Deren Spitze um OSM Michael Möller (Technischer Chair) und Dr. Hartmut Stinus (Medizinischer Chair) hat für das künftige Standardwerk in der orthopädieschuhtechnischen Versorgung die Schriftleitung übernommen und schildert im Interview mit der OT-Redaktion die Notwendigkeit des Fachbuchs für die interdisziplinäre Zusammenarbeit und welche weiteren Akteur:innen der Gesundheitsbranche mit dem Kompendium angesprochen sind.
OT: Warum war es nötig, das Kompendium auf den Weg zu bringen?
Michael Möller: Das Kompendium ist absolut überfällig gewesen, weil es bisher keine rote Linie gab. Sowohl Techniker als auch Ärzte haben zum Teil völlig unterschiedliche Versorgungsmöglichkeiten dargestellt. Deshalb ist unser Handwerk sowohl mit Medizinern als auch mit Kostenträgern häufig nicht zusammengekommen. Uns war es wichtig, Fachleute zusammenzubringen, die einerseits die Krankheitsbilder strukturieren und andererseits einheitliche Versorgungsmatrizes zusammenstellen.
Hartmut Stinus: Unsere Arbeit entspricht einer Art Leitlinie, wie wir sie aus dem medizinischen Bereich kennen. Es geht darum, einen roten Faden durch die Versorgungsmöglichkeiten der Technischen Orthopädie des Fußes zu ziehen. Für viele ist es schwierig, sich durch mehr als einhundert Seiten PG 08 oder PG 31 zu lesen. Wir haben mit dem Kompendium eine prägnante Zusammenfassung erstellt und eine Leitlinie für Orthopädie-Schuhtechnik verfasst.
OT: Gab es einen konkreten Anlass, der die Umsetzung eingeleitet hat?
Möller: Es gab etwa einen Dissens im Bereich der stimulierenden Fußorthesen, die zu sensationell guten Versorgungserfolgen führen. Dazu kam eine völlig überzogene Interpretation der sensomotorischen Fußorthesen, so dass wir uns entschlossen haben, die Indikation und entsprechende Kontraindikation noch einmal sauber herauszustellen. Der ehemalige BIV-OT-Präsident und vormalige DGIHV-Vorsitzende Klaus-Jürgen Lotz hat sich stark dafür eingesetzt, eine rote Linie zu definieren. Eine medizinisch sinnvolle Versorgung habe unabhängig von der Kostenüberahme der Krankenkasse zu erfolgen. Es gab viele Versorgungen, die die Kassen für ausreichend und zweckmäßig erachteten, wir allerdings für unzumutbar bis hin zu Körperverletzungen. Hier haben wir als Sektion „Fuß und Schuh“ in der DGIHV mit dem Kompendium nun einen Mindeststandard erarbeitet.
Stinus: Im Rahmen der EBM, also der evidence-based medicine, haben wir zahlreiche Studien ausgewertet und nichts in das Kompendium übernommen, was seitens der Expertenmeinung nicht mindestens Grad-4-evidenzbasiert ist. Zum Beispiel im Bereich der sensomotorischen Fußorthesen steht in der neuen Leitlinie für den Kinderfuß, dass nicht mehr versorgt werden „soll“, aber „kann“. Dies findet sich so im Kompendium wieder.
Möller: Es ist so, dass viele fragwürdige Expertenmeinungen im Umlauf sind. Dazu gehört, dass keine orthopädischen Sandalen mehr indiziert sind. Das ist gerade für Patienten, die große Probleme mit Pilzen oder Hauterkrankungen haben, unverantwortlich. Das ist Willkür, der wir mit der DGIHV entgegentreten.
Stinus: Letztendlich wünschen wir uns alle zufriedene und schmerzfreie Patienten. Alles, was dafür notwendig ist, muss die Schuhtechnik bei hoher Fachkompetenz angemessen bezahlt bekommen.
OT: Das Fachbuch vereint renommierte Autor:innen aus Medizin und Handwerk. Nach welchen Kriterien erfolgte die Auswahl der Expert:innen und wie konnten Sie sie von einer Mitarbeit überzeugen?
Möller: Das erste Kriterium war ohne Frage die Fachkompetenz. Alle Beteiligten verstehen etwas von ihrem Handwerk oder medizinischen Schwerpunkt. Dazu verfügen sie über ein ausgewiesenes Standing in der Gesundheitsbranche. Sei es Dr. Hartmut Stinus oder auch Prof. Dr. Markus Walther.
Stinus: Michael Möller hat, als ehemaliger Präsident der ISPO Deutschland und neben Prof. Dr. René Baumgartner und mir Mitherausgeber des Standardwerks „Orthopädie-Schuhtechnik“, in seinem Fach außerordentlich gute Autoren gewinnen können. Wir haben alle untereinander auch mitunter sehr kontrovers diskutiert, aber sind zum Schluss immer auf einen gemeinsamen Nenner gekommen. Dieser Einsatz und die Bereitschaft zur Diskussion haben das Buch letztlich so gut werden lassen. Das Literaturverzeichnis unterstreicht zudem, dass die Aussagen nicht aus der hohlen Hand kommen, sondern belegbar sind.
OT: Die Struktur der Versorgungskapitel orientiert sich an einem Behandlungspfad. Können Sie dies anhand eines beispielhaften Kapitels näher erläutern?
