Die folgenden Ausführungen sind somit als ergänzende Stellungnahme eines Fachexperten zur Verdeutlichung einer dringend notwendigen Verbesserung der Versorgung von Menschen mit einer Gliedmaßen-Amputation der unteren Extremität auf der Basis der hervorragenden klinischen Arbeit der hannoverschen Kolleginnen und Kollegen zu verstehen. Denn es ist an der Zeit, endlich ein vielfältiges, damit schwer zu lösendes, aber schon seit Langem bekanntes Problem in Angriff zu nehmen: Dies kann nur durch eine adäquate Zusammenarbeit und Diskussion unter den beteiligten drei Berufsgruppen (Ärztinnen und Ärzte, Physiotherapeutinnen und ‑therapeuten sowie Orthopädietechnikerinnen und ‑techniker) gelingen, um letztlich der Politik aussagekräftige Fakten für hoffentlich positive Entscheidungen vorlegen zu können.
Der Autor dieser Stellungnahme, Priv.-Doz. Dr. med. habil. Lutz Brückner, ist Facharzt für Orthopädie sowie Facharzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation. Er hat 46 Jahre lang seine Patientinnen und Patienten prä‑, intra- und postoperativ behandelt und sie 18 Jahre lang parallel auch in der Rehabilitation begleitet. Dadurch konnte er eigene Erfolge und Misserfolge über den kompletten Behandlungsablauf hinweg verfolgen. Dies ist in Deutschland keineswegs üblich – im Normalfall behandeln im Wesentlichen die drei an der Versorgung von Menschen mit Amputation beteiligten Berufsgruppen Patientinnen und Patienten einzeln und unabhängig voneinander – von Teamarbeit kann dabei häufig nicht gesprochen werden.
Im Folgenden wird so vorgegangen, dass zentrale Befunde aus der Studie zu wichtigen Aspekten in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Text wiedergegeben und anschließend aus Sicht des Autors kommentiert werden.
Aspekt der fehlenden Spezialisierung
Befund aus der Studie
„Nur sehr wenige Akut- und Rehabilitationskliniken sind auf diese Patientengruppe [gemeint sind Menschen mit Amputationen der unteren Extremität proximal des Fußes (Majoramputationen); d. Verf.] spezialisiert. Gründe für die fehlende Spezialisierung sind die relative Seltenheit von Majoramputationen bezogen auf Fläche und Einwohnerdichte sowie der hohe Aufwand für die benötigte individuelle Versorgung bei vergleichsweise geringen Standard-Vergütungssätzen in der Rehabilitation.“
Kommentar
Die Folgen der von den Autoren beklagten fehlenden Spezialisierung macht sich nach den Erfahrungen des Autors u. a. an einer relativ großen Zahl von Stumpfrevisionen (+ 64 %) bemerkbar.
Aspekt der Amputationshöhe
Befund aus der Studie
„Die transfemorale Amputation stellt weiterhin die häufigste Amputationshöhe dar.“
Kommentar
Weltweit wird die Senkung der transfemoralen Amputationen zugunsten der transtibialen Amputation angestrebt. In Deutschland gibt es Regionen, in denen dieses Ziel (Unterschenkelamputation: Oberschenkelamputation = 2 bis 3:1) schon einmal erreicht wurde; es gibt aber auch Regionen, in denen das Verhältnis genau umgekehrt ist. Damit ist eine adäquate Rehabilitation nur eingeschränkt möglich; die betroffenen Patienten sind mitunter sogar nur rollstuhlfähig.
Aspekt fehlendes Amputationsregister
Befund aus der Studie
„Eine Aussage über die Prävalenz kann aufgrund eines in Deutschland noch fehlenden Amputationsregisters nicht getroffen werden.“
Kommentar
Das Fehlen eines Amputationsregisters hat zur Folge, dass keine valide Aussage über die folgenden Aspekte getroffen werden kann:
- über die regionale Amputationshöhe,
- über die Wundheilung,
- über den Zeitpunkt der Konsolidierung des Stumpfes und somit den Zeitpunkt einer prothetischen Versorgung sowie
- über das Rehabilitationsergebnis.
Insofern fehlt ein Überblick über die Auswirkungen der prothetischen Versorgung in Deutschland. So wäre mittels eines Amputationsregisters möglicherweise aufgefallen, dass Versorgungen mit einem Liner in der besonders sensiblen unmittelbaren postoperativen Phase nicht immer das geeignete Verfahren sind.
