Sko­lio­se-Cobb-Win­kel – ein Ver­gleichs­wert mit Schwächen

A. Selle, J. Seifert
Der Cobb-Winkel ist seit vielen Jahrzehnten der wichtigste Vergleichswert zur Beurteilung von Skoliosen und zur Einteilung entsprechender Therapieschritte. Er hat jedoch entscheidende Schwächen, die insbesondere bei langbogigen und/oder stark rotierten Krümmungen zu gravierenden Fehleinschätzungen und zur Verschleppung notwendiger Therapien führen können. Da sich das tatsächliche Ausmaß einer skoliotischen Deformität im dreidimensionalen Raum nur schwer quantifizieren lässt, wird der Cobb-Winkel auf absehbare Zeit ein wichtiger Referenzwert bleiben. Es ist umso bedeutsamer, seine Schwächen zu kennen und bei betreffenden Szenarien andere Parameter in die Therapie-Entscheidung einzubeziehen.

Ein­lei­tung

Es ist nicht Ziel des Arti­kels, den Cobb-Win­kel als Refe­renz­wert der Sko­lio­se­dia­gnos­tik und ‑the­ra­pie grund­sätz­lich in Fra­ge zu stel­len, son­dern in ver­ständ­li­cher Form auf sei­ne wich­tigs­ten Schwä­chen hin­zu­wei­sen und die Ein­be­zie­hung wei­te­rer Kri­te­ri­en in eine The­ra­pie-Ent­schei­dung anzuregen.

Eine kom­ple­xe, mathe­ma­tisch kor­rek­te Betrach­tung der The­ma­tik und ihre Über­tra­gung in die täg­li­che Pra­xis von Ärz­ten, Ortho­pä­die-Tech­ni­kern und The­ra­peu­ten scheint auch heu­te noch zum Schei­tern ver­ur­teilt. Die Bestim­mung kor­rek­ter 3‑D-Para­me­ter sko­lio­ti­scher Ver­krüm­mun­gen ist ein über­aus kom­pli­zier­ter mathe­ma­ti­scher Pro­zess. Die sko­lio­ti­sche Defor­mi­tät stellt eine kom­ple­xe Ver­for­mung dar, deren Ein­zel­kom­po­nen­ten nicht zwei­fels­frei von­ein­an­der zu tren­nen sind. Die phy­sio­lo­gi­schen Krüm­mun­gen der Wir­bel­säu­le (Kypho­se und Lor­do­se) und ihre jewei­li­gen 3‑D-Para­me­ter „ver­schmel­zen“ mit den patho­lo­gi­schen 3‑D-Kom­po­nen­ten der sko­lio­ti­schen Kippung/Verschiebung/Rotation/Torsion ein­zel­ner Wir­bel, Wir­bel­säu­len­ab­schnit­te bzw. des kom­plet­ten Achsorgans.

Allein die kor­rek­te Defi­ni­ti­on der Para­me­ter der Defor­mi­tät hat schon vor Jahr­zehn­ten gan­ze Arbeits­grup­pen beschäf­tigt 1. Obwohl der­ar­ti­ge ter­mi­no­lo­gi­sche Stu­di­en mehr Klar­heit in das drei­di­men­sio­na­le Gesche­hen gebracht haben, hat sich die dif­fe­ren­zier­te Betrach­tung in der kli­ni­schen Pra­xis bis­her nicht durch­ge­setzt. Dort ist auch heu­te in der Regel ein ein­fa­ches, ver­ständ­li­ches und pra­xis­taug­li­ches Ver­fah­ren erfor­der­lich. Die­se Anfor­de­run­gen erfüllt der Cobb-Win­kel zunächst durch­aus. Er lie­fert einen ver­gleich­ba­ren Zah­len­wert, lässt sich ver­gleichs­wei­se ein­fach bestim­men und ist über die AP-Rönt­gen­auf­nah­me sowohl vor als auch wäh­rend einer The­ra­pie rela­tiv preis­wert erfass­bar. Das erhält ihm seit Jahr­zehn­ten sei­nen Sta­tus als Referenzwert.

