Lymph­sym­po­si­um: Adi­po­si­tas oder Lipödem?

319 Teilnehmer:innen aus 13 Ländern begrüßte der wissenschaftliche Leiter Prof. Dr. Markus Stücker zu Beginn des 11. Bochumer Lymphsymposiums „Ödeme und Adipositas“ am 29. Januar online und live in der Bochumer Jahrhunderthalle. Offenbar hatten die Veranstalter mit den Programminhalten einen Nerv getroffen. Viele der Referent:innen sprachen dann auch immer wieder von einer „Pandemie der Adipositas“ und vom Wunsch, dass Adipositas gesellschaftlich endlich als Krankheit anerkannt wird. Die zahlreichen Adipositas induzierten Begleiterkrankungen wie beispielsweise das Lymphödem, Wunderkrankungen u. Ä. stellen nach Ansicht einiger Vortragenden schon jetzt alle an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen vor große Herausforderungen, die im Symposium angesprochen und diskutiert wurden.

Abgren­zung: Lymph­ödem – Lipö­dem – Adipositas

Im ers­ten eher kli­ni­schen Teil stan­den die Grund­la­gen und die Dif­fe­ren­zi­al­dia­gnos­tik von Lymph­ödem, Lipö­dem und Adi­po­si­tas im Mit­tel­punkt: Wie las­sen sich die­se Krank­heits­bil­der von­ein­an­der abgren­zen? An wel­chen Stel­len ver­mi­schen sie sich und was sind die Ursa­chen? Mit der Licht­bild­mi­kro­sko­pie, die eine 3D-Rekon­struk­ti­on des Gewe­bes ermög­licht, kön­ne man die Ana­to­mie des Gewe­bes und damit die Ursa­chen bei den Erkran­kun­gen des Lymph­ödems oder des Lipö­dems bes­ser ver­ste­hen, so Dr. rer. nat. Dr. med. René Häger­ling, Ber­lin. Ein­drucks­voll zeig­te er, wie man dank die­ser 3D-Tech­no­lo­gie beim pri­mä­ren Lymph­ödem deut­lich die Frag­men­tie­rung sehen kann, wäh­rend das Lipö­dem kei­ne Stö­run­gen der Lymph­ge­fä­ße auf­wei­se. Im nächs­ten Schritt soll in wei­te­ren For­schun­gen unter­sucht wer­den, wie sich die Fett­zel­len (Adi­po­zy­ten) auf his­to­lo­gi­scher Ebe­ne ver­än­dern, um even­tu­ell Rück­schlüs­se auf die Ursa­chen der Schmer­zen beim Lipö­dem zie­hen zu können.

Anzei­ge

Dass das Lipö­dem aktu­ell eine „Mode­dia­gno­se“ und in den Medi­en sehr prä­sent sei, ver­un­si­che­re Patient:innen in ihrem All­tag und Ärzt:innen bei der Dia­gno­se­stel­lung, berich­te­te Dr. med. Anett Reiß­hau­er, Ber­lin, aus ihrer täg­li­chen Pra­xis. Sie stell­te ers­te Ergeb­nis­se einer bis­lang unver­öf­fent­lich­ten Stu­die vor, bei der 520 Fäl­le unter­sucht wur­den, die mit einer Über­wei­sung „Lipö­dem“ in der Cha­ri­té-Kli­nik vor­stel­lig wur­den. Bei 89 Pro­zent der Fäl­le konn­te das Lipö­dem aus­ge­schlos­sen wer­den. Die meis­ten Patient:innen wie­sen eine Adi­po­si­tas aus. Statt des BMI sei der Waist-Hip-Ratio (WHR = Tail­len-Hüft-Quo­ti­ent) für die Dia­gnos­tik geeig­net, beton­te Dr. Reiß­hau­er. Aber egal, wel­che der bei­den Dia­gno­sen vor­lie­gen: Bewe­gung gehe immer, sei für bei­de eine The­ra­pie und wir­ke wie ein Medikament.

Wel­che gro­ßen Pro­ble­me inter­nis­ti­sche Begleit­erkran­kun­gen bei Adi­po­si­tas asso­zi­ier­ten Öde­men dar­stel­len, zeig­te Dr. med. Sören Sören­sen, Main­burg, in sei­nem Vor­trag. Auch er plä­dier­te für Bewe­gung, da sie die Lebens­qua­li­tät ver­bes­se­re. Hin­sicht­lich der Fra­ge, Kom­ple­xe Phy­si­ka­li­sche Ent­stau­ungs­the­ra­pie (KPE) trotz Herz­in­suf­fi­zi­enz, räum­te er mit dem Vor­ur­teil auf, dass es grund­sätz­lich eine Kon­tra­in­di­ka­ti­on sei. Immer wenn ein Spre­chen ohne Atem­not und das Trep­pen­stei­gen über ein bis zwei Eta­gen mög­lich sind, sei eine Kom­pres­si­ons­the­ra­pie aus sei­ner Sicht kein Problem.

