Ästhetik und Funktion in der Finger- und Handprothetik
Die tägliche Arbeit mit finger- und handamputierten Menschen veranschaulicht dem Hand- und Armprothetiker in eindrucksvoller Weise, welche unterschiedlichen Bedürfnisse nach einer Finger- oder Teilhandamputation vorliegen können. Die Möglichkeiten der funktionalen und ästhetischen Fokussierung können nicht nur von Anwender zu Anwender differieren, sondern hängen zudem entscheidend von der klinischen Situation und dem Ausmaß des funktionalen und körperlichen Defizites ab. Vor allem in der postoperativen Phase empfinden Amputierte den Verlust in der Hand als sehr bedrückend und leiden unter dem sichtbaren Makel. Im Unterschied zu Amputationen an den unteren Extremitäten lassen sich bei der Hand Amputationsdefekte nicht einfach durch das Tragen geeigneten Schuhwerks kaschieren – spätestens im Sommer würde es jedem Menschen auffallen, wenn Handschuhe getragen würden. Dieser permanenten Sichtbarkeit in der Umwelt ist es auch zuzuschreiben, dass der Leidensdruck gerade bei Patienten, die sich viel „unter Menschen” bewegen, besonders hoch ist.
Während sich die ästhetische Wiederherstellung mit den heutigen technischen Möglichkeiten der Prothetik bereits auf einem sehr hohen Niveau befindet, gelingt die Kompensation des funktionalen Verlustes in der Regel nie vollständig 1. Die Anforderungen an eine adäquate prothetische Versorgung können sich je nach Prothesentyp und alltäglichem Anforderungsprofil unterschiedlich gestalten. Ein Großteil aller Betroffenen erhebt den verständlichen Anspruch einer maximalen Funktionalität mit dem gleichzeitigen Anspruch einer realistischen und unauffälligen Wiederherstellung des Körperbildes. Beide Anforderungen müssen daher im technischen Repertoire des Armprothetikers vorhanden sein und können auf verschiedenste Weise Einfluss auf die Gestaltung der prothetischen Versorgung nehmen. Dass die Finger- oder Teilhandprothese dabei auch noch den enormen Kräften und Verschleißanforderungen des Alltagslebens standhalten muss, stellt die Orthopädie-Technik vor hohe Herausforderungen. In der technischen Realisation hat der Werkstoff Silikon in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen zunehmenden Stellenwert erhalten 2 3 und ist aus diesen Versorgungsgebieten nicht mehr wegzudenken.
Ästhetische Aspekte in der Finger- und Handprothetik
Die Bedürfnisse der Betroffenen hinsichtlich einer möglichst unauffälligen Wiederherstellung der Extremität können auf verschiedenen Ursachen basieren. Während es Betroffene gibt, die z. B. mit einer verschmälerten Hand in ihrem Lebensalltag und einem entsprechenden Alltagsprofil hervorragend zurechtkommen und überhaupt keine prothetische Versorgung beanspruchen, kann z. B. für einen Multiinstrumentalisten, der mit seinen 10 Fingern verschiedene Instrumente bedient, nach einer erfolgten Kleinfinger-Endgliedamputation eine Welt zusammenbrechen. Beide Reaktionen müssen anerkennend und mit dem nötigen Verständnis behandelt werden. Eine Reihe weiterer Einflussfaktoren wie z. B. die Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen, seine berufliche Situation, das familiäre Umfeld, Hobbys und Interessen sowie religiöse und kulturelle Zugehörigkeit können sich auf den Versorgungsprozess nachhaltig auswirken. Das Gleichziehen mit Nichtamputierten, die Reintegration in das soziale Umfeld sowie die Vermeidung von psychischer Belastung und Stigmatisierung sind Kernaufgaben der körperlichen Wiederherstellung durch eine Prothesenversorgung. Im „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität” werden diese Teilhabe-Aspekte in den Kapiteln 1.1 und 2.1, welche die Rehabilitationsziele definieren, explizit aufgeführt.
Zur Erfüllung der ästhetischen Anforderung an eine prothetische Wiederherstellung des Körperbildes müssen Form, Farbe und oberflächliche Struktur der Prothese frei zu gestalten sein (Abb. 1). Hierfür haben sich Werkstoffe, die im additionsvernetzenden polymeren Verfahren verarbeitet werden, bestens etabliert, da man vor der Durchführung der Vernetzung oder auch bereits im vernetzten Zustand Farbpigmente unterschiedlicher Couleur beimischen kann.
