Rezen­si­on: „Mit einem Bein bereits im Himmel“

Priv.-Doz. Dr. med. habil. Lutz Brückner rezensiert für die OT das Buch „Mit einem Bein bereits im Himmel“ von PD Dr. med. habil. Kai-Uwe Kern. Dieser ist Schmerztherapeut, Facharzt für Anästhesiologie und Allgemeinmedizin und hat im vergangenen Jahr das Buch, welches sich vor allem mit Phantomschmerzen beschäftigt, veröffentlicht.

„Das kann nicht sein, denn es ist ja nicht zu erklä­ren…“ – Dr. Kai-Uwe Kern hat aus gutem Grund sein Buch unter die­sem Mot­to ver­öf­fent­licht. Er kann näm­lich nicht immer ein gefor­der­tes Kau­sa­li­täts­be­dürf­nis von regis­trier­ten Vor­gän­gen befrie­di­gen, geschwei­ge denn wis­sen­schaft­lich exakt erklä­ren. Ande­rer­seits hat er in etwa 20 Jah­ren als Schmerz­the­ra­peut so vie­le Mit­tei­lun­gen von Patienten
erhal­ten und gesam­melt, so dass jetzt ein kli­ni­scher Erfah­rungs­schatz vor­liegt, der sei­nes­glei­chen sucht. Das Ziel des Autors ist, damit Denk­an­stö­ße zur wei­te­ren kli­ni­schen For­schung und Grund­la­gen­for­schung zu geben. Dass das auf dem Gebiet der Phan­tom­schmer­zen drin­gend not­wen­dig ist, geben uns geplag­te Pati­en­ten mit auf den Weg.

Anzei­ge

Nicht nur der Rezen­sent hat in der Ver­gan­gen­heit zu die­ser oder jener Fest­stel­lung Beden­ken geäu­ßert, ist aber wie der Autor davon über­zeugt, dass damit Gedan­ken und Vor­stel­lun­gen im Sin­ne einer kon­struk­ti­ven Wei­ter­ent­wick­lung auf­ge­frischt wur­den. Man kann sich sicher sein, dass vie­les, was der Autor beschreibt, nicht bekannt ist. Das nun wie­der­um hat der Rezen­sent für sich selbst und in sei­ner 45-jäh­ri­gen Arbeit mit Men­schen mit Ampu­ta­ti­on erfah­ren müssen.

Es ist Kol­le­gen Kern zu bestä­ti­gen, dass er die­sen Spa­gat zwi­schen gro­ßer kli­ni­scher Erfah­rung und dem oft noch feh­len­dem wis­sen­schaft­li­chen Nach­weis ein­zel­ner Phä­no­me­ne gründ­lich dar­ge­stellt und sehr sach­lich bewer­tet hat, so dass das Buch eine her­vor­ra­gen­de Anre­gung zur wei­te­ren Phan­tom­schmerz-For­schung dar­stellt. So hat er öfters zu ein­zel­nen Phä­no­me­nen bemerkt, dass man sie jetzt noch nicht erklä­ren kann. Also Fra­gen gestellt, die es nun zu erklä­ren gilt. Für den Medi­zi­ner, die Phy­sio­the­ra­peu­ten und Ortho­pä­die­tech­ni­ker bedeu­tet das, dass das Buch auch bei noch offe­nen Fra­gen, ja gera­de des­halb für eine wei­te­re geziel­te Beob­ach­tung von Phan­tom­schmer­zen auch durch sie, zu emp­feh­len ist.