Den­noch hat der Cobb-Win­kel ent­schei­den­de Schwä­chen. Zunächst wer­den vie­le Leser die Dis­kus­si­on zur Strah­len­be­las­tung sowie zu Mess­feh­ler­schwan­kun­gen („inter-/in­tra-exami­ner varia­bi­li­ty“) ken­nen. Des Wei­te­ren ergibt sich durch die Diver­genz der Rönt­gen­strah­len ein ent­spre­chen­der Feh­ler, der wie­der­um u. a. von der Plat­zie­rung des Zen­tral­strahls abhängt. All die­se Feh­ler las­sen sich jedoch durch gewis­se Stan­dards zumin­dest so weit redu­zie­ren oder ver­ein­heit­li­chen, dass sie den Sta­tus des Cobb-Win­kels als Ver­gleichs­wert zunächst nicht grund­sätz­lich in Fra­ge stellen.

Die weit­aus bedeu­ten­de­ren Fehl­ein­schät­zun­gen gehen mit der Tat­sa­che ein­her, dass der in der Rönt­gen­auf­nah­me gemes­se­ne Win­kel­wert letzt­lich nur das 2‑D-Schat­ten­bild einer Krüm­mung dar­stellt und damit nicht den wah­ren Nei­gungs­win­kel der ent­spre­chen­den Neu­tral­wir­bel im Raum reprä­sen­tiert. Der Grad der Rotation/Torsion bleibt bei der Cobb- oder Fer­gu­son-Win­kel­mes­sung in der 2‑D-Pro­jek­ti­on gänz­lich unbeachtet.

Eine rotier­te Kur­ve stellt sich im Schat­ten­bild aber immer ver­fälscht dar. Als Bei­spiel sei hier zunächst die ein­fa­che, kom­plet­te Rota­ti­on einer tech­ni­schen Kur­ve im Raum auf­ge­führt (Abb. 1). Dabei wird sicht­bar, dass sich der Krüm­mungs­win­kel der 2‑D-Pro­jek­ti­on einer Kur­ve durch Rota­ti­on erheb­lich ver­än­dert. Der tat­säch­li­che Win­kel­wert der Kur­ve liegt unver­än­dert bei 57°. Den­noch misst man in der 2‑D-Pro­jek­ti­on bei 30° Rota­ti­on nur noch 48° und bei 45° Rota­ti­on nur noch 38°. Somit wür­de bei einem etwa­igen Rönt­gen­bild allein durch Rota­ti­on von 45° ein Drit­tel der Krüm­mung „unsicht­bar“.

Lei­der folgt die sko­lio­tisch defor­mier­te Wir­bel­säu­le sehr viel kom­pli­zier­te­ren Mecha­nis­men. Sie rotiert nicht ein­fach um eine mitt­le­re Lot­li­nie, son­dern ein­zel­ne Wir­bel und Wir­bel­säu­len­ab­schnit­te rotie­ren bzw. ver­dre­hen sich im Sin­ne einer Tor­si­on jeweils antei­lig um ver­schie­de­ne Refe­renz­ach­sen. Zudem sind ein­zel­ne Wir­bel selbst im Sin­ne einer Tor­si­on defor­miert 1 2 3. Zu alle­dem täu­schen zusätz­lich phy­sio­lo­gi­sche Kypho­se und Lor­do­se bei Rota­ti­on im Rönt­gen­bild sko­lio­ti­sche Krüm­mun­gen vor und verringern/erhöhen den gemes­se­nen Cobb-Winkelwert.

Die Begrif­fe „Rota­ti­on“ und „Tor­si­on“ wer­den im Zusam­men­hang mit sko­lio­ti­schen Defor­mi­tä­ten in der Lite­ra­tur nicht ein­heit­lich ver­wen­det 2 3. Es ist nicht Ziel des Arti­kels, die Ter­mi­no­lo­gie zuzu­ord­nen und exakt zwi­schen Rota­ti­ons- und Tor­si­ons­kom­po­nen­ten zu unter­schei­den, son­dern viel­mehr den grund­sätz­li­chen, ent­schei­den­den Ein­fluss der Trans­ver­sal­ebe­ne zur Spra­che zu bringen.