Grundsätzlich können alle Farbtöne aus den drei Grundfarben Rot, Grün und Blau sowie die unbunten Farben Schwarz und Weiß erzeugt werden. In der Praxis hat sich begleitend die Verwendung verschiedenster natürlicher Brauntöne, die der menschlichen Haut nahekommen, bewährt. Entsprechende Strukturen der Hautoberfläche können durch begleitenden Formenbau mit Strukturschablonen realisiert werden. Als besonders wichtig kann im Rahmen der wiederherstellenden Prothetik die Gestaltung des Fingernagels bezeichnet werden. Dieser kann in allen erdenklichen Farbkombinationen erstellt werden und steht als sichtbares Merkmal am Ende des Fingers und der Prothese im besonderen Blickfang der betrachtenden Umwelt. Grundsätzlich kommen Nägel aus kaltpolymerisierendem Acryl oder hochtemperaturvernetzendem Silikon zum Einsatz, die aus 4 bis 8 Farben bestehen und eine analoge Farb- und Formimitation zu den noch vorhandenen Fingern bilden. Der Verzicht auf einen Fingernagel bei einer Finger- oder Teilhandprothese, wie es auch in heutigen Zeiten immer wieder von Kostenträgerseite angefragt wird, ist gerade vor dem Hintergrund der ästhetisch wiederherstellenden Funktion nicht sinnvoll und sollte daher lediglich bei reinen Funktionsausgleichen, die keinen Anspruch auf eine unauffällige Wiederherstellung der Körperform haben, diskutiert werden.
Funktionale Aspekte nach Finger- und Handamputationen
Aus biomechanischer Sicht stellt die Hand das komplizierteste Organ des menschlichen Körpers dar 4. Wenn die Funktion der Hand im Fokus steht, müssen bei der Abwägung und Bestimmung des Therapiezieles idealerweise alle möglichen funktionsverbessernden Ansätze der jeweiligen Disziplinen (Medizin, Therapie und Orthopädie-Technik) zusammengetragen und gemeinsam das bestmögliche Vorgehen im Einzelfall abgewogen werden. Während von therapeutischer Seite die frühfunktionale postoperative Mobilisation und Beübung der noch vorhandenen Funktionseinheiten wesentliche Funktionalitäten an der Hand sichert, können oftmals auch nach einer finalen Amputation von Fingern oder Teilen der Hand noch funktionsverbessernde chirurgische Maßnahmen in Erwägung gezogen werden. Hierzu zählen Handverschmälerungen, Sehnenverlagerungen zur funktionalen Stabilisierung der Handsituation und Erhalt des muskulären Gleichgewichtes sowie lokale Lappen zum Extremitäten- und Funktionserhalt.
Auch der Zehentransfer kann bei entsprechend vorhandenen Grundbedingungen eine funktionsverbessernde chirurgische Maßnahme darstellen 5. Er erfüllt jedoch in vielen Fällen nicht die Anforderung an die ästhetische Wiederherstellung der Körperform und des unauffälligen Aussehens. Der operative Eingriff eines Zehentransfers wird daher zumeist mit dem Ziel einer Verbesserung der Handfunktion durchgeführt und erfolgt überwiegend bei Betroffenen mit angeborenen Fehlbildungen. Die Entscheidung zur Durchführung einer weiteren Amputation am Fuß wird hingegen von den meisten traumatisch amputierten Patienten entschieden abgewiesen. Eine Ausnahme bilden hierbei Zehentransfers auf die Daumenseite, die sowohl funktionell als auch ästhetisch ein ansprechendes Ergebnis darstellen können.
