Abgrenzung: Lymphödem – Lipödem – Adipositas
Im ersten eher klinischen Teil standen die Grundlagen und die Differenzialdiagnostik von Lymphödem, Lipödem und Adipositas im Mittelpunkt: Wie lassen sich diese Krankheitsbilder voneinander abgrenzen? An welchen Stellen vermischen sie sich und was sind die Ursachen? Mit der Lichtbildmikroskopie, die eine 3D-Rekonstruktion des Gewebes ermöglicht, könne man die Anatomie des Gewebes und damit die Ursachen bei den Erkrankungen des Lymphödems oder des Lipödems besser verstehen, so Dr. rer. nat. Dr. med. René Hägerling, Berlin. Eindrucksvoll zeigte er, wie man dank dieser 3D-Technologie beim primären Lymphödem deutlich die Fragmentierung sehen kann, während das Lipödem keine Störungen der Lymphgefäße aufweise. Im nächsten Schritt soll in weiteren Forschungen untersucht werden, wie sich die Fettzellen (Adipozyten) auf histologischer Ebene verändern, um eventuell Rückschlüsse auf die Ursachen der Schmerzen beim Lipödem ziehen zu können.
Dass das Lipödem aktuell eine „Modediagnose“ und in den Medien sehr präsent sei, verunsichere Patient:innen in ihrem Alltag und Ärzt:innen bei der Diagnosestellung, berichtete Dr. med. Anett Reißhauer, Berlin, aus ihrer täglichen Praxis. Sie stellte erste Ergebnisse einer bislang unveröffentlichten Studie vor, bei der 520 Fälle untersucht wurden, die mit einer Überweisung „Lipödem“ in der Charité-Klinik vorstellig wurden. Bei 89 Prozent der Fälle konnte das Lipödem ausgeschlossen werden. Die meisten Patient:innen wiesen eine Adipositas aus. Statt des BMI sei der Waist-Hip-Ratio (WHR = Taillen-Hüft-Quotient) für die Diagnostik geeignet, betonte Dr. Reißhauer. Aber egal, welche der beiden Diagnosen vorliegen: Bewegung gehe immer, sei für beide eine Therapie und wirke wie ein Medikament.
Welche großen Probleme internistische Begleiterkrankungen bei Adipositas assoziierten Ödemen darstellen, zeigte Dr. med. Sören Sörensen, Mainburg, in seinem Vortrag. Auch er plädierte für Bewegung, da sie die Lebensqualität verbessere. Hinsichtlich der Frage, Komplexe Physikalische Entstauungstherapie (KPE) trotz Herzinsuffizienz, räumte er mit dem Vorurteil auf, dass es grundsätzlich eine Kontraindikation sei. Immer wenn ein Sprechen ohne Atemnot und das Treppensteigen über ein bis zwei Etagen möglich sind, sei eine Kompressionstherapie aus seiner Sicht kein Problem.
Lipödem: Paradigmenwechsel und die Rolle der Liposuktion
Es gebe keinen wissenschaftlichen Nachweis, dass das Lipödem ein „Ödem“ sei, sagte Dr. med. Tobias Bertsch, Hinterzarten, zum Auftakt des zweiten Teils. Er riet dazu, das Lipödem aus dem Katalog der lymphologischen Erkrankungen zu streichen und verwies auf den Paradigmenwechsel, der im European Lipoedema Consensus 2020 veröffentlicht wurde und der sich in der neuen Leitlinie, die für 2022 geplant ist, wiederfinden wird. Er forderte nicht nur eine gesellschaftliche Veränderung der medialen, weiblichen Vorbilder, sondern auch einen Perspektivwechsel bei der Versorgung – weg von der Behandlung der Ödeme hin zu einer Behandlung der tatsächlichen Beschwerden. Das sei der Grund, warum die Patient:innen kämen. Die konservative Therapie wie die Kompressionstherapie könne die Beschwerden bei Lipödem-Patient:innen reduzieren, hätte aber keine hohe Evidenz und würde das Fettgewebe nicht reduzieren. Ist der Stellenwert der Liposuktion heute geringer geworden, fragte im Anschluss Dr. med. Axel Baumgartner, Lübeck, und zeigte anhand einer Studie, dass die Liposuktion langfristig erfolgreich sei. Im multimodalen Behandlungsansatz habe die Liposuktion deshalb weiterhin ihren Stellenwert. Welche bariatrischen Verfahren sich bei der Adipositaschirurgie etabliert haben, erklärte Prof. Dr. med. Metin Senkal, Witten, und belegte die Erfolge anhand von Studien. Anschließend erläuterte Prof. Dr. med. Gunther Felmerer, Göttingen, die Rolle der plastischen Chirurgie im Adipositaszentrum und präsentierte beeindruckende Vorher-nachher-Fallbeispiele. Bemerkenswert war dabei, dass auch bei Frauen mit reiner Adipositas ohne Lipödem die Fettdepots an den Oberschenkeln besonders hartnäckig sind. Also auch bei massiver Gewichtsreduktion von über 50 Kilogramm bleiben hier noch große Fettdepots zurück, die bisweilen durch eine Liposuktion noch behandelt werden müssen. Fettdepots am Oberschenkel treten somit nicht nur beim Lipödem auf, sondern auch bei Adipositas.
