Rück­kehr der Hilfsmittel-Ausschreibungen?

Kippt die Europäische Kommission (EU-Kommission) das Ausschreibungsverbot für medizinische Hilfsmittel, wel­ches das Bundesgesundheitsministerium (BMG) gerade erst im Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) festgeschrieben hat? Das BMG will am Verbot festhal­ten, um eine qualitative Patientenversorgung zu sichern. Weil die Bundesrepublik aus EU-Sicht damit ihren euro­parechtlichen Verpflichtungen für die Vergabe öffentli­cher Aufträge nicht nachkommt, läuft ein von der Kom­mission angestoßenes Vorverfahren für ein Vertragsver­letzungsverfahren. Sozialrecht steht damit gegen Ver­gaberecht. „Die Kommission fordert Deutschland auf, das Verbot öffentlicher Vergabeverfahren für medizi­nische Hilfsmittel aufzuheben. Ein bekannter Streit auf neuer Ebene“, erklärt Nico Stephan, Partner der Kanzlei Stephan & Hein Rechtsanwälte Leipzig/Hamburg. Der Rechtsanwalt vertritt seit mehr als 17 Jahren Verbände der Leistungserbringer wie den Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) bei Vertragsverhand­lungen im Hilfsmittelsektor. In diesem Beitrag erläutert er, warum Vertragsverhandlungen nach EU-Recht zuläs­sig sind.

Am 25. Juli 2019 eröff­ne­te die EU-Kom­mis­si­on das Vorverfah­ren für ein Vertragsverletzungs­verfahren gemäß Arti­kel 258 des Ver­trags über die Arbeits­weise der Euro­päi­schen Uni­on (AEUV). Mit die­sem for­mel­len Akt lei­te­te die Hüte­rin der eu­ropäischen Ver­trä­ge recht­li­che Schrit­te gegen Deutsch­land ein. Damit reagier­te sie nach nicht ein­mal drei Mona­ten auf das Inkraft­tre­ten des TSVG (11. Mai) und damit der gesetz­li­chen Neu­re­ge­lun­gen im So­zialgesetzbuch (SGB) V. Die­se Geschwin­dig­keit ist erstaun­lich und ver­deut­licht, dass hier ein alt­be­kann­ter Streit auf einer neu­en Stu­fe aus­ge­tra­gen wird. Doch ist tat­säch­lich eine recht­li­che Basis für ein Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren vorhanden?

Die Aus­gangs­la­ge: EU-Recht ver­sus TSVG

Die neue Kon­zep­ti­on des § 127 SGB V infol­ge des TSVG ver­pflichtet die gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen in Deutsch­land, Ver­trä­ge für die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung ihrer Ver­si­cher­ten mit inter­es­sier­ten Anbie­tern aus­zu­han­deln. Damit legt sich der Gesetz­ge­ber auf einen Beschaf­fungs­weg für medizini­sche Hilfs­mit­tel fest und unter­sagt den gesetz­li­chen Kran­kenkassen zugleich ande­re Mög­lich­kei­ten – zum Bei­spiel über spe­zi­el­le Ver­fah­ren nach den euro­päi­schen Vergabe­richtlinien. Laut EU-Kom­mis­si­on gewähr­leis­ten genau die­se Richt­li­ni­en jedoch einen unverfälschten Wett­be­werb, indem sie die Grund­sät­ze der Gleich­be­hand­lung, Transpa­renz und Nicht­dis­kri­mi­nie­rung für alle Markt­teil­neh­mer anwen­den. Dadurch erreich­ten öffent­li­che Auf­trag­ge­ber wie die gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen eine Ver­sor­gung nach hohen Qua­li­täts­stan­dards zu wett­be­werbs­fä­hi­gen Prei­sen. Nach Auf­fas­sung der Kom­mis­si­on läuft das Ver­bot für die gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen, die­se Ver­fah­ren für medizini­sche Hilfs­mit­tel zu nut­zen, der EU-Richt­li­nie über die Ver­gabe öffent­li­cher Auf­trä­ge zuwi­der (Richt­li­nie 2014/24/EU).