Lipö­dem: Para­dig­men­wech­sel und die Rol­le der Liposuktion

Es gebe kei­nen wis­sen­schaft­li­chen Nach­weis, dass das Lipö­dem ein „Ödem“ sei, sag­te Dr. med. Tobi­as Bertsch, Hin­ter­zar­ten, zum Auf­takt des zwei­ten Teils. Er riet dazu, das Lipö­dem aus dem Kata­log der lym­pho­lo­gi­schen Erkran­kun­gen zu strei­chen und ver­wies auf den Para­dig­men­wech­sel, der im Euro­pean Lipoe­de­ma Con­sen­sus 2020 ver­öf­fent­licht wur­de und der sich in der neu­en Leit­li­nie, die für 2022 geplant ist, wie­der­fin­den wird. Er for­der­te nicht nur eine gesell­schaft­li­che Ver­än­de­rung der media­len, weib­li­chen Vor­bil­der, son­dern auch einen Per­spek­tiv­wech­sel bei der Ver­sor­gung – weg von der Behand­lung der Öde­me hin zu einer Behand­lung der tat­säch­li­chen Beschwer­den. Das sei der Grund, war­um die Patient:innen kämen. Die kon­ser­va­ti­ve The­ra­pie wie die Kom­pres­si­ons­the­ra­pie kön­ne die Beschwer­den bei Lipödem-Patient:innen redu­zie­ren, hät­te aber kei­ne hohe Evi­denz und wür­de das Fett­ge­we­be nicht redu­zie­ren. Ist der Stel­len­wert der Lipo­suk­ti­on heu­te gerin­ger gewor­den, frag­te im Anschluss Dr. med. Axel Baum­gart­ner, Lübeck, und zeig­te anhand einer Stu­die, dass die Lipo­suk­ti­on lang­fris­tig erfolg­reich sei. Im mul­ti­mo­da­len Behand­lungs­an­satz habe die Lipo­suk­ti­on des­halb wei­ter­hin ihren Stel­len­wert. Wel­che baria­tri­schen Ver­fah­ren sich bei der Adi­po­si­tas­chir­ur­gie eta­bliert haben, erklär­te Prof. Dr. med. Metin Sen­kal, Wit­ten, und beleg­te die Erfol­ge anhand von Stu­di­en. Anschlie­ßend erläu­ter­te Prof. Dr. med. Gun­ther Fel­me­rer, Göt­tin­gen, die Rol­le der plas­ti­schen Chir­ur­gie im Adi­po­sit­aszen­trum und prä­sen­tier­te beein­dru­cken­de Vor­her-nach­her-Fall­bei­spie­le.  Bemer­kens­wert war dabei, dass auch bei Frau­en mit rei­ner Adi­po­si­tas ohne Lipö­dem die Fett­de­pots an den Ober­schen­keln beson­ders hart­nä­ckig sind. Also auch bei mas­si­ver Gewichts­re­duk­ti­on von über 50 Kilo­gramm blei­ben hier noch gro­ße Fett­de­pots zurück, die bis­wei­len durch eine Lipo­suk­ti­on noch behan­delt wer­den müs­sen. Fett­de­pots am Ober­schen­kel tre­ten somit nicht nur beim Lipö­dem auf, son­dern auch bei Adipositas.

Wie ver­än­dert die „Pan­de­mie der Adi­po­si­tas“ die kon­ser­va­ti­ve Therapie?