Wie verändert die „Pandemie der Adipositas“ die konservative Therapie?
Adipositas assoziierte Hautprobleme und ihre Versorgungsoptionen stellte Dr. med. Steffen Gass, Günzburg, zu Beginn des dritten Teils vor. Er gab dazu dann einen Überblick, bei welcher Wunde welches Lokaltherapeutikum sinnvoll zum Einsatz kommen kann und plädierte für ein Wundmanagement, bei dem es immer darum gehen müsse, die Wunde trocken zu halten. Dass die Erkrankung „Adipositas“ auch einen besonderen Stellenwert in der Lymphologie hat, betonte Prof. Dr. Stefanie Reich-Schubke, Recklinghausen, anschließend. Es sei eine Herausforderung, wie die fünf Säulen der KPE bei adipösen Patient:innen grundsätzlich überhaupt umgesetzt werden könnten. Zudem werfen die vielen Begleiterkrankungen wie beispielsweise komplizierte Lymphödeme oder Hautprobleme neue Fragen auf. Eines sei aber sicher: Adipöse Patient:innen benötigen in allen Bereichen mehr Hilfen von Dritten. Sie warf die Frage ins Plenum, ob wegen der wachsenden Zahl an Betroffenen auch in lymphologischen Praxen eine sechste Säule „Adipositas und wie behandelt man es“ in der Komplexe Physikalische Entstauungstherapie (KPE) ergänzt werden sollte?
Welche Probleme es bei der Versorgung schon heute gibt, zeigten die nachfolgenden Vorträge dreier Physiotherapeut:innen aus der Praxis: Thomas Zähringer, Hinterzarten, referierte zu den praktischen Problemen und physiotherapeutischen Behandlungsansätzen beim Adipositas assoziierten Lipödem und Adipositas assoziierten Lymphödem; Martin Morand, Berlin, zeigte die Erfolge der IPK-Plus-Methode auch bei adipösen Patient:innen; Christine Hemmann-Moll, Bad Rappenau, präsentierte praktische Aspekte der lymphologischen Kompressionsversorgung von adipösen Patient:innen.
„Adipositas als ernstzunehmendes Krankheitsbild akzeptieren“
Viele neue Aspekte und offene Fragen wurden auch beim 11. Bochumer Lymphsymposium behandelt. Beim Thema „Ödeme und Adipositas“ ist Bewegung in Wissenschaft und Praxis, wie auch Prof. Dr. Martin Stücker im Interview mit der OT bestätigt.
OT: Zum 11. Mal haben Sie als wissenschaftlicher Leiter zum Lymphsymposium geladen. Was war die Intention in diesem Jahr, den Fokus auf das Thema „Ödeme und Adipositas“ zu legen?
Prof. Dr. Martin Stücker: Adipositas nimmt in unserer Gesellschaft stark zu. Die Coronapandemie hat diese Entwicklung sicherlich noch verschärft. Mit diesem Krankheitsbild tritt häufig eine Adipositas assoziierte Schwellenneigung auf, die dadurch entsteht, dass das Bauchfett sowohl die Venen als auch die Lymphbahnen insbesondere im Sitzen abdrückt. Dadurch wird es notwendig, zusätzlich zu der Behandlung der Adipositas auch diese Ödeme richtig einzuordnen und zu therapieren. Dabei spielt die Kompressionstherapie mit ihren eigenen Herausforderungen bei adipösen Patient:innen eine besondere Rolle.