Eine Differenzierung der funktionalen Betrachtung kann es im Vergleich zur prothetischen Versorgung nicht geben. Auch diese hat sich an den Bewertungen des funktionellen Zugewinnes zu orientieren. Funktioneller Zugewinn bedeutet im Leben eines finger- und teilhandamputierten Prothesenanwenders, dass er aufgrund der Prothese in der Lage ist, wiederkehrende Aktivitäten des täglichen Lebens durchzuführen, die er ohne Prothese nicht durchführen könnte. Eine entsprechende Bewertung kann nach unterschiedlichen Kriterien erfolgen 6, zum Beispiel:
- Zunahme der gestikulären Funktionen
- Wiederherstellung von Halte- und Führungsfunktionen der Hand
- Unterstützung bimanueller Arbeitsprozesse
- Wiederherstellung und Vergrößerung der Fingerlänge, der Grifffläche und des Kraftschlusses der Hand
- Zugewinn an Griffarten und Greifformen im täglichen Leben (Abb. 2). Hier empfiehlt sich die Differenzierung der Griffarten nach Kapandij 7 in statische Griffe, Griffe unter dem vorwiegenden Einfluss der Schwerkraft und dynamische Griffe.
Als entscheidende Einflussfaktoren auf das funktionale Outcome mit der prothetischen Versorgung können die klinischen Grundbedingungen (Hautzustand, erhaltene Muskelfunktionen, erhaltene Gelenkfunktionen) sowie die zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten der prothetischen Versorgung genannt werden.
Präprothetische Maßnahmen
Zur Vermeidung postoperativer Funktionsverluste noch vorhandener Bewegungen und Muskelkräfte sowie zur Gewährleistung eines optimalen Rehabilitationsverlaufes sollte im Idealfall und umgehend nach Durchführung der Amputation und Entfernung der Fäden ein frühfunktionales postoperatives Behandlungskonzept durch erfahrene Handtherapeuten eingeleitet werden. Wesentliche Bestandteile dieser Behandlung müssen stets mit dem behandelnden Facharzt abgestimmt werden und können sich in Abhängigkeit von der Amputationssituation wie folgt darstellen 8:
- Narbenbehandlung, Vermeidung von Keloiden und Pflege der Narbe (Massage)
- Ödembehandlung und Einleitung einer Kompressionstherapie zur Konsolidierung der Stumpfverhältnisse
- Mobilisation der noch vorhandenen Gelenkfunktionen in Fingern und Hand
- Desensibilisierungsmaßnahmen am Amputationsbereich (Druckempfindlichkeit, Berührung, Temperaturempfinden, Abhärtung)
- Schmerzbehandlung (trophische Schmerzen, Neuromschmerzen, Phantomschmerzen)
Eine prothetische Versorgung mit elastischer Silikon-Vollkontakt-Schafttechnik, wie sie seit Jahren dem Versorgungsstandard nach Finger- und Handamputationen entspricht, bewirkt bei fast allen Amputationssituationen – selbst bei Stümpfen, deren operative Stumpfbildung bereits Jahre zurückliegt – Formänderungen und Volumenreduktionen. Dies liegt zum einen an der kompressiblen und entstauenden Wirkung der elastischen Schaftbettung, zum anderen jedoch auch an der zunehmenden Krafteinwirkung durch die Prothesennutzung im Alltag. Daher sollte bereits im Rahmen der frühfunktionalen Behandlung eine Kompressionstherapie eingeleitet werden. Steht zu diesem Zeitpunkt bereits fest, dass der Amputierte eine prothetische Versorgung benötigen wird, sollte die Kompressionstherapie mit formangepassten Silikon-Kompressionselementen erfolgen. Diese begünstigen gerade in der sensiblen postoperativen Phase eine Schmerzreduktion und unterstützen aufgrund ihrer Schmutz- und Feuchtigkeitsresistenz den funktionellen Einsatz der Hand im Lebensalltag (Abb. 3). Die konsequente Kompressionstherapie erfolgt in Abhängigkeit von der Stumpfsituation über einen Zeitraum von ca. 3 bis 6 Wochen begleitend zu den therapeutischen Maßnahmen.
Prothetische Versorgung nach Finger-Amputationen
Die von Schäfer im Jahre 2002 erstellte und 2008 ergänzte Klassifikation 9 10 der prothetischen Versorgung nach Fingeramputationen hat sich über Jahre hinweg im Alltag bewährt und orientiert sich an der Zuordnung der Länge des Fingerstumpfes und den daraus resultierenden Anforderungen an die Konstruktion einer adäquaten fingerprothetischen Versorgung (Abb. 4). Wesentlichen Einfluss auf das funktionale Outcome nimmt die Funktion und Kraftentfaltung noch vorhandener und an den Fingerstumpf angrenzender Strukturen (Gelenke und Muskulatur). Ebenso wirken sich Stumpflänge und Stumpfverhältnisse maßgeblich auf Funktionalität und Ästhetik des Endproduktes aus.