Das Buch ist in zwölf Kapi­tel und meh­re­re Unter­ka­pi­tel geglie­dert, so dass es über­sicht­lich und gut zu lesen ist. Dabei fällt, eben­so wie im Lite­ra­tur­ver­zeich­nis, auf, dass sich das Buch stark an neu­ro­lo­gi­schen, psy­cho­lo­gi­schen und psych­ia­tri­schen Grund­la­gen ori­en­tiert. Der Autor weist auch auf meta­phy­si­sche und mys­ti­sche Aspek­te, beson­ders im Phan­tom­raum, dem sehr spe­zi­el­len peri­per­so­na­len Raum durch Ein­flüs­se von außen, hin. „Dass der Phan­tom­raum wich­tig sein könn­te, legt eine Schil­de­rung des Schwei­zer Neu­ro­psy­cho­lo­gen Peter Brug­ger am Bei­spiel einer 44-jäh­ri­gen Aka­de­mi­ke­rin nahe, die ohne Unter­ar­me und Bei­ne gebo­ren wur­de und die­se daher nie wahr­ge­nom­men hat­te. Seit sie sich erin­nern konn­te, hat­te sie jedoch immer das bewuss­te Erleb­nis von men­ta­len Bil­dern ihrer voll­stän­di­gen, nicht­exis­tie­ren­den Extremitäten.“

Ein ande­res Pro­blem ist aus chir­ur­gi­schen Sicht wesent­lich an der Ent­ste­hung von Phan­tom­schmer­zen betei­ligt. Bei der Ampu­ta­ti­on durch­tren­nen wir die Mus­ku­la­tur und rau­ben dem Mus­kel die phy­sio­lo­gi­sche Vor­span­nung (Ursprung und Ansatz nähern sich an). Das bedeu­tet, dass kei­ne phy­sio­lo­gi­schen, affe­ren­ten Infor­ma­tio­nen aus dem Bereich des Stump­fes mehr in das Zen­tra­le Ner­ven­sys­tem (ZNS) gelan­gen und der dafür zustän­di­ge „lee­re Bezirk im ZNS“ somit mit Rei­zen aus gesun­den, benach­bar­ten Area­len gereizt wer­den kann und so Phan­tom­schmer­zen erzeugt wer­den kön­nen. Wir ach­ten schon seit etwa 35 Jah­ren dar­auf. Des­halb wird die Mus­ku­la­tur ana­to­misch dar­ge­stellt und unter phy­sio­lo­gi­scher Vor­span­nung ver­näht. Der Rezen­sent kann berich­ten, dass das All­ge­mein­be­fin­den der so ope­rier­ten Pati­en­ten nicht mehr durch star­ke Phan­tom­schmer­zen beein­träch­tigt wur­de. D. h. nicht, dass gar kei­ne Phan­tom­schmer­zen mehr vor­ka­men; aber eben deut­lich ver­rin­gert. Lei­der sind die­se Erfah­run­gen weder im Buch noch im Lite­ra­tur­ver­zeich­nis erwähnt. Aber auch die von T. Adler gemach­ten fer­ro­ma­gne­ti­schen Reso­nanz-Unter­su­chun­gen bei Pati­en­ten mit einer Sau­er­bruch-Kine-Plas­tik mit der deut­li­chen Redu­zie­rung von Phan­tom­schmer­zen infol­ge der stän­di­gen Bewe­gung des Mus­kel­ka­na­les konn­ten wir nicht finden.

Das Buch ist straff geglie­dert, was dem Leser einen schnel­len Über­blick ver­schafft und das Lesen erleich­tert. Letzt­lich ist fest­zu­stel­len, dass der Autor uns auf der Basis lang­jäh­ri­ger kli­ni­scher Erfah­rung wert­vol­le bekann­te und unbe­kann­te Infor­ma­tio­nen über Phan­tom­schmer­zen gibt. Dan­ke für das Enga­ge­ment! Das Buch ist für alle ampu­tie­ren­den Ärz­t/-innen, Neu­ro­lo­g/-innen, Psych­ia­ter/-innen,
Ortho­pä­die­tech­ni­ker/-innen, Phy­sio­the­ra­peu­t/-innen und Sport­the­ra­peu­t/-innen sehr zu empfehlen.

Priv.-Doz. Dr. med. habil. L. Brück­ner, Leipzig

 

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