Einleitung
Wie bei allen Versorgungsebenen in der prothetischen Versorgung beeinflussen folgende Aspekte die Auswahl des Schaftsystems maßgeblich: die individuellen Wünsche und Bedürfnisse des Anwenders, die Versorgungshistorie und natürlich die klinischen Bedingungen. Eine erste Indikationsstellung und eine Zuordnung des geeigneten Schaftkonzeptes resultieren aus einer systematischen Anamnese 1. Dabei wird auch die zu erwartende Mobilität festgelegt. Wichtige Kriterien der durchzuführenden Profilerhebung sind folgende Aspekte:
- die Gründe der Amputation,
- versorgungsrelevante Begleiterkrankungen,
- weitere Behinderungen sowie
- spezielle Angaben zum Amputationsstumpf wie Stumpfform, ‑länge und ‑beschaffenheit.
Das ausführliche Beratungsgespräch mit Abwägung der benötigten Gebrauchseigenschaften liefert wichtige Informationen zur Auswahl der jeweils probaten Schafttechnik. Die Vorerfahrungen des Anwenders sind einzuholen; zudem sind besondere Eigenheiten im Gebrauch und im Umgang mit der Prothese zu erfragen. Im selben Maße müssen die privaten wie die beruflichen Anforderungen in die Planung mit eingebunden werden. Nur so ist eine erfolgreiche Versorgung mit positivem Ergebnis zu erzielen. Neben der Auswahl der jeweils geeigneten Funktions- und Strukturteile nimmt die Bestimmung der Schafttechnik die zentrale Rolle in der Prothesenversorgung ein. Sie ist direktes Bindeglied zwischen Technik und Mensch 2.
Die Anforderungen an eine adäquate Schafttechnik wurden auch im internationalen Kontext durch die Norm nach ISO-Standard (ISO 8548–2 1993–07) wie folgt definiert:
- Übertragung der axialen Kräfte zur Lastaufnahme
- Übertragung horizontal gerichteter Kräfte zur Steuerung der Prothese
- Haftvermittlung zwischen Patient und Prothese
Eine Einteilung der gängigen Prothesenschaftsysteme (Abb. 1) wird in diesem Artikel anhand der unterschied- lichen Funktionsprinzipien vorgenommen. Dabei finden unterschiedlichste Prinzipien Anwendung:
- klassischer KBM-Schaft als kondylenbettendes System, das mit einem Weichwandinnenschaft und unterschiedlichen Stumpfstrümpfen getragen wird,
- das wahrscheinlich am häufigsten eingesetzte Linersystem mit distaler Arretierung sowie
- Unterdrucksysteme, unterteilt in Linersysteme mit Dichtlippen und Linersysteme mit proximaler Abdichtung durch Kniekappen.
Eine eindeutige Zuordnung fällt nicht immer leicht. Denn die verschiedenen Wirkungsweisen der einzelnen Systeme müssen häufig im Sinne einer adäquaten Versorgung miteinander kombiniert werden. Zum Beispiel kombiniert der Pin-Liner mit einer Kondylenbettung die Vorteile beider Haftprinzipien: Der gefährliche Zug- und Melkeffekt am Stumpfende wird durch die Einfassung der Kondylen reduziert; er ist aber kosmetisch ungünstiger als ein reduzierter Schaftrandzuschnitt z. B. nach Söderberg.
Stumpfbettung durch Linersysteme
In diesem Zusammenhang sind insbesondere Silikonliner, TPE-/Copolymerliner und Polyurethanliner relevant 3 (Abb. 2). Im Einzelnen sind hier zu nennen:
Silikonliner
Das häufig gewählte Linermaterial Silikon ist in verschiedensten Ausführungen und Shorehärten erhältlich. Dabei gilt die grobe Faustformel „Weicher Stumpf – fester Liner, fester Stumpf – weicher Liner“. Ein weicher Stumpf profitiert demnach von einem rigideren Liner, der den Stumpf formt und ihm Stabilität verleiht. Der knöcherne, atrophe Stumpf bevorzugt die Eigenschaften eines niedershorigen Silikons zur Stoßdämpfung und Bettung. Erhöhten Belastungen auf das Gewebe und die knöchernen Strukturen kann damit vorgebeugt werden. Stümpfen langjähriger Prothesenträger sieht man die daraus folgenden Hautschädigungen in der Regel deutlich an 4.