Mit der Klassifikation und Zuordnung der prothetischen Versorgung nach Stumpflängen und Funktionen noch vorhandener Gelenke lässt sich die fingerprothetische Versorgung auch nach dem „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität” systematisch abbilden. Die im Rahmen der fingerprothetischen Klassifikation bereits beschriebenen Konstruktionsstandards 11 12 werden an dieser Stelle nicht wiederholt, hingegen sollen zur Darstellung des Qualitätsstandards wesentliche Konstruktionsmerkmale der fingerprothetischen Versorgung dargestellt werden:
Schaftformen und Schaftgestaltungsvarianten in der Fingerprothetik
Zirkulärer Vollkontakt-Kompressionsschaft (Abb. 5, links oben)
Der zirkuläre Vollkontakt-Kompressionsschaft aus HTV-Silikon ist die am häufigsten vorkommende Schaftgestaltungsvariante in der Fingerprothetik.
Lappenschafttechnik zur Befestigung der Fingerprothese (Abb. 5, rechts oben)
Diese Schafttechnik kommt ausschließlich bei ultrakurzen Fingerstümpfen oder Exartikulationen im MCP, wenn also keine Haftung durch eine zirkuläre Kompression zu erreichen ist, zum Einsatz. Die Haftung wird in diesem Fall durch Anwendung eines medizinischen Hautklebers erreicht, wodurch eine großvolumigere Schaftgestaltung mit zirkulärer Fixation der Mittelhand vermieden werden kann.
Zirkulärer Mittelhandschaft mit einem Finger (Abb. 5, links unten)
Diese konstruktive Variante kommt vornehmlich bei der Daumen-Gegengriffprothese mit ultrakurzem bis gar keinem Stumpfansatz zum Tragen.
Variable Härtebereiche in der Schaftkonstruktion (Abb. 5, rechts unten)
Über die Shore-Härte des Silikons (Shore-Härte-Bereich A 20 — 50) können die Festigkeits- und Haftungseigenschaften des Prothesenschaftes zusätzlich gesteuert werden. Die Erfahrung zeigt, dass es sinnvoll ist, den Schaft bei weichen Fingerstümpfen in einer höheren Shore-Härte zu wählen, während feste und sensible Fingerstümpfe die Bettung in weicheren Silikonen bevorzugen. Bei erhöhten Festigkeitsanforderungen, wie dies z. B. beim Aufbau der Daumen-Griffkraft gefordert ist, hat sich die Integration bilateraler hochshoriger Silikon-Stabilisatoren bewährt.
Bettungstechniken, Haftmechanismen, Befestigungen
Integration von partiellen Entlastungsarealen und Gelbettungen
Bei Fingerprothesen kommen partielle Entlastungsareale in Form von Gelbettungen am Stumpfende vor. Dies ist dann angezeigt, wenn der Fingerstumpf eine spärliche Stumpfdeckung aufweist und beim Klopfen auf einen harten Untergrund Schmerzen auslöst.
Hohlraumintegration
Die Integration von Hohlräumen ist nur bei der Silikon-Fingerprothese Typ IIIa+b sinnvoll, da erst bei diesem prothetischen Längenausgleich genügend Innenraum zur Verfügung steht. Der Hohlraum kann zum einen zur Erhöhung der Haftungseigenschaften dienen. Hierzu wird zwischen Prothesenschaft und Hohlraum ein feiner Verbindungskanal hergestellt. Zum anderen findet die Integration eines Hohlraumes vermehrt Einsatz, wenn es bei ultrakurzen Fingerstümpfen darum geht, das Gewicht der Prothese auf ein Minimum zu reduzieren und somit eine gute Führung und stabile Fingerposition beim Tragen der Prothese sicherzustellen.
Side-by-Side-Ankopplung einer Silikon-Fingerprothese (Abb. 6, links)
Diese Variante kann bei einer Mehrfingerversorgung zum Einsatz kommen, wenn ein Finger zu kurze Stumpfverhältnisse für eine ausreichende Befestigung des Prothesenschaftes aufweist. In diesem Fall kann die dazugehörige Prothese mit einem Hohlraum versehen und mit einer „Silikon-Brücke” zum Nachbarfinger verbunden werden.