Blick zurück: Geschich­te des Ausschreibungsverbots

Der § 127 SGB V hat von der Ein­füh­rung des öffent­li­chen Ver­ga­be­ver­fah­rens – also der Aus­schrei­bung – bis zu des­sen Strei­chung durch das TSVG eine lan­ge Geschich­te er­lebt. So imple­men­tier­te das Gesetz zur Stär­kung des Wett­bewerbs in der Gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung (GKV-WSG) die öffent­li­che Aus­schrei­bung am 1. April 2007 als grund­sätz­li­ches Instru­ment für die Beschaf­fung medizini­scher Hilfs­mit­tel in den § 127 Abs. 1 SGB V. Von einer Aus­schreibung aus­ge­schlos­sen waren in der Regel ledig­lich in­dividuell für die Ver­si­cher­ten her­ge­stell­te Hilfs­mit­tel sowie sol­che mit hohem Dienstleistungsanteil.

Bereits am 1. Janu­ar 2009 ver­än­der­te das Gesetz zur Wei­terentwicklung der Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren in der gesetz­lichen Kran­ken­ver­si­che­rung (GKV-OrgWG) die Neurege­lung zur „Kann­be­stim­mung“. Die öffent­li­che Ausschrei­bung war dem­nach nicht mehr der vor­ran­gi­ge Beschaf­fungsweg. Indi­vi­du­ell her­ge­stell­te Hilfs­mit­tel sowie Hilfs­mittel mit einem hohen Dienst­leis­tungs­an­teil wur­den ge­nerell und ohne Aus­nah­me von der Aus­schrei­bung ausge­schlossen. Für die­se Hilfs­mit­tel soll­ten Verhandlungsver­träge geschlos­sen werden.

Wei­te­re Ände­run­gen erleb­te § 127 Abs. 1 SGB V, als am 11. April 2017 das Heil- und Hilfs­mit­tel­ver­sor­gungs­ge­setz (HHVG) in Kraft trat. Zahl­rei­che Vor­ga­ben für die Leis­tungsbeschreibung im Rah­men öffent­li­cher Ausschrei­bungen wur­den ein­ge­fügt. Gesetz­ge­be­ri­sches Ziel war es, die Qua­li­tät bei der Ver­sor­gung mit medi­zi­ni­schen Hilfs­mitteln zu ver­bes­sern. Denn die Ein­füh­rung der öffentli­chen Aus­schrei­bung in die­sem Bereich wur­de von ste­tig zuneh­men­den Beschwer­den der Ver­si­cher­ten und Versi­chertenorganisationen über Qua­li­täts­män­gel beglei­tet.1 Ursa­chen hier­für: unzu­rei­chen­de Leistungsbeschreibun­gen, feh­len­des Ver­trags­con­trol­ling der Kran­ken­kas­sen, mas­si­ve Ein­schrän­kun­gen des Wahl­rechts zwi­schen Leis­tungserbringern sowie der über­bor­den­de Fokus auf finan­zielle Ein­spa­run­gen fern­ab des Wirtschaftlichkeitsprin­zips sei­tens der Krankenkassen.