Adi­po­si­tas asso­zi­ier­te Haut­pro­ble­me und ihre Ver­sor­gungs­op­tio­nen stell­te Dr. med. Stef­fen Gass, Günz­burg, zu Beginn des drit­ten Teils vor. Er gab dazu dann einen Über­blick, bei wel­cher Wun­de wel­ches Lokal­the­ra­peu­ti­kum sinn­voll zum Ein­satz kom­men kann und plä­dier­te für ein Wund­ma­nage­ment, bei dem es immer dar­um gehen müs­se, die Wun­de tro­cken zu hal­ten. Dass die Erkran­kung „Adi­po­si­tas“ auch einen beson­de­ren Stel­len­wert in der Lym­pho­lo­gie hat, beton­te Prof. Dr. Ste­fa­nie Reich-Schub­ke, Reck­ling­hau­sen, anschlie­ßend. Es sei eine Her­aus­for­de­rung, wie die fünf Säu­len der KPE bei adi­pö­sen Patient:innen grund­sätz­lich über­haupt umge­setzt wer­den könn­ten. Zudem wer­fen die vie­len Begleit­erkran­kun­gen wie bei­spiels­wei­se kom­pli­zier­te Lymph­öde­me oder Haut­pro­ble­me neue Fra­gen auf. Eines sei aber sicher: Adi­pö­se Patient:innen benö­ti­gen in allen Berei­chen mehr Hil­fen von Drit­ten. Sie warf die Fra­ge ins Ple­num, ob wegen der wach­sen­den Zahl an Betrof­fe­nen auch in lym­pho­lo­gi­schen Pra­xen eine sechs­te Säu­le „Adi­po­si­tas und wie behan­delt man es“ in der Kom­ple­xe Phy­si­ka­li­sche Ent­stau­ungs­the­ra­pie (KPE) ergänzt wer­den sollte?

Wel­che Pro­ble­me es bei der Ver­sor­gung schon heu­te gibt, zeig­ten die nach­fol­gen­den Vor­trä­ge drei­er Physiotherapeut:innen aus der Pra­xis: Tho­mas Zäh­rin­ger, Hin­ter­zar­ten, refe­rier­te zu den prak­ti­schen Pro­ble­men und phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Behand­lungs­an­sät­zen beim Adi­po­si­tas asso­zi­ier­ten Lipö­dem und Adi­po­si­tas asso­zi­ier­ten Lymph­ödem; Mar­tin Morand, Ber­lin, zeig­te die Erfol­ge der IPK-Plus-Metho­de auch bei adi­pö­sen Patient:innen; Chris­ti­ne Hem­mann-Moll, Bad Rap­pen­au, prä­sen­tier­te prak­ti­sche Aspek­te der lym­pho­lo­gi­schen Kom­pres­si­ons­ver­sor­gung von adi­pö­sen Patient:innen.

„Adi­po­si­tas als ernst­zu­neh­men­des Krank­heits­bild akzeptieren“

Vie­le neue Aspek­te und offe­ne Fra­gen wur­den auch beim 11. Bochu­mer Lymph­sym­po­si­um behan­delt. Beim The­ma „Öde­me und Adi­po­si­tas“ ist Bewe­gung in Wis­sen­schaft und Pra­xis, wie auch Prof. Dr. Mar­tin Stü­cker im Inter­view mit der OT bestätigt.

OT: Zum 11. Mal haben Sie als wis­sen­schaft­li­cher Lei­ter zum Lymph­sym­po­si­um gela­den. Was war die Inten­ti­on in die­sem Jahr, den Fokus auf das The­ma „Öde­me und Adi­po­si­tas“ zu legen?

Prof. Dr. Mar­tin Stü­cker: Adi­po­si­tas nimmt in unse­rer Gesell­schaft stark zu. Die Coro­na­pan­de­mie hat die­se Ent­wick­lung sicher­lich noch ver­schärft. Mit die­sem Krank­heits­bild tritt häu­fig eine Adi­po­si­tas asso­zi­ier­te Schwel­len­nei­gung auf, die dadurch ent­steht, dass das Bauch­fett sowohl die Venen als auch die Lymph­bah­nen ins­be­son­de­re im Sit­zen abdrückt. Dadurch wird es not­wen­dig, zusätz­lich zu der Behand­lung der Adi­po­si­tas auch die­se Öde­me rich­tig ein­zu­ord­nen und zu the­ra­pie­ren. Dabei spielt die Kom­pres­si­ons­the­ra­pie mit ihren eige­nen Her­aus­for­de­run­gen bei adi­pö­sen Patient:innen eine beson­de­re Rolle.

OT: Gibt es etwas, dass Sie beson­ders beein­druckt bzw. in Ihrer Erin­ne­rung geblie­ben ist?