Die gra­vie­rends­ten Feh­ler des Cobb-Winkels

1. Ver­nach­läs­si­gung von Rotation/Torsion

Wie auf­ge­zeigt, reprä­sen­tiert der Cobb-Win­kel in kei­ner Wei­se den Anteil einer sko­lio­ti­schen Defor­mi­tät in der Trans­ver­sal­ebe­ne. Die drei­di­men­sio­na­le Defor­mi­tät wird auf dem Rönt­gen­film in ein 2‑D-Schat­ten­bild „gepresst“. Rota­ti­on und Tor­si­on blei­ben anhand der Struk­tu­ren für das geüb­te Auge zwar sicht­bar, aber für die Cobb-Win­kel-Mes­sung gehen sie ver­lo­ren. Damit erhal­ten völ­lig unter­schied­li­che Krüm­mun­gen iden­ti­sche Cobb-Beur­tei­lun­gen 1.

Hin­ter einem Cobb-Win­kel der BWS von 35° kann sich z. B. die rei­ne Seit­nei­gung der Wir­bel­kör­per ohne wesent­li­che Tor­si­on ver­ber­gen, die sich über einen ent­spre­chen­den Wir­bel­säu­len­ab­schnitt auf 35° sum­miert. Genau­so gut kann sich hin­ter die­sem Win­kel eine 50°-Krümmung mit einem zusätz­li­chen Rota­ti­ons­in­dex von 40° ver­ber­gen. Bei­de Sze­na­ri­en erzeu­gen in etwa den iden­ti­schen Cobb-Win­kel von 35° und wer­den all­zu oft the­ra­peu­tisch gleich behan­delt (in die­sem Fall wer­den sie einer Ganz­tags­kor­sett-The­ra­pie zugeordnet).

Die bei­den Sze­na­ri­en erzeu­gen aber höchst unter­schied­li­che tat­säch­li­che Defor­mi­tä­ten, Tho­ra­x­quer­schnit­te und Lun­gen­vo­lu­mi­na. Eine 50°-Krümmung, die auf­grund einer beträcht­li­chen Tor­si­on im Rönt­gen nur 35° Cobb anzeigt, kann längst eine OP-Indi­ka­ti­on ver­kör­pern, wird aber als sol­che oft nicht wahr­ge­nom­men, da die Rotation/Torsion der BWS den Cobb-Win­kel künst­lich redu­ziert (Abb. 2).

2. Ver­nach­läs­si­gung der Reich­wei­te ein­zel­ner Krümmungen

Der zwei­te wich­ti­ge Para­me­ter, den der Cobb-Win­kel sträf­lich unter­schlägt, ist die Reich­wei­te einer Krüm­mung. Schon das Krüm­mungs­mus­ter der Sko­lio­se lässt eine gewis­se Ein­ord­nung sko­lio­ti­scher Defor­mi­tä­ten zu (Abb. 3). Mehr­bo­gi­ge Krüm­mun­gen tei­len sich in die Län­ge der Wir­bel­säu­le und kön­nen als Ein­zel­krüm­mun­gen kei­ne extrem lan­gen Wir­bel­be­rei­che über­span­nen. Sie schwin­gen kurz, haben meist nur einen ein­zel­nen Neu­tral­wir­bel, erzeu­gen deut­lich mess­ba­re Win­kel­wer­te und wer­den somit sel­ten unter­schätzt. Ein­bo­gi­ge Krüm­mun­gen kön­nen sich hin­ge­gen über lan­ge Wir­bel­säu­len­ab­schnit­te erstre­cken. Sie haben oft meh­re­re par­al­le­le Neu­tral­wir­bel, die zum Krüm­mungs­be­reich gehö­ren (Abb. 4); damit kön­nen sie selbst bei mitt­le­ren Win­kel­wer­ten enor­me Defor­mi­tä­ten erzeu­gen (zuge­hö­ri­ge Pati­en­tin sie­he Abb. 2).

Der Cobb-Win­kel erfasst die Krüm­mungs­reich­wei­te nicht. Es wäre ein sehr kom­ple­xes Unter­fan­gen, die Kor­re­la­ti­on von Krüm­mungs­reich­wei­te und Defor­mi­tät zu quan­ti­fi­zie­ren. Eine gute „visu­el­le“ Abschät­zung der Schwe­re einer Defor­mi­tät kann man aber leicht durch die Flä­chen zwi­schen der C7-S1-Ver­bin­dungs­li­nie und der Mit­tel­li­nie der Wir­bel­kör­per erhal­ten (sie­he Abb. 3).