Ringbefestigung einer Prothese (Abb. 6, rechts)
Die Befestigung einer Prothese an einem Ring der benachbarten Finger stellt ebenfalls eine unterstützende Befestigungsmaßnahme bei ungenügenden Befestigungsmöglichkeiten dar. Begleitend zur Ringbefestigung kann man die Haftung durch Verwendung eines medizinischen Hautklebers im Schaftführungsbereich nutzen.
Prothetische Versorgung nach partiellen Amputationen im Bereich der Hand
Man spricht immer dann von partiellen Handamputationen, wenn einzelne Finger nach der Amputation noch vorhanden sind und der Amputationsdefekt über das Niveau der Finger hinaus bis in die Mittelhand und/oder Handwurzel hineinreicht. Prothetische Konstruktionen schließen in der Regel Mittelhand und Handwurzel mit ein. In Anlehnung an die Ausführungen von Beasley zu Beginn der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hat sich in der klinischen Differenzierung die Unterteilung in transversale Handamputationen (Abb. 7, links oben), zentrale oder mittelständige Handamputationen (Abb. 7, links unten), longitudinale ulnare Handamputationen (Abb. 7, rechts oben) sowie longitudinale radiale Handamputationen (Abb. 7, rechts unten) bewährt 13 14.
Die prothetische Versorgung partieller Handamputationen kann als größte Herausforderung in der Handprothetik bezeichnet werden, da es gilt, noch vorhandene Funktionseinheiten, Fingerstrahlen und Gewölbe zu berücksichtigen, da keine Beeinträchtigung dieser Restfunktionen durch die prothetische Konstruktion erfolgen darf. Gemäß dem Motto „Form follows function” werden die Prothesenschäfte im günstigen Fall aus Silikon und Prepreg gestaltet, mit dem Ziel, der noch vorhandenen Hand maximale Freiräume und sensorisch flexible Bettungsbereiche zu bieten.
In Anlehnung an die funktionalen Eigenschaften empfiehlt es sich, die Prothesenarten in der Partialhandprothetik in 4 Kategorien einzuteilen 15:
Partialhand-Habitusprothesen (Abb. 8, links oben)
Habitusprothesen sind passive Prothesen, denen die Aufgabe zukommt, die Erscheinung, die Körperhaltung sowie die äußere Gestalt der amputierten Gliedmaße wieder herzustellen.
Unglücklicherweise wird der Begriff „passiv” häufig mit „funktionslos” assoziiert. Eine moderne Habitusprothese hat jedoch nichts mehr mit der althergebrachten „PVC-Reißverschluss-Schmuckprothese” zu tun. Diese weder funktionale noch ästhetische Variante der frühen Teilhandversorgung sollte mit der endgültigen Abschaffung der Bundesprothesenliste ebenfalls ad acta gelegt werden. Vielmehr sind die Konstruktionsbestandteile der Habitusprothese auf die bestmögliche Wiederherstellung von Körperform und Ästhetik ausgerichtet. Die passiven Habitusprothesen können jedoch vielfache Aufgaben der bimanuellen Alltagstätigkeiten wie das Halten, Führen und Bewegen von Gegenständen erfüllen.
Zusätzliche Gelenksysteme können den passiven Habitusprothesen arretierbare, bewegliche und teilfixierte Fingerpositionen ermöglichen, die sich durch einfaches Auslösen per Zug- und/oder Druckmechanismen in unterschiedliche Stellungen manövrieren lassen (Abb. 9) und somit auch der passiven Hand ein „Mehr” an Funktion verleihen. Ein aktives Greifen ist mit dieser Prothesenart jedoch nicht möglich.
Partialhand-Arbeitsprothesen (Abb. 8, links unten)
Partialhand-Arbeitsprothesen sind ausschließlich auf Funktion und Belastung ausgelegt. Die Wiederherstellung des Körperbildes spielt bei dieser Prothesenbauart zumeist eine untergeordnete Rolle. Hingegen fordert der prothetische Aufbau häufig robuste und belastbare Konstruktionen.