Indi­vi­du­el­le, regio­na­le Ver­sor­gung sicherstellen

Es stell­te sich immer deut­li­cher her­aus: Die Beschaf­fung medi­zi­ni­scher Hilfs­mit­tel ist viel­fach nicht standardisier­bar und hoch indi­vi­du­ell. Für eine rei­bungs­lo­se sektoren­übergreifende Ver­sor­gung sind regio­na­le Struk­tu­ren nötig. Nicht zuletzt akzep­tie­ren die Ver­si­cher­ten oft nicht, dass öffent­li­che Aus­schrei­bun­gen ihr Wahl­recht zwi­schen ver­schiedenen Leis­tungs­er­brin­gern ein­schränk­ten. Dies wur­de als Ein­griff in das grund­recht­lich garan­tier­te Persönlich­keitsrecht gese­hen. Denn die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln ist häu­fig mit Inti­mi­täts­mo­men­ten verbun­den, die für die Ver­si­cher­ten nicht ver­han­del­bar sind. Mit sei­nen Reform­an­sät­zen konn­te der Gesetz­ge­ber die­se Span­nungsfelder nicht lösen.2 Zahl­rei­che natio­na­le Gerichtsver­fahren zwi­schen gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen, Aufsichtsbe­hörden und Leis­tungs­er­brin­gern beglei­te­ten die Reformbe­mühungen. Sie beschäf­tig­ten sich mit der Fra­ge der Abgren­zung sozi­al­recht­li­cher Rege­lun­gen des SGB V zum europä­ischen Ver­ga­be­recht, die im Gesetz gegen Wettbewerbsbe­schränkungen (GWB) ihre Aus­prä­gung fin­den. Vor die­sem Hin­ter­grund been­de­te der Gesetz­ge­ber nach zwölf Jah­ren mit­hil­fe des TSVG den Aus­flug in die öffentli­che Aus­schrei­bung bei medi­zi­ni­schen Hilfs­mit­teln. Beste­hende Strei­tig­kei­ten ver­blie­ben jedoch. Sie wur­den auf ein euro­päi­sches Level gehoben.

Ver­trags­ver­hand­lun­gen als deut­scher Weg

Um in den Anwen­dungs­be­reich der betref­fen­den EU-Richt­li­nie 2014/24 zu fal­len, müs­sen die in § 127 SGB V auf­geführten Ver­trags­kon­stel­la­tio­nen als öffent­li­che Auf­trä­ge qua­li­fi­zier­bar sein. Dann wäre ein Vertragsverletzungsver­fahren der EU-Kom­mis­si­on zu rechtfertigen.

In sei­ner aktu­el­len Fas­sung sieht § 127 SGB V in Abs. 1 den Abschluss von Ver­trä­gen mit Leis­tungs­er­brin­gern, de­ren Ver­bän­den oder sons­ti­gen Zusam­men­schlüs­sen von Leis­tungs­er­brin­gern durch Ver­trags­ver­hand­lun­gen vor. Die Absicht, über die Ver­sor­gung mit bestimm­ten Hilfsmit­teln Ver­trä­ge zu schlie­ßen, ist dabei in geeig­ne­ter Wei­se öf­fentlich bekannt zu machen. Über die Inhal­te abgeschlos­sener Ver­trä­ge wie­der­um sind ande­re Leis­tungs­er­brin­ger auf Nach­fra­ge unver­züg­lich zu informieren.

Gemäß § 127 Abs. 2 SGB V kön­nen ande­re Leistungser­bringer jeder­zeit und ohne zeit­li­che Beschrän­kung zu glei­chen Bedin­gun­gen den bereits abge­schlos­se­nen Verträgen bei­tre­ten. In die­sem Fall sind Ver­trags­ver­hand­lun­gen für den bei­tritts­wil­li­gen Leis­tungs­er­brin­ger zu ermög­li­chen. Hin­zu kommt, dass den Kran­ken­kas­sen gegen­über den Versicher­ten kein Zuwei­sungs­recht bezüg­lich ein­zel­ner Vertragspart­ner zusteht: Die Aus­wahl des Leis­tungs­er­brin­gers geht ent­sprechend § 33 Abs. 6 SGB V vom Ver­si­cher­ten aus, der unter allen Ver­trags­part­nern der Kran­ken­kas­se wäh­len kann.