OT: Gibt es etwas, dass Sie besonders beeindruckt bzw. in Ihrer Erinnerung geblieben ist?
Stücker: Mir war bislang noch nicht so klar, dass Frauen ohne Lipödem mit der Diagnose „Adipositas“ ähnlich gelagerte Fettdepots an den Oberschenkeln haben wie Patientinnen mit einem reinen Lipödem. Dass diese Patientinnen selbst bei massiver Gewichtsreduktion eben genau an diesen Stellen immer etwas zurückbehalten, das fand ich sehr beeindruckend. Viele Patientinnen mit Adipositas kommen immer wieder zu mir in die Praxis mit der Frage: Ist das nicht vielleicht ein Lipödem, weil sie die Fettdepots an beiden Oberschenkeln haben. Und das scheint mir nun nach diesem Vortrag nicht unbedingt der Fall zu sein. Beim Mann werden die Fettdepots eben am Bauch angelagert und bei der Frau am Oberschenkel. Das hat nicht zwingend etwas mit dem Befund „Lipödem“ zu tun. Das wurde bei diesem Symposium ganz deutlich.
OT: Welche Auswirkungen hat der Paradigmenwechsel des Lipödems auf die KPE und insbesondere auf die Kompressionstherapie?
Stücker: Wenn das reine Lipödem, wie Herr Dr. Bertsch in seinem Vortrag sagte, kein Ödem ist, heißt das für uns lediglich, dass die Kompressionstherapie scheinbar auch ohne größere Ödeme eine schmerzlindernde Wirkung hat; allein durch den Massageeffekt und die antientzündliche Wirkung. Somit können wir nicht sagen, in den Beinen wird kein Ödem festgestellt, deshalb wirkt die Kompression nicht. Im Gegenteil. Das zeigt uns, dass man auch ohne sichtbares Ödem den betroffenen Frauen durch die Kompressionstherapie eine schmerzlindernde Therapie zukommen lassen kann, und das muss unser Ziel sein.
OT: Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht der Sanitätsfachhandel im vielfach von den Referent:innen angesprochenen multimodalen Behandlungskonzept?
Stücker: Der Sanitätsfachhandel hat eine ganz zentrale Rolle, weil dort die Kompressionsbestrumpfung angemessen wird. Das ist technisch sowohl bei der Adipositas als auch beim Lip- oder Lymphödem nicht trivial. Das ist eine Herausforderung. Das muss gut gemacht sein, weil ja bekannt ist, dass die Therapieadhärenz davon abhängig ist, wie die Kompressionsstrümpfe angemessen sind. Wenn die Kompressionsstrümpfe nicht optimal sitzen, fällt das auf die Kompressionstherapie als solche und ihre Wirksamkeit zurück.
OT: Was würden Sie sich für die Zukunft in Bezug auf Adipositas und die vielfachen Begleiterkrankungen wünschen?
Stücker: Mir ist es wichtig, dass Adipositas in unserer Gesellschaft als ernstzunehmendes Krankheitsbild akzeptiert werden muss. Wir haben häufig die Situation, dass Frauen zu uns in die Praxis kommen mit der eindeutigen Diagnose „Adipositas“, die aber unbedingt die Diagnose „Lipödem“ haben wollen. Sie haben die Vorstellung, Lipödem sei eine Diagnose, die eher von der Gesellschaft als Krankheit akzeptiert sei. Bei Adipositas haben sie das Gefühl, sie würden selbst die Schuld an dieser Krankheit tragen. Und das ist einfach falsch. Man muss das Krankheitsbild der Adipositas einfach wertfrei sehen. Es ist eine Krankheit wie Bluthochdruck, Krebs oder Thrombose. Das ist etwas, das ich mir für die Zukunft tatsächlich wünschen würde, dass insbesondere auch von den Patient:innen akzeptiert wird, dass Adipositas eine Krankheit ist, die von einem Spezialisten behandelt werden muss.
Die Fragen stellte Irene Mechsner.
Der nächste Bochumer Lymphtag findet am Samstag, 28. Januar 2023, statt.
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