Mit Partialhand-Arbeitsprothesen können schwere Gegenstände getragen werden, es wird damit Sport getrieben, und von ihnen können auch multifunktionale Nutzungseigenschaften und Befestigungsmöglichkeiten gefordert werden.
Da Arbeitsprothesen häufig mit Schmutz und Feuchtigkeit konfrontiert sind, empfiehlt sich auch hier in Teilbereichen der Einsatz von Silikon. Allerdings werden die Silikone hier im Wesentlichen in einer sehr hohen und mechanisch belastbaren Shore-Härte ausgewählt und bilden zumeist nicht die tragenden Schaftkonstruktionen, sondern werden zur feuchtigkeitsresistenten Ummantelung der robusten, oftmals unter Verwendung von Carbon, Edelstahl und Nylon-Komponenten hergestellten Schaftkonstruktionen verwendet.
Für den Einsatz von Arbeitswerkzeugen verschiedenster Berufsgruppen können die Prothesen mit multifunktionalen Adaptern zum Austauschen der unterschiedlichsten Arbeitsgeräte ausgestattet werden (Abb. 10).
Partialhand-Eigenkraftprothesen (Abb. 8, rechts oben)
Partialhand-Eigenkraftprothesen ermöglichen die Durchführung einer grobmotorischen aktiven Greifbewegung unter Ausnutzung vorhandener körpereigener Funktionen. Wird das Handgelenk als Kraftquelle gewählt, muss die Prothesenkonstruktion unterarmlang ausgeführt werden. Bei der direkten Bewegungssteuerung werden die funktionalsten Ergebnisse erzielt. Die konstruktiven Greifelemente müssen einen rigiden Aufbau beinhalten, da ansonsten der Kraftverlust beim Greifen zu hoch wird. Partialhand-Eigenkraftprothesen mit Zug- oder hebelgesteuerten Bewegungsmechanismen (z. B. M‑Finger, X‑Finger) ermöglichen zwar den Antrieb artikulierender Fingereinheiten 16, jedoch entwickeln diese Systeme eine nur bescheidene Griffkraft, wodurch sie in vielen Anwendungen den Rang einer funktionalen Prothesenversorgung nicht erreichen. Mit etwas Wehmut blickt man auf die eigenkraftgesteuerten Sauerbruchprothesen zurück, die neben einer dosierbaren funktionalen Rückmeldung auch noch sensible Informationen transportieren konnten, und fragt sich, wo diese Technologie mit den heutigen technischen Möglichkeiten stehen könnte.
Partialhand-Fremdkraftprothesen (Abb. 8, rechts unten)
Die Partialhand-Fremdkraftprothetik ist jenes Gebiet, dem in der funktionalen prothetischen Versorgung von partiellen Handdefekten aktuell von den verschiedenen Parteien der technischen Orthopädie, der Forschung und Entwicklung sowie der orthopädischen Industrie vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Möglichkeit, mit einer Partialhand-Prothese eine willkürliche aktive Bewegung mit proportionalem Griffkraftverhalten anzusteuern, bietet in der funktionalen Bewertung einen hohen Nutzen: Der Anwender ist weder auf einen großen Bewegungsumfang vorhandener Gelenke noch auf die Muskelkraft zur Ansteuerung aktiv greifender Finger angewiesen. Aktuell sind zwei Systeme am Markt erhältlich: das Prodigit-System von Touchbionics und das Vincent-Fingersystem 17, das von dem deutschen Start-up-Unternehmen Vincent Systems vertrieben wird. Beide Systeme dürfen nur nach intensiver Schulung und Zertifizierung des erfahrenen Armprothetikers zur Anwendung kommen, was bei der Komplexität dieses Versorgungsgebietes sehr sinnvoll ist.
Während das Prodigit-System in einem reinen funktionalen Zustand und mit Silikon-Fingerschutzkappen vertrieben wird, hat sich Vincent Systems einer kosmetischen Gesamtlösung angenommen: Neben transparenten und bunten Kosmetiküberzügen, die aufgrund der unterschiedlichen Formaufbauten und Geometrien der Partialhand-Fremdkraftprothesen nur nach individueller Abformung oder Scan der Prothese gefertigt werden, sind auch ästhetische, in Form und Farbe abgestimmte Silikonkosmetiken verfügbar. Geringere Aufbauhöhen und eine schlankere Bauweise ermöglichen den erweiterten Einsatz auch bei längeren Mittelhandstümpfen und stellen dem versierten Armprothetiker eine Vielzahl unterschiedlichster Versorgungsoptionen zur Verfügung.