In Aus­le­gung der erwähn­ten EU-Richt­li­nie hat der EuGH in der Rechts­sa­che Dr. Falk Phar­ma GmbH (Rs.C‑410/14)3 bereits klar­ge­stellt, dass die Ent­schei­dung zwi­schen meh­reren Wirt­schafts­teil­neh­mern bzw. Selek­ti­vi­tät (Tref­fen einer Aus­wahl) und die Gewäh­rung von Exklu­si­vi­tät we­sentliche Kern­ele­men­te sind, die den Begriff eines öffent­lichen Auf­trags prä­gen. Das jeder­zei­ti­ge Bei­tritts­recht aller Wirt­schafts­teil­neh­mer zu Ver­trä­gen und die unbeschränk­te Offen­heit eines Ver­trags­sys­tems für die­se spre­chen hin­gegen ein­deu­tig gegen einen öffent­li­chen Auf­trag im Sin­ne der Richt­li­nie. Die­se Auf­fas­sung hat der EuGH in sei­ner Ent­schei­dung in der Rechts­sa­che Tirk­ko­nen (Rs. C‑9/17)4 bestä­tigt – und dies sogar unter zeit­li­cher Beschrän­kung des Bei­tritts­rechts. Somit ergibt sich ein­deu­tig, dass die EU-Richt­li­nie für die Ver­trags­kon­stel­la­tio­nen des § 127 SGB V nicht anwend­bar ist. Damit ist es nicht zwin­gend, ein Aus­schreibungsverfahren durch­zu­füh­ren. Das gilt übri­gens genau­so für Ein­zel­ver­trä­ge nach § 127 Abs. 3 SGB V. Denn in die­ser Vari­an­te, die als gesetz­li­cher Aus­nah­me­fall gestal­tet ist, liegt kei­ne Wett­be­werbs­si­tua­ti­on unter meh­re­ren Markt­teil­neh­mern vor.

Ver­hand­lun­gen zulässig

Wei­ter­hin stellt sich die Fra­ge, wel­chen Rah­men das pri­märe Gemein­schafts­recht beim Abschluss von Ver­trä­gen gemäß § 127 SGB V setzt. Spe­zi­ell, ob Ver­hand­lun­gen oder Gesprä­che mit Leis­tungs­er­brin­gern im Vor­feld von Ver­tragsabschlüssen zuläs­sig sind. Denn nach dem Wil­len des Gesetz­ge­bers sol­len Ver­trä­ge auf dem Ver­hand­lungs­weg ge­schlossen wer­den – Vor­ge­sprä­che sind da unerlässlich.

Der EuGH hat für Ver­trags­schlüs­se außer­halb des Verga­beregimes die Grund­re­geln des AEU-Ver­trags zum alleini­gen Maß­stab erho­ben.3 Hier­zu gehö­ren: die Beach­tung des Trans­pa­renz­ge­bots, die Grund­sät­ze der Nichtdiskriminie­rung sowie der Gleich­be­hand­lung. Die Ver­trags­in­hal­te müs­sen jedoch laut EuGH-Ent­schei­dung nicht von Vorn­her­ein in einer Wei­se fest­ge­legt sein, dass kein Wirtschaftsteilneh­mer dar­auf Ein­fluss neh­men kann. Die pri­mär­recht­li­chen Anfor­de­run­gen wer­den also durch das jeder­zei­ti­ge Beitritts­recht, die Ver­öf­fent­li­chungs­pflicht sowie die bestehen­den Aus­kunfts­rech­te in vol­lem Umfang erfüllt.

Fazit: Die vom deut­schen Gesetz­ge­ber mit § 127 SGB V geschaf­fe­nen Rege­lun­gen ver­sto­ßen nicht gegen die Vor­ga­ben der Richt­li­nie 2014/24 EU und eben­so wenig gegen pri­mär­recht­li­che Grundprinzipien.