Möller: Wir haben z. B. im Bereich der Arthroseversorgung, sicherlich eines der spannendsten Themen, die Anforderung, die Muskeln frühzeitig so zu trainieren, dass die Gelenke geschont und kongruenter zueinander gestellt werden. Aufgrund des fortschreitenden Verschleißes im Alter war es wichtig, hier eine sauber abgestufte Versorgungsmatrix zu hinterlegen, um auch das nötige Vertrauen des Patienten zu haben. Wir haben in Deutschland hervorragende Orthopäden und Chirurgen und doch habe ich aus der Perspektive des Technikers oft den Eindruck, dass die konservativen Möglichkeiten vor einer OP nicht ausreichend ausgeschöpft werden. Hier bietet das Kompendium der Ärzteschaft eine echte Hilfestellung.
OT: Welche Zielgruppen haben Sie neben der Technischen Orthopädie im Vorfeld ins Auge gefasst?
Möller: Ich hatte im Rahmen der letzten OTWorld in Leipzig die Möglichkeit, auch mit Politikern zu sprechen und war tief erschrocken, auf welch mangelhaften Quellen deren aktueller Wissensstand beruht. Mit dem Kompendium können wir hier für eine spürbare Verbesserung sorgen. Patienten sind oft unsicher, wie sich ihre Versorgung gestaltet, insbesondere bei der diabetischen Fußversorgung. Hier können wir ihnen ihren jeweiligen Stufengrad zeigen und die zugehörige Versorgung erläutern. Wir sind, nicht ohne Diskussionen, zu der Entscheidung gelangt, dass das Buch allgemeinverständlich sein muss, so dass sich etwa auch die Sachbearbeiter der Krankenkassen ohne medizinisches Vorwissen an den Aussagen orientieren können. Dazu war es nötig, in der Sprache auch Kompromisse einzugehen.
Stinus: Das Kompendium ist sicherlich auch für die Allgemeinmediziner von hohem Wert. Denn der absehbare Personalmangel in der Medizin, vor allem bei Chirurgen und Orthopäden, hat zur Folge, dass eine Fußversorgung immer häufiger vom Hausarzt vorgenommen werden wird. Eben jenen hilft sicherlich ein Versorgungspfad, der von Fachgesellschaften validiert ist.
Möller: Selbst bei uns in Münster haben wir einen großen orthopädischen Facharztmangel. Für die Indikation einer Einlage warten Patienten oft Wochen und Monate – hier stimmen die Relationen einfach nicht mehr. Vom Diabetologen bis zu den Krankenkassen haben hoffentlich zukünftig weniger Diskussionsbedarf, sondern eine Orientierung an den Standards und Tabellen des Kompendiums.
Stinus: Auch die Politik muss verstehen, dass Einlagen als Hilfsmittel oder allgemein die Fußversorgung rezeptierfähig bleiben müssen. Hoffnung macht eine Tendenz im Betrieblichen Gesundheitsmanagement, wo große Unternehmen dem Fuß eine immer größere Bedeutung zumessen, um Arbeitsausfälle zu reduzieren.
OT: Prof. Dr. Bernhard Greitemann verweist in seinem Vorwort auf die mangelhafte Evidenzlage in der OST-Versorgung. Was muss passieren, damit hier eine Besserung eintritt?
Stinus: Wir benötigen Studien, die einfach validiert und hinterlegt sind. Die Zusammenarbeit mit Universitäten muss verstärkt und mehr Drittmittel müssen eingeworben werden.
Möller: Es ist zudem wichtig, dass diese Studien dann auch wirklich zielorientiert sind. Eine Initiative um Prof. Dr. Frank Braatz setzt sich derzeit mit der Forschungsdatenbank Technische Orthopädie sehr stark dafür ein, dass eine Übersicht über existierende Studien erstellt wird und welche Institute sich welchen Themen widmen. Forschungsergebnisse müssen verstärkt miteinander verglichen oder Projekte aufeinander aufbauend verfolgt werden.
Stinus: Letztendlich brauchen wir eine Versorgungsforschung und die dafür benötigten Gelder. Da muss Berlin reagieren beziehungsweise die Bewilligung der Mittel vorab von Experten aus Handwerk und Wissenschaft prüfen lassen. Ich denke da an eine Multicenter-Studie, in der eine Vielzahl von Patienten von Ärzten in Kooperation mit den Technikern untersucht wird und die Ergebnisse entsprechend ausgewertet werden.
Möller: Im historischen Kontext gesehen, lässt sich daran erinnern, dass die Politik in den 1960er- und 1970er-Jahren die Maßgabe ausgegeben hat, dass der soziale Status nicht an den Zähnen zu erkennen sein darf. Im Anschluss wurden dann Plomben und Zahnspangen von den Kassen übernommen. Aktuell läuft es in der Schuhtechnik in die genau andere Richtung, dass immer weniger Leistungen erstattet werden, anstatt die Qualität der Gelenke durch die Zuhilfenahme von Hilfsmitteln zu schonen und soweit es geht zu bewahren. Der soziale Status darf nicht an der Gesundheit der Füße erkennbar sein.
Die Fragen stellte Michael Blatt.
Anlässlich der offiziellen Veröffentlichung des „Qualitätsstandard Fuß und Schuh“ hatten der Verlag OT und die Confairmed GmbH am 8. November 2022 zum kostenfreien Live-Videotalk eingeladen.
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