Eine Vorkomprimierung erfolgt durch die auf das elastische Grundmaterial Silikon aufgebrachte Kaschierung. Deren Vorteile bestehen in einer direkteren Ansteuerung der Prothese und einem reduzierten pseudarthrotischen Längshub. Silikonliner wie auch alle anderen Liner mit distalem Anschluss sollen generell mit einer Matrix oder einer verstärkten Kaschierung im distalen Anteil versehen sein. Die Elongation von Stumpf und Liner in der Schwungphase wird dadurch reduziert. Im Bereich des Knies empfiehlt sich eine hohe Längs- sowie Querelastizität mit reduzierter Kompression. Dadurch wird der Kraftaufwand beim Flektieren des Gelenks so gering wie möglich gehalten. Zudem wird starker Druck auf die Patella durch Zugspannung des Liners vermieden.
Der Versorgungsalltag zeigt, dass der Umgang mit dem beständigen und reaktionsträgen Material Silikon ein breites Anforderungsspektrum abdeckt. Die hygienische Anforderung einer geringen Keimbelastung des Stumpfes wird durch dieses Material sehr gut erfüllt. Ablagerungen durch Schweißeinwirkung, Abrieb der Hautoberfläche und weitere Ausscheidungen werden mittels Seife und Wasser gereinigt. Weiterhin ist Silikon desinfizierbar und sterilisierbar. Dermatologisch empfindliche Anwender berichten davon, ihre Liner in der Maschine zu waschen oder sie von Zeit zu Zeit in siedendes Wasser zu legen. Dabei überzeugt das Material mit hoher Standfestigkeit. Es hat bei durchschnittlicher Belastung eine Lebensdauer von etwa einem Jahr. Ein Wechselliner sollte allerdings stets zur Verfügung stehen, um die Trocknungsdauer der Kaschierung zu überbrücken. Silikonliner stehen in den unterschiedlichsten Ausführungen zur Verfügung. Sie werden für folgende Zwecke verwendet: zum Hautschutz, zur Haftvermittlung und zur Formstabilisierung des Stumpfes. Dabei kommen unterschiedliche Haftprinzipien wie distale Arretierung oder Dichtlippen und Kniekappen zur Gewährleistung eines aktiven oder passiven Unterdrucks zum Einsatz.
TPE-/Copolymerliner
Ein Copolymerliner bietet gegenüber einem Silikonliner den Vorteil einer ausgeprägten Scherkraftreduzierung und Druckspitzenentlastung. Anwender mit eingeschränkter Weichteilverschieblichkeit (z. B. bei meshgraftgedeckten Stümpfen oder starken Vernarbungen) profitieren von diesen Materialeigenschaften. Einige Modelle können nachträglich thermoplastisch an die Stumpfsituation angepasst werden. Die konfektionierten Liner lassen sich bei konischen Stumpfformen über angefertigte Formungsmodelle tempern. Auf diese Weise können sie individuell angepasst werden 5.