Im drei­di­men­sio­na­len Raum sind die­se Flä­chen nur schwer erfass­bar – zum einen wür­de das ent­we­der ent­spre­chen­der Schräg­auf­nah­men oder aber einer 3‑D-Rekon­struk­ti­on bedür­fen, zum ande­ren wür­den sie auch in die­sen Auf­nah­men nur als Sum­me von Sko­lio­se plus Kyphose/Lordose dar­ge­stellt. In der 2‑D-Pro­jek­ti­on wird der tat­säch­li­che Flä­chen­in­halt zwar wie­der­um um den Rota­ti­ons-/Tor­si­ons­an­teil redu­ziert „in die Ebe­ne gepresst“ dar­ge­stellt, aber den­noch kann die Grö­ße der pro­ji­zier­ten Flä­che ein wich­ti­ges Maß für die Schwe­re von Sko­lio­sen sein – zumin­dest der Effekt der Krüm­mungs­reich­wei­te wird damit visu­ell erfasst. Der Flä­chen­in­halt zwi­schen der pro­ji­zier­ten „ver­te­bral body line“ (sie­he Abb. 3) 1 und der C7-S1-Ver­bin­dungs­li­nie beschreibt das Aus­maß der sko­lio­ti­schen Defor­mi­tät umfas­sen­der als der blo­ße Cobb-Win­kel. Der gro­ße Nach­teil: Die­ser Flä­chen­in­halt ist schlecht „mess­bar“.

Zur Ver­deut­li­chung wer­den im Fol­gen­den Bei­spie­le für Rönt­gen- und kli­ni­sche Befun­de von ein- und mehr­bo­gi­gen Sko­lio­sen mit­ein­an­der verglichen:

Mode­ra­te Sko­lio­sen (20°–25°)

Die 12-jäh­ri­ge Pati­en­tin (Abb. 5a) hat zwei aus­ge­gli­che­ne Krüm­mun­gen von 22° und 23° Cobb. Bei­de Krüm­mun­gen haben mode­ra­te Reich­wei­ten und Ver­dre­hun­gen. Somit ergibt sich in Vornei­ge nur ein mini­ma­ler Rip­pen­bu­ckel und Len­den­wulst. Die meis­ten Ortho­pä­den wür­den wahr­schein­lich kei­ner­lei Kor­sett­ver­sor­gung ver­ord­nen. Alter­na­tiv wäre ein iso­lier­tes Nacht­kor­sett zur Pro­gre­di­enz­ver­mei­dung gerecht­fer­tigt und völ­lig ausreichend.

Ganz anders die knapp 12-jäh­ri­ge Pati­en­tin in Abbil­dung 5b. Der Cobb-Win­kel der lan­gen, ein­bo­gi­gen Krüm­mung beträgt zwar nur 20°. Den­noch ver­ur­sacht die lan­ge Ein­zel­krüm­mung eine beträcht­li­che Tho­rax­de­for­mi­tät, die durch eine Nacht­be­hand­lung allein kei­nes­falls kor­ri­gier­bar ist. In die­sem Fall ist trotz des mil­den Win­kel­werts bereits die nächs­te The­ra­pie­stu­fe, sprich eine Ganz­tags-Kor­sett­be­hand­lung, angezeigt.

Mit­tel­schwe­re Sko­lio­sen (25°–35°)

Sko­lio­sen mit mitt­le­ren Win­kel­wer­ten wer­den im Wachs­tums­al­ter in der Regel ganz­tags im Kor­sett behan­delt. Inso­fern gibt es kei­ne the­ra­peu­ti­schen Unter­schie­de der bei­den Sze­na­ri­en. Aus­ge­gli­che­ne, kurz­bo­gi­ge Dop­pel­krüm­mun­gen ver­ur­sa­chen aber auch hier deut­lich gerin­ge­re Tho­rax­de­for­mi­tä­ten (Abb. 6a) als ver­gleich­ba­re lan­ge, ein­bo­gi­ge Krüm­mun­gen (Abb. 6b).