Aspekt der Zuständigkeit verschiedener Fachbereiche
Befund aus der Studie
„Majoramputierte Patient:innen zeichnen sich durch eine hohe Heterogenität aus. Dies betrifft sowohl die Amputationsursache und damit zusammenhängend die Altersstruktur als auch die Ausprägung der Multimorbidität. […] Entsprechend den verschiedenen Ursachen sind daher unterschiedliche chirurgische Fachrichtungen für die Amputation verantwortlich (z. B. Gefäßchirurgie, Unfallchirurgie, Tumorchirurgie). Folglich werden auch in den weiteren Behandlungen unterschiedliche Rehabilitationsschwerpunkte gesetzt, obwohl in allen Fällen eine Majoramputation durchgeführt wurde.“
Kommentar
Durch fehlende Schwerpunktkliniken und die fehlende Spezialisierung chirurgisch tätiger Kolleginnen und Kollegen fehlt eine Bündelung von theoretischem Wissen und operativen Fertigkeiten, um als verantwortlicher Chirurg bzw. verantwortliche Chirurgin das Behandlungsteam (inklusive Physiotherapie und Orthopädietechnik) zu koordinieren. Mindestens einmal pro Woche wäre eine Team-Visite angezeigt. Dabei wären folgende Aspekte gemeinsam zu begutachten:
- Stumpf,
- Zeitpunkt des Beginns der prothetischen Versorgung,
- Gang,
- Probleme beim An- und Ausziehen der Prothesen etc.
Aspekt der Störung des Heilungsverlaufs aufgrund des hohen Entlassungsdrucks
Befund aus der Studie
„Weiterhin wurde von den Autoren beobachtet, dass Akutkrankenhäuser aufgrund des Verlegungs- und Entlassungsdrucks beinamputierte Patient:innen entweder nach Hause bzw. in Kurzzeitpflege entlassen und dadurch die notwendige Einleitung der Rehabilitation in die Verantwortung der Hausärztin bzw. des Hausarztes legen (Heilverfahren) oder nahtlos eine stationäre Anschlussrehabilitation (AR/AHB) einleiten.“
Kommentar
Bei der Operation wird die Muskulatur, die vorher nicht atrophiert und gut durchblutet ist, durch die Resektion des Muskels gestört. Die Folgen sind Atrophie und Minderung der Durchblutung sowie eine sogenannte fettige Degeneration. Solche Veränderungen haben über die Zeit einen zunehmenden Verlust der Prothesenführung zur Folge.
Bei der Stumpfbildung muss also darauf geachtet werden, dass der Muskel weitestgehend unter physiologischer Vorspannung am Knochen befestigt wird. So darf nach Auffassung des Autors z. B. bei einer Unterschenkelamputation der dorsale Haut-Muskel-Lappen nicht nach dorsal schlaff durchhängen, sondern muss annähernd der normalen Muskelspannung entsprechen. Das Problem: Durch fehlende Kenntnisse seitens Ärztinnen und Ärzten, Physiotherapeutinnen und ‑therapeuten sowie Orthopädietechnikerinnen und ‑technikern kann es aufgrund des in der Studie angesprochenen unzeitigen Entlassmanagements selbst bei noch so exakter Operationstechnik bei zu früher postoperativer Belastung gelegentlich zu einem Abriss der Muskulatur und somit zu den entsprechenden negativen Folgen für den Stumpf kommen.
Es ist deshalb aus Sicht des Autors zu fordern, dass Physiotherapeutinnen und ‑therapeuten bzw. Orthopädietechnikerinnen und ‑techniker während ihrer Ausbildung mindestens zweimal an einer Amputationsoperation teilnehmen, um das Gewebe vor Augen zu haben und das intraoperative Vorgehen nachvollziehen zu können. Dabei gilt es eine gewisse Vorstellung über die Konsolidierung des Stumpfes zu gewinnen. Denn erst wenn die Konsolidierungsphase abgeschlossen ist, sollte die volle Belastung des Stumpfes erfolgen. Es gilt dabei zwischen einer Wundheilung bei einer Durchblutungsstörung (je nach Grundkrankheit rund 21 Tage) und einer Wundheilung ohne Durchblutungsstörung (rund 12 bis 14 Tage) zu unterscheiden. Damit ist der Stumpf aber noch nicht konsolidiert, das heißt, er kann nach wie vor noch nicht mit vollem Gewicht belastet werden.
Die Stumpfkonsolidierung bei Lappenplastiken (z. B. bei einer Unterschenkel- oder Syme-Amputation mit Durchblutungsstörung) nimmt nach eigener Erfahrung des Autors etwa 8 bis 12 Wochen in Anspruch. Diese Zeiträume sollte man kennen, bevor man die Patientin bzw. den Patienten prothetisch versorgt bzw. bevor eine Physiotherapie mit intensiver Kraft- und Bewegungstherapie beginnen kann.