Die Hersteller weisen ausdrücklich auf den Einsatz eines Wechselliners hin, um die Standfestigkeit zu erhalten und den Nutzungszeitraum zu verlängern. Wärme und Scherkrafteinwirkung führen zur Aufschmelzung und Verformung des Materials 6. Das Material wird sich schneller als Silikon ausdehnen und die Vorkompression auf den Stumpf verlieren. Fehlinterpretationen der Schaftpassform, hervorgerufen durch die Formveränderung und den Kompressionsverlust eines verschlissenen Liners, müssen erkannt werden. Der Anwender muss auf dieses Materialverhalten hingewiesen werden, um rechtzeitig das Beantragungsverfahren für den Ersatz verbrauchter Liner einzuleiten. TPE-Liner sind preisgünstiger als Silikonliner. Erfahrungswerte aus der Praxis zeigen, dass eine gründliche Pflege des Liners sowie des Stumpfes bei diesem Linermaterial bedeutsamer als bei Silikonen ist. Eine Besonderheit bieten dünne Schutzhüllen bzw. gelbeschichtete Stumpfstrümpfe. Diese entfalten vor allem in kondyleneinfassenden Systemen ihre Vorteile durch einen ausgeprägten Hautschutz und ein angenehmeres Tragegefühl.
Polyurethanliner
Eine Sonderrolle spielt der PUR-Liner, der mit hoch fließfähigen Eigenschaften ausgestattet ist. Somit ermöglicht er ein hydrostatisches Schaftkonzept im Sinne eines Vollbelastungsschaftes. Durch eine spezielle Abdruck- und Fertigungstechnik wird die Körperlast auf die komplette Oberfläche des Stumpfes gleichmäßig verteilt. Die aktive Unterdrucktechnik ist bei diesem System unumgänglich und hat ein stabileres Stumpfvolumen zur Folge 7.
Das Material ist in der Lage, Flüssigkeit in Form von Schweiß aufzunehmen. Die Pflege dieser Liner mit Wasser und Seife ist allerdings sehr anspruchsvoll. Nur auf diese Weise kann die Verkeimung im Material und die Keimbelastung auf der Haut so gering wie möglich gehalten werden. Ein Wechselliner ist aus hygienischen Gründen ab Versorgungsbeginn notwendig. Bei mangelnder Hygiene verfärben sich die Liner gelb und beginnen unangenehm zu riechen.
Formerfassung und Modellierphilosophie
Im Anschluss an die Auswahl des geeigneten Liners folgt die Maßnahme mit anschließender Formerfassung. Hier konnten sich in den letzten Jahren neue Abdrucktechniken etablieren, die unter anderem eine Formerfassung unter Belastung ermöglichen (Abb. 3).
Die klassische Gipsabdrucktechnik legt das Augenmerk auf die definierten Be- und Entlastungszonen. Gezielte Korrekturen und Manipulationen werden in das Modell eingebracht. Dies zeigt sich vor allem bei besonderen Stumpfformen und Anforderungen als Mittel der Wahl. In diesem Zusammenhang sind besonders folgende Indikationen zu nennen:
- Neurome unter der Hautoberfläche,
- druckempfindliche Tibia- und Fibula-Knochenenden,
- lockeres Bindegewebe mit Weichteilüberhängen sowie
- formverändernde Stumpfsituationen bei Muskelkontraktionen.
In der Folge werden diese Abdrücke in Gips ausgegossen und durch manuelle Modifikationen zu einer Positivform geführt. Die zweckorientierte Schaftform verfolgt eine vollkontaktige Schaftbettung.
Moderne berührungslose Formerfassungen des Stumpfes via Scantechnologie können sowohl mit als auch ohne Liner in seiner exakten Form – reproduzierbar – erfasst werden. Über Landmarken auf dem Stumpf werden knöcherne Strukturen, Belastungs- und Entlastungszonen, kondyläre Einfassungen und weitere Besonderheiten für die anschließende CAD-Modellierung mittels geeigneter Software dargestellt. Weiterführende Kontrollscans können mit dem Ausgangsscan verglichen und für eine notwendige Formanalyse herangezogen werden.