Gesund­heits­we­sen: Mit­glieds­staa­ten behal­ten Kontrolle

In eini­gen Berei­chen des Gesund­heits­we­sens hat die EU kei­ne Rege­lungs­kom­pe­tenz (gemäß Art. 2 Abs. 1, 3. AEUV sowie § 2 Abs. 2, 4 AEUV). In allei­ni­ger Ver­ant­wor­tung der Mit­glied­staa­ten lie­gen die Ver­wal­tung des Gesundheitswe­sens, die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung sowie die Zuwei­sung dafür bereit­ge­stell­ter Mit­tel (Art. 168 Abs. 7 AEUV). Bei die­ser Rege­lung han­delt es sich um eine soge­nann­te Kompe­tenzausübungsgrenze.5

Laut EuGH sind die Kom­pe­tenz und das Inter­es­se der Mit­glied­staa­ten, ihr Gesund­heits­sys­tem selbst zu organi­sieren und des­sen Finan­zie­rung sicher­zu­stel­len, ein gene­reller Recht­fer­ti­gungs­grund – also ein zwin­gen­der Grund im all­ge­mei­nen Inter­es­se – für eine Beschrän­kung der Grund­frei­hei­ten.68 Dem­entspre­chend darf EU-Recht nicht mit grund­sätz­li­chen inlän­di­schen Wert­vor­stel­lun­gen wie dem Schutz der Gesund­heit kol­li­die­ren, zu dem die qua­litätsgerechte Ver­sor­gung von gesetz­lich Ver­si­cher­ten mit medi­zi­ni­schen Hilfs­mit­teln zählt.

Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren der EU-Kom­mis­si­on: Recht­li­che Basis Gegen­stand eines Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­rens gemäß Art. 258 AEUV sind Ver­stö­ße gegen pri­mä­res oder sekun­dä­res Uni­ons­recht (das Euro­pa­recht unter­schei­det zwi­schen pri­mä­rem, also ursprüng­li­chem, und sekun­dä­rem, also abge­lei­te­tem Recht – ver­gleich­bar mit der Unter­schei­dung zwi­schen Ver­fas­sungs- und ein­fa­chem Recht in Deutsch­land). Für eine Kla­ge­er­he­bung vor dem Euro­päi­schen Gerichts­hof (EuGH) muss die Kom­mis­si­on von einer Ver­trags­ver­let­zung über­zeugt sein.7 Die Kom­mis­si­on stützt die Eröff­nung des Vor­ver­fah­rens auf die Ver­let­zung sekun­dä­ren Gemein­schafts­rechts in Gestalt der Ver­ga­be­richt­li­nie 2014/24 EU. Dem­nach müss­te die aktu­el­le Gestal­tung des § 127 SGB V nach dem TSVG gegen die Richt­li­nie 2014/24 EU ver­sto­ßen. Dies kann nur der Fall sein, wenn die Richt­li­nie im Ober­schwel­len­be­reich (Ver­ga­be ober­halb der EU-Schwel­len­wer­te, Auf­trä­ge müs­sen dann stan­dar­di­siert und euro­pa­weit bekannt gemacht wer­den) die Beschaf­fung mit­tels Aus­schrei­bung für öffent­li­che Auf­trag­ge­ber zwin­gend vor­sieht. Oder wenn das Pri­mär­ge­mein­schafts­recht eine ver­pflich­ten­de Vor­ga­be nur bestimm­ter, abschlie­ßend auf­ge­zähl­ter Beschaf­fungs­we­ge ent­hält – bzw. gene­rell eine Ver­kür­zung bei der Aus­wahl mög­li­cher Beschaf­fungs­we­ge verbietet.

Das bedeu­tet: Ver­hält­nis­mä­ßi­ge Gesundheitsschutzvor­schriften der Mit­glied­staa­ten blei­ben recht­lich ver­bind­lich – und das, obwohl sie gegen das Dis­kri­mi­nie­rungs- oder Be­schränkungsverbot einer Grund­frei­heit der EU ver­sto­ßen. Selbst bei Kol­li­si­on mit pri­mä­ren Gemein­schafts­rech­ten hat die getrof­fe­ne gesetz­li­che Rege­lung des Mit­glied­staats in der Regel Vor­rang. Der Mit­glieds­staat kann dem­zu­fol­ge die Ver­fah­rens­we­ge im Hin­blick auf Ver­sor­gungs­ver­trä­ge vor­ge­ben. Er kann die­se fer­ner auf ein bestimm­tes Verfah­ren begren­zen, das im Ein­klang mit sei­ner Gesundheitspo­litik steht – bei­spiels­wei­se Verhandlungsverträge.

