Altersgerechte Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Leben – häufig unter dem Schlagwort „Ambient Assisted Living (AAL)“ subsumiert – dienen dazu, die Lebensqualität von Menschen in allen Lebensphasen, vor allem aber im fortgeschrittenen Alter, zu erhöhen. Zu den AAL-Systemen, die die körperlichen Aktivitäten und damit die Lebensqualität auch älterer Menschen steigern sollen, zählt unter anderem die sogenannte körpernahe Sensorik. Dahinter verbergen sich technische Systeme, die in ein Gerät integriert werden, das unmittelbar am oder nah zum Körper getragen wird und mit dem die Nutzer direkt interagieren können, erklärt der Informatiker Dr. Jochen Meyer, Leiter der Forschung und Entwicklung im Bereich Gesundheit des OFFIS – Institut für Informatik e. V., eines An-Instituts der Universität Oldenburg, das neue Formen der computergestützten Informationsverarbeitung in Hard- und Softwaresystemen erforscht, im Gespräch mit der OT.
OT: Herr Dr. Meyer, können Sie uns einige Beispiele für körpernahe Sensorik und ihre Funktionsweise nennen?
Dr. Jochen Meyer: Fitnessarmbänder oder Smartwatches gehören zu den bekanntesten Produkten, die mit körpernaher Sensorik ausgestattet sind. Die eingebauten Sensoren messen
körperliche Aktivitäten oder Verhaltensweisen wie die Anzahl der zurückgelegten Schritte, Trainingsminuten oder Fahrradkilometer. Andere Sensoren können Vitalparameter wie Herzschlag oder Hautleitfähigkeit aufzeichnen. Die gemessenen Daten werden dem Nutzer auf sein Smartphone
oder Fitnessarmband übermittelt. Interessant sind dabei nicht nur die Werte als solche, sondern vor allem die daraus ableitbaren Erkenntnisse über Gesundheitsverhalten
und ‑zustand. Körpernahe Sensorik liefert somit belastbare Trendaussagen zum eigenen Verhalten und zeigt beispielsweise objektiv an, ob der Nutzer seine selbst gewählten
Aktivitätsziele erreicht hat oder nicht. Mit anderen Worten: Geräte mit körpernaher Sensorik spiegeln den Nutzern ihr Verhalten wider.
OT: Welchen Vorteil hat dies für die Nutzer?
Meyer: Es ist schwer, das eigene Verhalten zum Besseren zu verändern oder manchmal auch nur eine Änderung zum Schlechteren zu verhindern. Aber ohne Kenntnis des eigenen Verhaltens wird es sicher keine Veränderung geben. Insofern erfüllen Geräte mit körpernaher Sensorik eine wichtige Rolle: Sie liefern Erkenntnisse, auf deren Grundlage ein gutes Gesundheitsverhalten wie beispielsweise körperliche Aktivität entstehen kann. Das steigert wiederum das Wohlbefinden und damit die Lebensqualität.
OT: Gibt es belastbare Zahlen, die einen Zusammenhang zwischen Verhaltenserkenntnis und körperlichen Aktivitäten aufzeigen?
Meyer: Dieser Zusammenhang ist schon seit vielen Jahren in verschiedenen Theorien der Verhaltenspsychologie als
wesentlicher Einflussfaktor identifiziert worden. Das Wissen
über die eigene Gesundheit beeinflusst also das Verhalten. In vielen Studien ist mittlerweile auch gezeigt worden: Personen mit besserer Gesundheitsbildung leben gesünder und haben deshalb geringere Risiken beispielsweise für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
OT: Hängt es vom Lebensalter ab, inwieweit mehr Wissen
über den eigenen Gesundheitszustand zu Verhaltensänderungen führt?
Meyer: Ob der Erkenntnisgewinn beispielsweise in eine erhöhte körperliche Aktivität mündet, hängt stark von der
Motivation – nicht vom Alter – des Nutzers ab. Es gibt in diesem Zusammenhang zwei verschiedene Nutzergruppen: Die eine will ihre Leistungen steigern, die andere will gesund bleiben. Zu diesem Zweck setzen sich die einzelnen Nutzer Ziele – zum Beispiel 10.000 Schritte pro Tag zu gehen. Wird das Ziel erreicht, stellt das Aufblinken der Angabe „10.000 Schritte“ im Display eine Belohnung dar. Motivierend wirkt zudem der soziale Vergleich in der Familie oder unter Freunden. Das kann ein Ehepaar sein, das sich am Ende des Tages gemeinsam freut, weil der eine Ehepartner seine angestrebten Kilometer mit dem Rad und der andere seine Schrittzahl geschafft hat. Genauso können sich Eltern und Kinder gegenseitig bei der Erreichung ihrer individuellen Ziele unterstützen. Die Daten und die eigene Reaktion darauf können die Nutzer im Netz teilen, der Austausch ist also unabhängig von den jeweiligen Wohnorten der Nutzer. Das ist gerade auch für allein wohnende ältere Menschen spannend.