Simulierende Formerfassungstechnik hat die Aufgabe, die Manipulation des Stumpfes während der Erfassung bzw. des Abdruckes umzusetzen. Die anschließende Modellierung wird dadurch erleichtert. Die Systeme bieten den Vorteil einer hohen Reproduzierbarkeit. Das Abdrucksystem „Symphony VC“ baut durch seinen mit Wasser gefüllten Zylinder einen hydrostatischen Druck auf. Damit wird der Amputationsstumpf bei der Abdrucktechnik unter Vollbelastung erfasst. Die volumenorientierte Form wird durch gleichmäßige Reduktion auf das gewünschte Umfangsmaß angepasst – je nach Weichteilbeschaffenheit und Aktivität.
Schafttechnik – Haftprinzipien
Kondylenbettende Systeme (Abb. 4)
Der Stumpf wird zum Beispiel mit einem TPE-beschichteten Hautschutzstrumpf eingefasst und leicht vorkomprimiert. Die Weichteile werden dadurch gefestigt und auf die Prothese vorbereitet. Durch einen Schlitz am Ende des Innenschaftes wird der Stumpf mit Hilfe eines Perlonschlauches in den Innenschaft eingezogen. Bei birnenförmigen Stümpfen kann der Innenschaft an einer geeigneten Stelle – zum Beispiel seitlich – geöffnet werden. Dadurch werden die Weichteile ohne Aufstauen elongiert in den Schaft eingezogen. Der Gewebeschlauch wird über die Außenseite des Innenschaftes zurückgeschlagen, um eine Gleithilfe für den stabilen äußeren Container zu bilden. Die Verriegelung zwischen Innen- und Außenschaft erfolgt durch die mediolaterale Einfassung über den Kondylen. Eine Maßdifferenz von ca. eineinhalb Zentimetern zwischen dem kondylären und dem suprakondylären Maß erweist sich in der Praxis als geeigneter Anhaltspunkt für eine sichere Verriegelung. Bei besonderen Stumpfformen werden entsprechende Ausgleiche auf den Innenschaft aufgebracht. Weiterhin können individuell geformte Stumpfendkissen in unterschiedlich festen Materialien gefertigt werden. Damit kann auf die jeweiligen Gegebenheiten eingegangen werden; zudem können spätere Anpassungen nach Formveränderungen vorgenommen werden. Bei der Wahl des Materials für den Innenschaft ist darauf zu achten, dass ein sinnvoller Kompromiss zwischen Polsterwirkung und Standfestigkeit gewählt wird. Zu weiche Materialien müssen dick ausgeführt werden, damit die nötige Stabilität zum Einsteigen in den Außenschaft vorliegt. Abhilfe schaffen hier partielle Verstärkungselemente, zum Beispiel Kappenmaterial aus der Schuhtechnik. Das spätere kosmetische Resultat profitiert von einem wohldosierten Materialeinsatz.
Die Einfassung der Kondylen übernimmt hierbei die Fixierung der Prothese in der Schwungphase. Vor allem bei Erstversorgungen nach Amputation spielt dieses System seine Vorteile aus:
- Die Amputationsregion wird nicht unnötig belastet.
- Durch Einkleben von Pelotten kann Volumenreduktionen entgegengewirkt werden, ohne die Materialoberfläche zu verändern und die damit verbundene Oberflächenhaftung zu verlieren. Diese können sich negativ auf das Tragegefühl und den Halt auswirken.
- Der Schaftrand kann durch moderne Materialtechnik und optimierte Zuschnitte federnd gestaltet werden. Dadurch wird beim Flektieren des Kniegelenkes ein Verkippen zwischen Stumpf und Schaft durch die Dreh-Gleit-Bewegung reduziert 8.