Höher­gra­di­ge Sko­lio­sen im Grenz­be­reich zur OP (35°–50°)

Die Prin­zi­pi­en sind für alle Win­kel­be­rei­che gleich. Im Grenz­be­reich zur OP sind die Tho­rax­de­for­mi­tä­ten der ein­bo­gi­gen Krüm­mun­gen jedoch ent­spre­chend extrem. Auch hier sind die Defor­mi­tä­ten von dop­pel­bo­gi­gen Krüm­mun­gen oft­mals deut­lich gerin­ger. Die Sko­lio­se der 15-jäh­ri­gen Pati­en­tin in Abbil­dung 7b hat nur 38° und gehört nach klas­si­schem Cobb-Indi­ka­ti­ons­sche­ma in den Kor­sett­be­reich. Eine der­ar­ti­ge Tho­rax­de­for­mi­tät ist jedoch mit Kor­sett-Tech­nik nicht beherrsch­bar, zumal sich eine ein­sei­ti­ge Tor­si­on nur sehr unge­nü­gend durch Kor­set­te beein­flus­sen lässt.

Im Gegen­satz dazu erzeugt die kurz­bo­gi­ge 50°-Skoliose des 15-jäh­ri­gen Pati­en­ten in Abbil­dung 7a kei­ne gra­vie­ren­de Defor­mi­tät. Obwohl man sich bei 50° Cobb im OP-Bereich befin­det, kann man hier eine defi­ni­ti­ve OP-Ent­schei­dung noch zurückstellen.

An die­sen Bei­spie­len wird deut­lich, dass der Cobb-Win­kel­wert allein nicht als Indi­ka­tor für eine OP-Ent­schei­dung aus­reicht. Die Beach­tung der­ar­ti­ger Feh­ler­quel­len und deren Aus­wir­kun­gen auf die Ein­schät­zung von Defor­mi­tä­ten könn­ten in der The­ra­pie-Ent­schei­dung in vie­len Fäl­len zu einer bes­se­ren, befund­ge­rech­te­ren Ver­sor­gung führen.

Gibt es alter­na­ti­ve Messmethoden?

Ver­tieft man sich in die Kom­ple­xi­tät einer sko­lio­ti­schen Defor­mi­tät, kommt man zu dem Schluss, dass der in die ein­zel­ne Ebe­ne pro­ji­zier­te Cobb-Win­kel der ein­fachs­te Ver­gleichs­wert ist. Die Dar­stel­lung sei­ner Schwä­chen zeigt aller­dings, dass die Beur­tei­lung von Sko­lio­sen und die Ein­tei­lung von The­ra­pie­schrit­ten allein nach Cobb-Win­kel­wer­ten man­gel­haft ist und dass die Beach­tung der Trans­ver­sal­ebe­ne und der Krüm­mungs­reich­wei­te drin­gend erfor­der­lich ist. Die­se Fak­to­ren wie­gen in der Gesamt­be­ur­tei­lung genau­so schwer wie 2‑D-Win­kel­wer­te.

Der deut­li­che Nach­teil die­ser Kri­te­ri­en ist, dass sich ihr Ein­fluss auf die Defor­mi­tät ver­gleichs­wei­se schlecht quan­ti­fi­zie­ren lässt. In Zei­ten evi­denz­ba­sier­ter Medi­zin wird in jedem Fall der Ruf nach Daten, Mess­wer­ten und Kenn­grö­ßen laut. Der Cobb-Win­kel ent­spricht die­ser For­de­rung in gewis­sem Maße. Aber für die ande­ren Fak­to­ren muss nach Lösun­gen gesucht werden.

Eine „Pseu­do-3-D-Erfas­sung“ der Wir­bel­säu­le bie­ten simul­ta­ne Rönt­gen­ver­fah­ren wie z. B. das EOS-Ima­ging 3. Bei die­sen Ver­fah­ren wird die Wir­bel­säu­le in einem Low-Dose-Ver­fah­ren simul­tan AP und late­ral im Ste­hen geröntgt, und eine Soft­ware errech­net anhand von ana­to­mi­schen Punk­ten ein 3‑D-Image der Wir­bel­säu­le, aus dem sich Rota­ti­ons- und Tor­si­ons­kom­po­nen­ten ablei­ten las­sen. Es ist vor­stell­bar, dass sich der­ar­ti­ge Metho­den zukünf­tig durch­set­zen und sich frü­her oder spä­ter dar­aus ein Ver­gleichs­wert für trans­ver­sa­le Kom­po­nen­ten sko­lio­ti­scher Krüm­mun­gen entwickelt.

