da die bereits innervierten Muskeln nicht tangiert werden.
- Man sollte sich einen Zeitrahmen von ca. 24 Monaten setzen, bis ein stabiles Ergebnis vorzeigbar ist.
- Der zu operierende Patient benötigt eine gründliche Aufklärung, Geduld und das Verständnis für mittelfristige Erfolge.
- Es ist ein Weg von ca. 12 Monaten, bis das Schmerzempfinden nachlässt.
Für die Autoren:
Dipl. OTM Thomas Münch
Großenbauer Allee 250
47249 Duisburg
th.muench@muench-hahn.de
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
Münch Th, Räder M. TMR-Methode verbessert die Nutzung einer myoelektrischen Prothese – Erste Erfahrungen mit einer TMR-Versorgung. Orthopädie Technik, 2013; 64 (2): 22–25
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