Stü­cker: Mir war bis­lang noch nicht so klar, dass Frau­en ohne Lipö­dem mit der Dia­gno­se „Adi­po­si­tas“ ähn­lich gela­ger­te Fett­de­pots an den Ober­schen­keln haben wie Pati­en­tin­nen mit einem rei­nen Lipö­dem. Dass die­se Pati­en­tin­nen selbst bei mas­si­ver Gewichts­re­duk­ti­on eben genau an die­sen Stel­len immer etwas zurück­be­hal­ten, das fand ich sehr beein­dru­ckend. Vie­le Pati­en­tin­nen mit Adi­po­si­tas kom­men immer wie­der zu mir in die Pra­xis mit der Fra­ge: Ist das nicht viel­leicht ein Lipö­dem, weil sie die Fett­de­pots an bei­den Ober­schen­keln haben. Und das scheint mir nun nach die­sem Vor­trag nicht unbe­dingt der Fall zu sein. Beim Mann wer­den die Fett­de­pots eben am Bauch ange­la­gert und bei der Frau am Ober­schen­kel. Das hat nicht zwin­gend etwas mit dem Befund „Lipö­dem“ zu tun. Das wur­de bei die­sem Sym­po­si­um ganz deutlich.

OT: Wel­che Aus­wir­kun­gen hat der Para­dig­men­wech­sel des Lipö­dems auf die KPE und ins­be­son­de­re auf die Kompressionstherapie?

Stü­cker: Wenn das rei­ne Lipö­dem, wie Herr Dr. Bertsch in sei­nem Vor­trag sag­te, kein Ödem ist, heißt das für uns ledig­lich, dass die Kom­pres­si­ons­the­ra­pie schein­bar auch ohne grö­ße­re Öde­me eine schmerz­lin­dern­de Wir­kung hat; allein durch den Mas­sa­ge­ef­fekt und die anti­ent­zünd­li­che Wir­kung. Somit kön­nen wir nicht sagen, in den Bei­nen wird kein Ödem fest­ge­stellt, des­halb wirkt die Kom­pres­si­on nicht. Im Gegen­teil. Das zeigt uns, dass man auch ohne sicht­ba­res Ödem den betrof­fe­nen Frau­en durch die Kom­pres­si­ons­the­ra­pie eine schmerz­lin­dern­de The­ra­pie zukom­men las­sen kann, und das muss unser Ziel sein.

OT: Wel­che Rol­le spielt aus Ihrer Sicht der Sani­täts­fach­han­del im viel­fach von den Referent:innen ange­spro­che­nen mul­ti­mo­da­len Behandlungskonzept? 

Stü­cker: Der Sani­täts­fach­han­del hat eine ganz zen­tra­le Rol­le, weil dort die Kom­pres­si­ons­be­strump­fung ange­mes­sen wird. Das ist tech­nisch sowohl bei der Adi­po­si­tas als auch beim Lip- oder Lymph­ödem nicht tri­vi­al. Das ist eine Her­aus­for­de­rung. Das muss gut gemacht sein, weil ja bekannt ist, dass die The­ra­pie­ad­hä­renz davon abhän­gig ist, wie die Kom­pres­si­ons­strümp­fe ange­mes­sen sind. Wenn die Kom­pres­si­ons­strümp­fe nicht opti­mal sit­zen, fällt das auf die Kom­pres­si­ons­the­ra­pie als sol­che und ihre Wirk­sam­keit zurück.

OT: Was wür­den Sie sich für die Zukunft in Bezug auf Adi­po­si­tas und die viel­fa­chen Begleit­erkran­kun­gen wünschen?

Stü­cker: Mir ist es wich­tig, dass Adi­po­si­tas in unse­rer Gesell­schaft als ernst­zu­neh­men­des Krank­heits­bild akzep­tiert wer­den muss. Wir haben häu­fig die Situa­ti­on, dass Frau­en zu uns in die Pra­xis kom­men mit der ein­deu­ti­gen Dia­gno­se „Adi­po­si­tas“, die aber unbe­dingt die Dia­gno­se „Lipö­dem“ haben wol­len. Sie haben die Vor­stel­lung, Lipö­dem sei eine Dia­gno­se, die eher von der Gesell­schaft als Krank­heit akzep­tiert sei. Bei Adi­po­si­tas haben sie das Gefühl, sie wür­den selbst die Schuld an die­ser Krank­heit tra­gen. Und das ist ein­fach falsch. Man muss das Krank­heits­bild der Adi­po­si­tas ein­fach wert­frei sehen. Es ist eine Krank­heit wie Blut­hoch­druck, Krebs oder Throm­bo­se. Das ist etwas, das ich mir für die Zukunft tat­säch­lich wün­schen wür­de, dass ins­be­son­de­re auch von den Patient:innen akzep­tiert wird, dass Adi­po­si­tas eine Krank­heit ist, die von einem Spe­zia­lis­ten behan­delt wer­den muss.

Die Fra­gen stell­te Ire­ne Mechsner. 

 

Der nächs­te Bochu­mer Lym­ph­tag fin­det am Sams­tag, 28. Janu­ar 2023, statt.

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