Linersysteme mit distaler Arretierung (Abb. 5)
Bei der Wahl eines Linersystems muss die Topographie des Stumpfes beachtet werden. Folgende Aspekte sind Ausschlusskriterien für einen Liner mit distaler Arretierung: knöcherne Stumpfenden, Überlängen der Fibula, Neurome im Stumpfendbereich oder lockeres Bindegewebe. Während der Schwungphase wird das Gewicht der Prothese auf das Stumpfende übertragen. Dies sorgt für eine Elongation von Stumpf und Liner. Die Praxis zeigt eine negative Veränderung des subkutanen Gewebes nach langjährigem Pingebrauch. Ein großer Vorteil distaler Arretierungen ist die simple Bedienung des Systems. Die Verschlusssysteme mit Pin lassen sich in zwei Kategorien einteilen: sogenannte Clutchlocks und sogenannte Shuttlelocks. Nach dem Eingleiten des Stumpfes in den Schaft zieht das Schneckengetriebe des Shuttlelock den Liner automatisch nach distal bis zum vollständigen Endkontakt. Durch die entstehende Vorspannung auf die Linermatrix reduziert sich die vertikale Pseudarthrose zwischen Stumpf und Schaft. Ein zu langer Schaft erhöht die ohnehin schon starke Stumpfendbelastung und muss verhindert werden. Der Rastenverschluss des Shuttlelock wird mit der axialen Stumpfbelastung überwunden. Somit dringt der Pin in den Verschluss ein. Die akustische Rückmeldung bestätigt dem Anwender die Verriegelung und somit die sichere Verbindung zur Prothese. Je nach Anforderung an das System muss also die Wahl des geeigneten Verbundsystems getroffen werden. Klassische Kordeleinzüge oder Boa-Systeme sparen Aufbauhöhe und ermöglichen eine angepasste Vorspannung auf das distale Stumpfende. Weitere Funktionseinheiten wie Einziehhilfen in Form von Drehknöpfen oder Einziehschlüssel können die Bedienung – zum Beispiel durch das Pflegepersonal – erleichtern.
Vor dem Einsteigen in den Schaft schiebt der Anwender den auf links gewendeten Liner auf den Stumpf. Das Gewebe sollte dabei mit dem Linerteller nach ventral über das distale Tibiaende geschoben werden. Dadurch wird unnötiger Stress durch die Elongation der Weichteile beim Anlegen des Liners auf die Knochenkante vermieden. Der Linerteller steht rechtwinklig zur Stumpfmittelachse, um das Verkippen des Pins beim Einführen in die Pinaufnahme zu verhindern. Das korrekte Anlegen des Liners wird mit dem Anwender aktiv geübt. In der Regel sind die Liner mit einer Kaschierung oder einer Beschichtung auf dem Silikon versehen. Dadurch wird ein Eingleiten in den äußeren Prothesenschaft (Container) mit geringen Adhäsionskräften gewährleistet. Strümpfe mit einer eingearbeiteten Öffnung für den Pin können bei Volumenveränderungen über den Liner angezogen werden. Oft müssen Anwender über den Tag ein bis zwei Strümpfe unterschiedlicher Dicke nachlegen. Damit wird die übliche Volumenreduktion des Stumpfes zum Abend hin ausgeglichen.
Bei stark atrophen oder konischen Stumpfformen können individuelle oder konfektionierte sogenannte Distalcups eingesetzt werden. Sie dienen als Ausgleich und zusätzliche Bettung. Ungewollte Lufteinschlüsse, die durch Kondensation der Körperwärme zu Schweiß führen, können so vermieden werden. Gerade bei Narbeneinzügen sorgt der aggressive Schweiß für Probleme an den Hautflanken. Durch das Einbringen eines individuellen RTV-Silikon-Ausgleichsrings oder eines formadaptierten Stumpfendkissens wer-den die Einzüge geschlossen. Dies führt zu einem Vollkontakt zum Liner.
Durch die mechanische Verriegelung am Schaftboden sind der Gestaltung im proximalen Bereich mehr Möglichkeiten gegeben als bei den kondylenbettenden Systemen. Der Schaft- randzuschnitt kann auf unterschiedlichen Ebenen gewählt werden: Es eignen sich sowohl Trimmlinien in klassischer Form als auch reduzierte Zuschnitte nach Söderberg 9 oder Merbold, die eine enge A‑P-Führung des Stumpfes erlauben. Jedoch sollte die Reduzierung der medioventralen Anlagefläche mit der Stumpfleistungsfähigkeit zusammenspielen. Dadurch wird eine Überlastung des Knieapparates vermieden 10.