Was die Strah­len­be­las­tung angeht, so wird in der heu­ti­gen Medi­zin schnell der Ruf nach dem MRT-Scan laut. Die der­zeit übli­chen MRT-Unter­su­chun­gen bie­ten aber eben­falls nur deut­lich feh­ler­be­haf­te­te Ergeb­nis­se. Die meis­ten Gerä­te arbei­ten im Lie­gen, was sofort den Win­kel ver­fälscht 4. Zudem erge­ben die resul­tie­ren­den Schnitt­bil­der noch lan­ge kei­ne räum­li­chen Winkelwerte.

Dazu bedarf es einer 3‑D-Rekon­struk­ti­on. Mit 3‑D-rekon­stru­ier­ten Daten könn­ten zwar „theo­re­tisch“ exak­te Win­kel im drei­di­men­sio­na­len Raum ermit­telt wer­den, aber wie erwähnt wären dazu „ste­hen­de“ Auf­nah­men und zudem kom­ple­xe Rechen­sys­te­me nötig, um die ein­zel­nen phy­sio­lo­gi­schen und patho­lo­gi­schen Krüm­mungs­an­tei­le einer sol­chen drei­di­men­sio­na­len Krüm­mung sau­ber von­ein­an­der zu tren­nen. Hier las­sen Kos­ten und Auf­wand einen Wech­sel der Metho­de auch auf län­ge­re Sicht unwahr­schein­lich erscheinen.

Bei der Suche nach einer strah­lungs­frei­en Metho­de zur Quan­ti­fi­zie­rung der trans­ver­sa­len Kom­po­nen­ten der Defor­mi­tät gelangt man natür­lich auch zur Ras­ter­ste­reo­gra­fie. Sie erfasst Rota­ti­ons-/Tor­si­ons­kom­po­nen­ten und könn­te einen Bei­trag zur genaue­ren Gesamt­be­ur­tei­lung leis­ten. Zudem erfasst die Ras­ter­ste­reo­gra­fie die Daten in ste­hen­der Posi­ti­on, was für eine Beur­tei­lung der bis­he­ri­ge Stan­dard ist. Ein spür­ba­rer Nach­teil ist jedoch, dass in die­ser Posi­ti­on Rip­pen­bu­ckel und Len­den­wulst bei Wei­tem nicht so gut sicht­bar wer­den wie in Vornei­ge. Es ist wenig sinn­voll, die Defor­mi­tät in der Posi­ti­on zu erfas­sen, in der der Betrag am gerings­ten und der Mess­feh­ler somit am größ­ten ist. Sinn­vol­ler wäre letzt­lich u. U. die Erfas­sung in Vorneige.

Hier bie­tet sich ggf. die Sko­lio­me­ter-Mes­sung an, die eine gewis­se „Ska­lie­rung“ bie­tet, die aber genau wie die visu­el­le, kli­ni­sche Beur­tei­lung ein beträcht­li­ches Maß an Erfah­rung vor­aus­setzt und sonst eben­falls feh­ler­be­haf­tet sein kann. Zudem mani­pu­liert eine Kor­sett­be­hand­lung die äuße­re Tho­ra­xober­flä­che oft­mals deut­lich effi­zi­en­ter als die inlie­gen­de Wir­bel­säu­le. Damit wird die zwangs­wei­se Kor­re­la­ti­on von Ober­flä­che und Wir­bel­säu­le beein­träch­tigt, was zusätz­lich Feh­ler bei ober­flä­chen­er­fas­sen­den Mess­me­tho­den nach sich zieht. Für die Reich­wei­te der Krüm­mung könn­te man über Krüm­mungs­klas­si­fi­ka­tio­nen und Defi­ni­ti­on der jeweils zuge­hö­ri­gen Wir­bel evtl. eine Ein­tei­lung erar­bei­ten. All die­se Bemü­hun­gen ver­kom­pli­zie­ren jedoch am Ende die Therapie-Entscheidung.