OT: Wie technikaffin schätzen Sie die Zielgruppe 65+ ein?
Meyer: Der Umgang mit technischen Entwicklungen ist keine
Frage des Alters. Wer sich als junger Mensch für Technik inte-
ressiert hat, wird sich auch im Alter damit auseinandersetzen. Viel stärker beeinflusst beispielsweise der Bildungsgrad, ob jemand affin ist, solche technischen Möglichkeiten für sich zu nutzen.
OT: Ist es realistisch, dass mehr Menschen dieser Altersgruppe
in den nächsten Jahren körpernahe Sensorik nutzen werden?
Meyer: Sicher. Wer heute 55 Jahre alt ist, nutzt selbstverständlich beruflich und privat ein Smartphone. Warum soll er in zehn Jahren – mit 65 – von der Nachfolgetechnik des heutigen Smartphones keinen Gebrauch machen? Zum anderen werden die Nutzungsmöglichkeiten körpernaher Sensorik in Zukunft weiter ausgebaut und deshalb noch mehr Menschen erreichen. Ich halte es für denkbar, dass wir in wenigen Jahren per körpernaher Sensorik auch im Alltag ständig wechselnde Daten wie den Blutzucker oder die
Atmungsgeschwindigkeit und damit das Stressniveau
messen können. Das wären echte Alltagshilfen für Patienten, die unter den Volkskrankheiten Diabetes mellitus oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden. Diabetespatienten müssten sich nicht mehr ständig selbst stechen, um ihren Blutzuckergehalt zu messen, und Herz-Kreislauf-Patienten könnten ihr Risiko senken, einen Herzinfarkt zu erleiden. Beides steigert die Lebensqualität.
OT: Sollten Angehörige oder Pflegende ältere Menschen
motivieren, solche Assistenzsysteme zu verwenden?
Meyer: Unbedingt! Pflegende können ihren Angehörigen bzw. ihren Patienten den Nutzen dieser Technik vermitteln und ihnen dann beim Einstieg helfen. Langfristig führen die gemessenen Daten nur zur Steigerung körperlicher Aktivitäten, wenn der Nutzer selbst motiviert ist. Dabei ist es hilfreich, wenn er mit der Anwendung nicht alleingelassen wird, sondern eine Art Sparringspartner hat.
OT: Welche Rolle kann der Sanitätsfachhandel dabei spielen?
Meyer: Fitnessarmbänder oder Smartphones, die mit körpernaher Sensorik ausgestattet sind, sind bisher nur in Elektronik-Fachmärkten oder im Internet erhältlich. Spätestens wenn der Kunde den Kassenbereich verlassen hat, ist er auf sich gestellt. Der Sanitätsfachhandel hingegen hat eine viel größere Kompetenz, den gesundheitlichen Nutzen solcher Geräte zu vermitteln und den jeweiligen Kunden dahingehend zu beraten, welche Daten und Ziele für ihn wichtig sind. Außerdem kann er ihn bei der Auswertung der Daten unterstützen. Auf Vertrauen basierende Beratung, Betreuung und Begleitung – dafür steht der Gesundheitsfachhandel, auch im digitalen Zeitalter.
OT: Welche Risiken bestehen in Bezug auf den Missbrauch der gesammelten personenbezogenen Daten?
Meyer: Die Daten werden bei fast allen Geräten auf den Servern der jeweiligen Anbieter gespeichert. Das hat den Vorteil, dass sie nicht verlorengehen. Natürlich besteht immer das Risiko der Weitergabe von Daten an Dritte. Jeder Nutzer
muss für sich entscheiden, welchem Anbieter er seine Daten anvertraut. Aber für sich allein betrachtet handelt es sich dabei oftmals gar nicht um besonders sensible Daten. Angaben wie Schrittzahlen oder Herzfrequenz sind für uns selbst und vielleicht für den Arzt unseres Vertrauens interessant, haben ohne weiteren Kontext aber nur wenig Aussagekraft. Da geben wir täglich freiwillig viel mehr preis.
OT: Wie hoch sind die Kosten, die für die verschiedenen
Systeme auf die Nutzer zukommen?
Meyer: Die meisten Fitnessarmbänder oder ‑tracker kosten aktuell zwischen 50 und 100 Euro. Wie immer gibt es nach oben keine Grenze. Aktuell übernehmen die Krankenkassen keine Kosten für die Anschaffung solcher Geräte.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
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