Kei­ne Rechts­ba­sis für EU-Verfahren

Eine recht­li­che Basis für ein Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren gegen Deutsch­land auf­grund der Neu­re­ge­lung des § 127 SGB V ist nicht ersicht­lich. Die­se fällt nicht in den Anwen­dungsbereich der Richt­li­nie 2014/24/EU.

Die Aus­ge­stal­tung des § 127 SGB V beach­tet auch die pri­märrechtlichen Grund­prin­zi­pi­en der Trans­pa­renz, Diskri­minierungsfreiheit und Gleich­heit. Selbst wenn primär­rechtliche Rege­lun­gen durch § 127 SGB V berührt wür­den, wäre ein sol­cher Ein­griff über Art. 168 Abs. 7 AEUV (Kom­pe­tenz­ver­tei­lung zwi­schen EU und Mit­glieds­staa­ten) gerecht­fer­tigt. Jetzt bleibt abzu­war­ten, wie die Kommissi­on auf die fach­li­che Aus­kunft der Bun­des­re­pu­blik reagiert. Eine begrün­de­te förm­li­che Stel­lung­nah­me der Kom­mis­si­on wird jeden­falls schwie­rig zu ver­fas­sen sein.

Rah­men­ver­trag: Bewähr­tes Modell neu auflegen

Die Aus­ein­an­der­set­zung über öffent­li­che Auf­trä­ge im Sin­ne des Ver­ga­be­rechts sowie die Versorgungsqualität wird zunächst fort­ge­setzt. Eine wei­te­re Mög­lich­keit, die Diskus­sion zu been­den, wäre eine Rück­kehr des Bundesgesetzge­bers zum Ver­bands­rah­men­ver­trag als rei­nes Beitrittsmo­dell für qua­li­fi­zier­te Leis­tungs­er­brin­ger und ein­zi­ge Ver­tragsform – fest­ge­schrie­ben in § 127 SGB V. In ande­ren Ver­sor­gungs­seg­men­ten der gesetz­li­chen Krankenversiche­rung wird dies ja prak­ti­ziert. Sol­che Ver­bands­ver­trä­ge mit Kon­tra­hie­rungs­zwang gewähr­leis­ten eine gleich­ran­gi­ge Ver­hand­lung mit den Kran­ken­kas­sen. Schluss­end­lich för­dern sie den fach­li­chen Dis­kurs über inno­va­ti­ve Vertrags­modelle, die dem Wirt­schaft­lich­keits­ge­bot genü­gen. Denn in den letz­ten Jah­ren ist das Ver­hält­nis zwi­schen Innovati­on und Wirt­schaft­lich­keit im Hilfs­mit­tel­be­reich durch die über­wie­gen­de Kos­ten­ori­en­tie­rung der Kran­ken­kas­sen aus dem Gleich­ge­wicht geraten.

Nico Ste­phan

Michael Blatt
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  1. 18/11205, S. 67 ff. 
  2. BT-Drs. 19/8351, S. 202 ff. 
  3. EuGH, Urt. v. 02.06.2016 – C‑410/14.
  4. EuGH, Urt. v. 01.03.2018 – C‑9/17.
  5. King­reen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 168 AEUV, Rdnr. 25. 
  6. EuGH, Urt. v. 28.04.1998 – C‑120/95, Slg. 1998, I‑1831, I‑1839,
    Lur­ger, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 168 AEUV, Rdnr. 29. 
  7. Kar­pen­stein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Uni­on, Werk­stand: 67. EL Juni 2019, Art. 258 AEUV, Rn. 38. 
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