Weltweit haben sich Expertenteams gebildet, die sich mit der Versorgung durch solche Systeme intensiv auseinandergesetzt haben 18 19 20. Resultierend aus den 7‑jährigen Erfahrungen in der Versorgung mit myoelektrischen Fingersystemen können zum heutigen Zeitpunkt die folgenden Aussagen getroffen werden:
Einhaltung der Handgröße und Geometrie
Die Einhaltung der Handgröße und vor allem der Handarchitektur sollte als unbedingtes „Muss” in der fremdkraftbetriebenen Partialhandprothetik Berücksichtigung finden (Abb. 11). Eine Internet-Recherche zum Thema zeigt vielfache Versorgungen, in denen weder angepasste Fingerendlängen noch analoge Handgrößen (im Vergleich zur kontralateralen Handseite) gewählt wurden. Leicht größere Volumina können konstruktionsbedingt zwar nicht immer vermieden werden. Eine Verlängerung der individuellen Handlänge ist jedoch nur dann tolerabel, wenn alle 5 Finger prothetisch zu ersetzen sind und die Griffgeometrien dadurch erhalten werden. Gerade vor dem Hintergrund, dass bei den Partialhand-Fremdkraftprothesen oftmals noch einzelne Fingerstrahlen mit vollen Bewegungsumfängen vorhanden sind, sind Missachtungen im Aufbau der Körperform sowie eine Überlänge der prothetischen Fingeraufbauten aus orthopädietechnischer Sicht inakzeptabel.
Auswahl der geeigneten Sensorik
In der Partialhand-Fremdkraftprothetik können unterschiedliche Sensoren zur Ansteuerung der Handfunktionen zum Einsatz kommen. Grundsätzlich werden Elektroden, welche die Aktionspotenziale der Muskulatur aufgreifen und via Controller in proportional gesteuerte Handbewegungen umsetzen, bevorzugt. Entscheidend ist hierbei jedoch, dass die gewählten Myosignale eindeutig zu definieren sind und ein kompensatorisches Auslösen bei begleitenden Bewegungen noch vorhandener Gelenke (Finger- und Handgelenk) ausgeschlossen ist. Da derartige eindeutige Signalgebungen nicht bei allen Partialhandstümpfen vorzufinden sind, können wahlweise auch FSR-Sensoren (sogenannte Touchpads) oder Biegesensoren zum Einsatz kommen.
Akkumanagement
Die Wahl der Akkugrößen hängt entscheidend von der Alltagsnutzung des Anwenders sowie der Anzahl der anzusteuernden Finger ab. In der Regel kommen Lithium-Ionen- oder Lithium-Polymer-Zellen zum Einsatz, die für den Einsatz in Medizingeräten geprüft und freigegeben wurden. Für 4- bis 5‑fingrige Partialhand-Fremdkraftprothesen sollten Akku-Kapazitäten von mindestens 1.900 mAh zur Verfügung stehen. Kommen weniger Myofinger zum Einsatz, können die benötigten Akku-Kapazitäten entsprechend reduziert werden.
Unterarmfreie Partialhand-Fremdkraftprothesen-Versorgung
Bei partiellen Handamputationen mit verbleibenden längeren Stumpfverhältnissen wie auch bei kleinen Händen muss die Technik, d. h. Controller und Akkumanagement, in den Unterarm verlegt werden. Hierfür eignen sich technische Manschetten aus Silikon, Neopren und Nylon, die den Akkuzellen entsprechend Schutz bieten sowie zugstabil und flexibel mit dem Partialhand-Prothesenschaft in Verbindung stehen.
Lassen Amputationshöhen die Integration der Technik (Controller, Akku, Elektrode, Ladestecker) im Handbereich zu und kann dies technisch realisiert werden, sollte diese Versorgungsvariante stets präferiert werden (Abb. 12). Denn dadurch wird der volle Bewegungsumfang des Handgelenkes ermöglicht und das technische Versorgungssystem komplett in der Hand belassen.