Fazit

Auf dem Weg, eine ein­fa­che, prak­ti­ka­ble Metho­de zur The­ra­pie-Ent­schei­dung zu emp­feh­len, kommt man der­zeit an der Bei­be­hal­tung des Cobb-Win­kels als Refe­renz­wert kaum vor­bei. Den­noch darf der Cobb-Win­kel nicht allein „das Maß der Din­ge“ sein. Da es der­zeit kei­nen ein­heit­li­chen Stan­dard gibt, der die ande­ren Kom­po­nen­ten der sko­lio­ti­schen Defor­mi­tät (Trans­ver­sal­ebe­ne mit Rotation/Torsion sowie Krüm­mungs­reich­wei­te) als Zah­len­wert erfasst, muss man auf abseh­ba­re Zeit damit leben, dass ver­schie­de­ne Sys­te­me par­al­lel Anwen­dung fin­den, die die­se Argu­men­te in die The­ra­pie-Ent­schei­dung ein­be­zie­hen. Dafür kommt nach wie vor zual­ler­erst der visu­el­le, kli­ni­sche Befund in Fra­ge, der ergänzt wird durch Metho­den wie Sko­lio­me­trie, Ras­ter­ste­reo­gra­fie oder 3‑D-Ima­ging-Tech­no­lo­gien.

Der Leser wird u. U. über­rascht fra­gen: „Was ist denn dar­an neu? Das war doch schon immer so.“ Theo­re­tisch war es so, in der prak­ti­schen Umset­zung fixier­te sich die Ent­schei­dung jedoch all­zu oft nur auf den Cobb-Win­kel. Star­re Grenz­wer­te ver­bie­ten dort u. U. not­wen­di­ge ope­ra­ti­ve Ein­grif­fe oder sug­ge­rie­ren unnö­ti­ge The­ra­pien, wenn den ande­ren Fak­to­ren in der Gesamt­ein­schät­zung zu wenig Gewicht bei­gemes­sen wird.

Eine defi­ni­ti­ve The­ra­pie-Ent­schei­dung soll­te, wenn mög­lich, in einer spe­zia­li­sier­ten Sko­lio­se-Ambu­lanz von einem erfah­re­nen Wir­bel­säu­len-Ortho­pä­den getrof­fen wer­den, der neben dem Cobb-Win­kel den ergän­zen­den Kri­te­ri­en deut­lich mehr Bedeu­tung bei­mes­sen kann als all­ge­mein üblich und der dafür bis zur Ein­füh­rung eines umfas­sen­den, neu­en Stan­dards auch „juris­ti­schen Spiel­raum“ braucht.

Die Autoren:
Andre­as Sel­le, OTM 
Ortho­pä­die- und Rehatechnik
Dres­den GmbH 
Fet­scher­stra­ße 70 
01307 Dres­den
aselle@ord.de

OA Dr. med. Jens Seifert
Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Carl Gus­tav Carus 
an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Dres­den, AöR 
Fet­scher­stra­ße 74 
01307 Dres­den

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Sel­le A, Sei­fert J. Sko­lio­se-Cobb-Win­kel – ein Ver­gleichs­wert mit Schwä­chen. Ortho­pä­die Tech­nik, 2015; 66 (1): 26–30
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  2. Niet­hard FU, Pfeil J, Biber­tha­ler P. Sko­lio­se. In: Dies. (Hrsg.). Dua­le Rei­he Ortho­pä­die und Unfall­chir­ur­gie. 6., voll­stän­dig über­ar­bei­te­te und erwei­ter­te Auf­la­ge. Stutt­gart: Thie­me, 2009: 389–397
  3. Cour­voi­sier A, Dre­vel­le X, Dubous­set J, Skal­li W. Trans­ver­se pla­ne 3D ana­ly­sis of mild sco­lio­sis. Eur Spi­ne J, 2013; 22 (11): 2427–2432
  4. Schlot­ter ME. Über­prü­fung der Anwend­bar­keit und Zuver­läs­sig­keit einer neu­en MR-Ganz­wir­bel­säu­len­auf­nah­me-Tech­nik für die Sko­lio­se­dia­gnos­tik. Dis­ser­ta­ti­on an der Medi­zi­ni­schen Fakul­tät der Uni­ver­si­tät Bonn, 2005
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