Bei Interimsversorgungen sind distale Verschlusssysteme gänzlich zu vermeiden, da die Gefahr besteht, das OP-Ergebnis zu verletzen. Durch die große Auswahl an unterschiedlichen Linertypen sowie Verschlusstechniken sind viele Anwender im geringen bis mittleren Mobilitätsbereich mit diesen Systemen adäquat versorgt. Zudem ist das kosmetische Outcome durch den Verzicht auf hohe Schaftränder vor allem beim Sitzen positiv.
Liner-Unterdrucksysteme mit Kniekappen (Abb. 6)
Linersysteme mit passivem oder aktivem Unterdruck und Kniekappe bieten im Hinblick auf die axiale Bewegung zwischen Stumpf und Schaft aus biomechanischer Sicht die wirkungsvollste Fixierung. Durch den entstehenden Unterdruck zwischen Kniekappe und Linerende im proximalen Bereich wirkt dieser über die gesamte Stumpfoberfläche. Er nimmt demzufolge auch über das gesamte Areal die Gewichtskraft der Prothese auf. Dies reduziert bei korrekter Ausführung der Schafttechnik im Unter-schied zum distalen Arretierungssystem die lokale Belastung am Stumpfende.
Die Liner werden als Bettungsliner in allen unterschiedlichen Materialien wie Silikon, TPE und PUR – idealerweise ohne formvorgebende Linertassen – angeboten. Auch hier kann mit einem individuellen oder konfektionierten Ausgleich auf besondere Situationen eingegangen werden. Durch zusätzliche Strümpfe kann ein aktives Volumenmanagement betrieben werden. Eine Besonderheit sind die aktiven Unterdrucksysteme. Diese reagieren durch den erhöhten Unterdruck im Schaft positiv auf den Volumenverlust. Beim Harmony®-System ist dieser Effekt durch Studien belegt 11.
Der erhöhte Unterdruck wird auf unterschiedliche Weise erzeugt. Dazu gibt es entsprechende Strukturbauteile wie beispielsweise die Harmony®-Pumpe von Ottobock oder die Unity®-Systeme von Össur als Applikation für Carbonfederfüße. Zudem sind elektronische Systeme wie die eHarmony-Pumpe von Ottobock oder die Pumpe LimbLogic® von WillowWood zu nennen. Anwender berichten, dass sie dadurch die Beschaffenheit des Untergrundes direkter spüren und sich weniger auf das Prothesentragen konzentrieren müssen.
Eine funktional wichtige Rolle nimmt die Kniekappe ein. Diese wird über den Schaft bis zum Oberschenkel gerollt und ist zur Abdichtung wie zum Aufbau des Unterdruckes notwendig. Die Beugung im Kniegelenk sollte dabei so wenig wie möglich beeinträchtigt werden. Dafür empfiehlt sich ein Schaftrandzuschnitt mit reduzierten Anlageflächen. Weiterhin muss sichergestellt sein, dass die Kondylen aufgrund der Drehgleitbewegung genügend Raum im ventralen Schaftrandbereich zur Verfügung haben 12. Durch die Verwendung eines „Gaitor Sleeve“, der als Gleitschicht über den Schafträndern dient, wird die Beugefähigkeit der Kniekappen erhöht und der Verschleiß reduziert. Der Einsatz flexibler Innenschäfte aus PE-Kunststoffen bietet den Vorteil adaptiver flexibler Schaftränder. Diese wirken sich positiv auf die Haltbarkeit der Kniekappen aus, z. B. bei stärkerem Kontakt zu einer Tischkante oder beim Knien. Passformänderungen können zwischen Container und Innenschaft ausgeführt werden, ohne die Beschaffenheit der Oberflächen im Innenschaft zu verändern 13.