Protektoren und ästhetische Handschuhe für Partialhand-Fremdkraftprothesen
Die Gestaltung ästhetischer Handschuhvarianten zu diesen Versorgungsarten stellt eine große Herausforderung dar: Einerseits müssen diese Protektoren das ästhetische Bild der Hand wiederherstellen und das Eindringen von Schmutz und Feuchtigkeit verhindern, andererseits gilt es, die großen Bewegungsumfänge in den Finger- und Metacarpalgelenken zu ermöglichen. Aufgrund der unterschiedlichen Geometrien der prothetischen Konstruktionen können diese Anforderungen ausschließlich durch individuell angefertigte, formadaptierte und hochelastische Handschuhe erfüllt werden. Die prothetischen Fingeraufbauten werden an drucksensiblen Bereichen mit additiven Protektoren aus Silikon geschützt. Die Handschuhe sollten am proximalen Ende der prothetischen Versorgung abschließen, wobei bei den Kompletthandvarianten ohne Unterarmführung in diesem Bereich das Anbringen einer dichtenden Silikonlippe empfehlenswert ist (Abb. 13).
Versorgungsablauf, Service und Wartung, Qualitätssicherung
Grundsätzlich sollte im Vorfeld der definitiven prothetischen Versorgung eine Probeprothese angefertigt werden. Diese dient zum einen zur Längen- und Volumenbestimmung der Finger- oder Partialhandprothese, zum anderen kann damit die funktionale Position und Stellung der Prothese bestimmt werden. Die Probeprothese ist in dem definitiven Schaftmaterial anzufertigen, sodass bereits im Rahmen der Probeversorgung Materialunverträglichkeiten, die Druckverträglichkeit der Haut sowie der Tragekomfort durch den Patienten evaluiert werden können. Erst nach Erfüllung der genannten Vorgaben und nach ausgiebiger Testphase der Probeprothese sollte mit der Anfertigung der definitiven Finger- oder Partialhandprothese begonnen werden.
Die prothetische Versorgung sollte im jährlichen Turnus gewartet werden. Dabei wird die Funktionstüchtigkeit überprüft, verschlissene Bereiche wie z. B. die Stumpfbettung und Fingerersatzteile repariert oder ggf. erneuert. Fremdkraftbetriebene Partialhandprothesen beanspruchen aufgrund ihres komplexen Aufbaus, der erfahrungsgemäß hohen Beanspruchung sowie der noch nicht vorliegenden Langzeiterfahrungen eine erhöhte Aufmerksamkeit. Daher sind gerade in den Anfangsjahren dieser Versorgungsvariante etwaige herstellerbezogene Garantieerweiterungen für die elektrischen Funktionskomponenten zu empfehlen.
Im Zuge einer prothetischen Erstversorgung sollte zeitnah nach Abgabe der Definitivprothese ein Kontrolltermin angesetzt werden, der zur Sicherstellung der Passform und Nutzung der Prothese dient. Zur Qualitätssicherung werden die klinischen Daten, die Versorgungsplanung, die Versorgungsabläufe (Probe- und Definitivprothese) sowie die Abnahmeprotokolle anhand der Formblätter des „Qualitätsstandards im Bereich Prothetik der oberen Extremität” 21, Kapitel 1.15 und 2.15, dokumentiert.
Fazit
Die prothetische Versorgung nach partiellen und totalen Amputationen im Finger- und Handbereich stellt an den geschulten Armprothetiker hohe Anforderungen. Ästhetische Aspekte müssen ebenso wie funktionale Anforderungen beurteilt und technisch umgesetzt werden. Neuartige funktionale Erweiterungen und elektronische Bauteile spielen dabei eine ebenso wichtige Rolle wie die Realisation minimalistischer, individuell angepasster Stumpfbettungsvarianten.
Das neue Werk „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität” unterstützt diese Bestrebungen und definiert einen geregelten Versorgungsablauf mit allen dazugehörigen qualitativen Parametern zur Sicherung einer adäquaten und zeitgemäßen prothetischen Versorgung. Die Betroffenen werden hiervon in ihrem Lebensalltag profitieren.
Für die Autoren:
Michael Schäfer, OTM, GF
Pohlig GmbH
Grabenstätter Straße 1
83278 Traunstein
M.Schaefer@Pohlig.net
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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- Der Verlag OT wünscht frohe Weihnachten! — 23. Dezember 2024
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
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