Aspekt: Folgen der zu frühen Belastung
Befund aus der Studie
Die folgende Stelle knüpft unmittelbar an die zuvor zitierte an: „Diese Unterscheidung in der Entlassungs- bzw. Verlegungsart war in beobachtbaren Fällen nicht indikations‑, sondern klinikspezifisch (historisch gewachsene Routine). Ein späterer Zugang zur Rehabilitation (Heilverfahren) hat den Vorteil, dass die Rehabilitanden mit einer fertigen Interimsprothese und einem belastbaren Stumpf in die Rehabilitation kommen können. Allerdings birgt dies die Gefahr, dass in der Zwischenzeit häufig keine rehabilitativen Maßnahmen ergriffen werden und es dadurch in besonderen Fällen zu Kontrakturen sowie immobilisationsbedingter Dekonditionierung mit all ihren Folgen kommen kann. Diese Gefahr wird noch durch formal-bürokratische Hürden verstärkt, da der Antrags- und Bewilligungsprozess bei Heilverfahren komplizierter ist als bei einer Anschlussrehabilitation und ggf. durch MDK-Prüfungen verzögert oder abgelehnt wird.“
Kommentar
Den Autorinnen und Autoren ist auch bei diesen Erkenntnissen zuzustimmen. Aus ähnlichen Überlegungen heraus hat der Autor die Begriffe „Wundheilung“ und „Stumpfkonsolidierung“ schon im Jahr 2017 1 genauer definiert und diesen Begriffen entsprechende Zeitpunkte zur prothetischen Versorgung und zur intensiveren Physiotherapie zugeordnet.
Um allen Unwegsamkeiten aus dem Wege zu gehen, hat der Autor für Menschen mit Amputation der unteren Extremitäten das neurologische Rehabilitationsmodell, Phase C, vorgeschlagen. Diesem Modell zufolge wird nach der Übernahme aus der Akutklinik nicht gleich mit der prothetischen Versorgung begonnen; zudem werden den Stumpf besonders belastende Übungen nicht schon zu Beginn durchgeführt. Die Belastungszunahme und die Versorgung mit einer Interimsprothese erfolgen erst mit zunehmender Konsolidierung des Stumpfes. Ein konsolidierter, besonders ein mit einer Lappenplastik versehener Stumpf (z. B. nach einer Unterschenkelamputation, einer Oberschenkelamputation nach Gottschalk oder einer Syme-Amputation) liegt dann vor, wenn die neu ausgerichtete Muskulatur ausreichend fest verheilt und kein Reizzustand mehr vorhanden ist.
Dieses Phasenmodell hat den Vorteil, dass klar definierte Abläufe bis zur Verlegung in die Phase D möglich sind und dass Rezidivoperationen bzw. Mehrfachversorgungen in der Interimsphase reduziert werden können.
Fazit
Angesichts der oben diskutierten Aspekte ist aus Sicht des Autors dieser Anmerkungen Folgendes festzuhalten:
- Erstens sollte die Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten, Physiotherapeutinnen und ‑therapeuten sowie von Orthopädietechnikerinnen und ‑technikern eine spezielle Amputationslehre enthalten, um in Zukunft über umfassend ausgebildetes Personal zu verfügen, das in den zentralen Einrichtungen die jeweiligen Kenntnisse im Team adäquat zusammenführen kann.
- Zweitens sollten jene Berufsgruppen, die nicht unmittelbar in die Amputation als solche involviert sind, die Möglichkeit erhalten, bei mindestens einer, besser aber bei zwei Amputationsoperationen zu hospitieren bzw. bei einer bevorstehenden schwierigen Amputation hinzugerufen zu werden, um deren Auswirkungen auf die Muskulatur des jeweiligen von einer Amputation betroffenen Menschen nachvollziehen zu können.
Es ist zu hoffen, dass die hannoverschen Kolleginnen und Kollegen mit ihren Erkenntnissen bis zu gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern vordringen, denn eine grundlegende Neuordnung der Rehabilitation nach Amputation der unteren Extremitäten scheint aus Sicht des Autors dringend notwendig zu sein.
Hinweis:
Dieser Kommentar erschien bereits in ähnlicher Form im Thieme Verlag unter: Phys Med Rehab Kuror 2022; 32: 1–3, DOI 10.1055/a‑1821–0592.
Der Autor:
Priv.-Doz. Dr. med. habil. Lutz Brückner
Naunhofer Str. 99
04299 Leipzig
BrueLu@web.de
- Brückner L. Stumpfbildung und Lebensqualität – immer wieder ein leidiges Problem. Orthopädie Technik, 2005; 56: 162–171
- Brückner L, Adler T. Der Muskel: Eine Ursache für Stumpf- und Phantomschmerzen. Orthopädie Technik, 2007; 58: 411–418
- Deutsche Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e. V. (DGIHV) (Hrsg.). Kompendium Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der unteren Extremität. Dortmund: Verlag Orthopädie-Technik, 2018
- Greitemann B, Brückner L, Schäfer M, Baumgartner R. Amputation und Prothesenversorgung. Indikationsstellung – operative Technik – Nachbehandlung – Funktionstraining. 4., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart, New York: Thieme Verlag, 2016
- Vergleich der Wirksamkeit von robotergestützter Rehabilitation und konventioneller Therapie zur Verbesserung der oberen Extremitätenfunktion bei Kindern und Jugendlichen mit Zerebralparese: eine Literaturübersicht — 3. Dezember 2024
- Das Synsys-Prothesensystem – technische und klinische Merkmale — 3. Dezember 2024
- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024