Verliert das System den aktiven oder passiven Unterdruck, hat das weitreichende Folgen bis hin zum Funktionsverlust der Prothese. Dies kann zum Beispiel durch ein defektes Ausstoßventil oder durch ein Loch in der Kniekappe geschehen. Es kommt dadurch zu vermehrter Bewegung zwischen Stumpf und Schaft. Die knöchernen Strukturen verkippen aufgrund des Unterdruckverlustes im Schaft. Sie können als Druckstellen, hervorgerufen durch eine mangelnde Schaftpassform, fehlinterpretiert werden. Die Anwender müssen auf diesen Fall vorbereitet und in der Lage sein, die Kniekappe selbst zu wechseln. Die durchschnittliche Haltbarkeit einer solchen Manschette liegt weit unter der eines Liners. Auch hier ist eine rechtzeitige Ausstattung mit Wechseleinheiten unbedingt ratsam.
Bei der definitiven Bauweise einer derartigen Versorgung müssen die Materialien sinnvoll gewählt werden: Ein klassischer PMMA-Guss wird nicht in der Lage sein, den Unterdruck des Testschaftes aus einem PETG-Material zu halten. Dies ist auf seine permeablen Eigenschaften zurückzuführen. Es empfiehlt sich daher entweder der Einsatz verdichtender Armierungsmaterialien wie Dacron, um eine saugdichte Oberfläche zu erzeugen, oder die Verwendung von Epoxidharzsystemen. Aus kosmetischer Perspektive erzeugt die Versorgung mit einer Kniekappe ein ansprechendes Finish: Die Kniekappe wirkt als Bandage und überdeckt die Schaftränder. Die Anwender müssen dafür in Kauf nehmen, lange Hosen erst herunterzuziehen, um die Kniekappe auf- oder abzurollen.
Außerdem muss der geeignete Anwender den technischen Anforderungen gewachsen sein. Ein Prothesenträger mit Rheuma in den Händen ist auf Hilfe beim Bedienen des Systems angewiesen. Aus biomechanischer Sicht – im Sinne der Fixierung beim Gehen, der Propriozeption und einer verbesserten Leistungsfähigkeit – wird er wahrscheinlich profitieren. Jedoch müssen die Anforderungen an den Anwender klar und deutlich besprochen werden. Kurzum: Der Anwender muss zum System passen.
Linersysteme mit Dichtlippe (Abb. 7)
In den letzten Jahren haben sich Silikonliner mit Dichtlippensystemen in unterschiedlichen Ausführungen auf dem Markt etabliert. Ziel dieser Systeme ist es, die Vorteile des Unterdrucks ohne die Nachteile der Kniekappensysteme umzusetzen. Die Vorteile des Silikons in Bezug auf Pflege und Haltbarkeit bleiben bestehen; die Anziehtechnik bei diesen Linern ist aber erschwert. Meistens sind die Anwender auf eine Anziehhilfe auf Alkoholbasis angewiesen. Dadurch wird die Adhäsionskraft beim Aufrollen auf den Stumpf und beim Eingleiten in den Schaft gering gehalten. Durch individuell positionierbare Dichtlippenelemente lässt sich der Unterdruckraum einstellen. Bei der Auswahl einer zu weit distal liegenden Dichtlippe erfolgt die Fixierung durch den Unterdruck – das System wirkt dann wie ein „pneumatischer Pin“: Die Belastung auf das Stumpfende erhöht sich vergleichbar zu einem distalen Verschlusssystem. Bei einer zu hoch angeordneten Dichtlippe besteht aber die Gefahr eines plötzlichen Abreißens des Unterdrucks durch einfallende Weichteile. Um einem Funktionsverlust entgegenzuwirken, darf eine Dichtlippe das Fibularköpfchen nicht überdecken. Durch den Verzicht auf einen Linerteller wird der Stress auf das distale Stumpf- ende auch bei eckigen Querschnitten gering gehalten.
Nach dem Aufrollen des Liners auf den Stumpf evakuiert der Anwender durch seine Körperlast die Luft über ein Zwei-Wege-Ausstoßventil aus dem Schaft. Kleine Ventilöffnungen, raue Oberflächen und reduzierte Schaftvolumina verlangen einen hohen Kraftaufwand zum Einführen des Stumpfes. Die dabei aufstauenden Weichteile erhöhen die Spannung auf den Röhrenknochen und können Schmerzen verursachen. Die Innenschaftflächen sollten daher glatt gefertigt sein. Dem Einsatz flexibler PE-Innenschäfte sollte man bei zylindrischen oder langen Stümpfen aufgrund der hohen Friktion beim Einsteigen in den Schaft skeptisch gegenüberstehen. Weiterhin muss die Verbindung des Ausstoßventils mit Entlüftungsfunktion souverän mit dem PE-Schaft durchgeführt werden. Aufgrund der Gangzyklen und des Kaltflusses im PE-Material unterliegt die Verbindung einer hohen Beanspruchung und kann undicht werden. Verklebungen von Ventilen mit dem Containerschaft müssen mit Epoxidkleber, Silikon oder strukturellen Klebstoffen, die luftundurchlässig sind, durchgeführt werden. Um das Eindringen von Luft zu verhindern, gibt es zwei technische Lösungsansätze: dünn gezogene PETG-Innenschäfte in Kombination mit PMMA-Harzen oder Dacron-Innenlagen in Verbindung mit Epoxidsystemen.
Das Linersystem mit Dichtlippe spart wie auch das Linersystem mit proximaler Kniekappe wertvollen Platz in der Aufbauhöhe. Dadurch muss z. B. bei Langstumpfversorgungen nicht auf funktionelle hochaufbauende Carbonfederfüße oder sonstige Struktur- und Funktionsbauteile wie Pumpmodule verzichtet werden. „Unity®“-Vakuummembranen bieten eine leichte und funktionelle Ergänzung zu den Össur-Fußmodulen. Damit lässt sich gleichzeitig eine elegante und kosmetisch ansprechende Versorgung umsetzen.
Fazit
Zusammenfassend zeigt der Artikel, dass eine adäquate Auswahl unter den vielen unterschiedlichen Schaftsystemen eine anspruchsvolle Aufgabe darstellt. Die Individualität der Anwender mit all ihren persönlichen Versorgungsvoraussetzungen bedarf sorgfältiger Berücksichtigung. Versorgungsleitpfade und Indikationslisten, die innerbetrieblich nach Kundenstruktur und handwerklichem Schwerpunkt erstellt werden, unterstützen die Beratung. Die Wahl des geeigneten Systems zeigt sich auch bei intensiver Beschäftigung damit erst nach erfolgreicher Testversorgung – zum Teil sogar erst nach mehrmonatiger Adaptionszeit. Letztlich bewertet der Prothesenträger die Versorgung, auch wenn aus orthopädietechnischer Sicht alle Indikationen gegen ein entsprechendes Schaftkonzept sprechen. Ziel ist es, die Bedürfnisse des Anwenders zu erfüllen und nicht die „gefühlt beste“ technische Umsetzung zu präferieren.
Für die Autoren:
Tim Baumeister, OTM
Pohlig GmbH
Grabenstätter Str. 1, 83278 Traunstein
T.Baumeister@pohlig.net
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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- 2‑Schalen-Orthese mit Kondylenabstützung in Carbontechnik zur orthopädischen Schuhversorgung — 4. Oktober 2024
- Orthopädische Versorgung der neuromuskulären Skoliose: Vorteile von biomechanisch optimierten Rumpforthesen am Beispiel des „neuroBrace“-Systems — 4. Oktober 2024
- Rekonstruktion der ersten „Eisernen Hand“ des fränkischen Reichsritters Gottfried (Götz) von Berlichingen (1480 – 1562) — 4. Oktober 2024
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