Das Osteosarkom
Die häufigsten malignen (bösartigen) Knochentumore im Kindes- und Jugendalter sind Osteosarkome. Sie entstehen durch Entartung von Osteoblasten (knochenbildenden Zellen) und werden als „primäre Knochentumore“ bezeichnet. Sie treten meist im zweiten Lebensjahrzehnt – in der pubertären Wachstumsphase – auf. Bei Mädchen ist die Häufigkeit im Alter von 14 Jahren besonders hoch, bei Jungen mit 16 Jahren, wobei Jungen insgesamt häufiger betroffen sind als Mädchen.
Osteosarkome entstehen überwiegend in den langen Röhrenknochen der Arme und Beine, und zwar meistens gelenknah, besonders häufig im Bereich des Kniegelenks (über 50 %), aber auch am oberen Ende des Humerus. Der Tumor befällt hauptsächlich Knochen und Knochenmark, teilweise aber auch benachbartes Gewebe wie Muskulatur oder auch peripheres Nervengewebe. Metastasen findet man zum Zeitpunkt der Diagnose bei ca. 10 bis 20 % der Patienten. Am häufigsten von Metastasierung betroffen ist bei bis zu 70 % der Erkrankten die Lunge. Nach der WHO-Klassifikation sind konventionelle Osteosarkome mit 80 bis 90 % die häufigsten Tumore; die weiteren sieben klassifizierten Formen der Osteosarkome kommen mit jeweils weniger als 5 % selten vor. Die Symptome zeigen sich am häufigsten durch Schmerzen, aber auch durch Schwellungen in der betroffenen Region, oft begleitet von einer Bewegungseinschränkung der Gelenke durch den meist gelenknahen Befall. Die Schwächung der Knochensubstanz kann auch Frakturen ohne einen entsprechenden Unfall zur Folge haben; diese werden als „pathologische Frakturen“ bezeichnet.
Zur Tumordiagnostik gehören Röntgenaufnahme, MRT und schließlich Biopsie. Die Ursachen für die Entstehung eines Osteosarkoms sind noch nicht geklärt – sowohl genetische als auch wachstumsbedingte Ursachen könnten der Auslöser sein. Gekennzeichnet durch schnelles Wachstum und schnelle Streuung verläuft die Erkrankung ohne wirksame Behandlung tödlich 1 2.
Patientenvorstellung
Die hier vorgestellte Patientin wurde 1964 geboren; sie ist 163 cm groß und hat ein Körpergewicht von 54 kg. Sie ist Mutter zweier Kinder und lebt in einem ländlichen Bereich des Sauerlandes. Das regionale Umfeld ist hügelig; somit gehört die Bewältigung von Schrägen, unebenen Untergründen und Treppen zum normalen Lebensalltag. Die Patientin ist ein aktiver Mensch und nutzt die Prothese über den kompletten Tag. Die alltäglichen Wege auch im Umfeld ihrer halbtägigen beruflichen Beschäftigung bewältigt sie ohne Gehhilfe; für längere Wegstrecken oder auch Spaziergänge, die oftmals über unbefestigte Wald- oder Feldwege führen, nutzt sie einen Gehstock für ein erhöhtes Sicherheitsgefühl.
Anamnese
Im Alter von 14 Jahren wurde bei der Patientin ein Osteosarkom im rechten distalen Femur diagnostiziert. Der Tumor befand sich an der Medial- und Dorsalseite des Femurs bis handbreit oberhalb des Kniegelenkspaltes. In weiteren Untersuchungen wurden Markraumveränderungen bis knapp unterhalb des Trochanter minor festgestellt. Aufgrund dieses Ausmaßes erfolgte eine Hüftexartikulation mit direkter Implantation einer Großkopf-Endoprothese. Um die Versorgung mit einer Hüftex-Prothese zu umgehen, wurde in der Operation das natürliche Acetabulum erhalten, die Großkopf-Endoprothese implantiert und somit die Möglichkeit gegeben, die Patientin mit einer OS-Prothese zu versorgen. Der Schaft der Endoprothese wurde mit Knochenzement ummantelt, um die Rekonstruktion der Muskelansätze zu ermöglichen (Abb. 1a u. b). Aufgrund der durch Myodese rekonstruierten Muskulaturansätze ist die Weichteildeckung vor allem im distalen Bereich als eher ungünstig zu bewerten; das distale Ende des mit Knochenzement ummantelten Endoprothesenschaftes ist deutlich zu ertasten (Abb. 2).
Die Besonderheit der hier vorgestellten Versorgung besteht zum einen darin, dass bisher kein Wechsel der Hüft-TEP stattgefunden hat und die Patientin somit seit 39 Jahren mit derselben TEP versorgt ist. Zum anderen haben sich die Stumpfverhältnisse in den letzten ca. zehn Jahren hinsichtlich Weichteildeckung, Belastbarkeit und Schmerzempfinden verschlechtert. Trotz Entlastung des Hüftgelenks ist eine Migration des Hüftkopfes in die Hüftpfanne über die letzten Jahre zu beobachten (Abb. 3).
Klinik
Resultierend aus der seit 39 Jahren bestehenden Entlastung des Hüftgelenks – anfangs noch mit querovaler Schaftform und durch Abstützung des Tuber ossis ischii durch eine Tuberbank – ist eine Beckenvorkippung bei gleichzeitiger Torsion des Beckens zu erkennen. Dadurch zeigen sich auch eine Hyperlordose der LWS und skoliotische Veränderungen der Wirbelsäule. Das klinische Bild zeigt einen transfemoralen Stumpf von 14,5 cm Länge. Die Weichteildeckung des Stumpfes ist im distalen, ventralen Bereich geringer. Der Hautzustand ist normal. Es zeigen sich ein weiches Unterhautgewebe und leichte Narbeneinziehungen im distal-dorsalen Bereich sowie ein leichter Weichteilüberhang. Die Stumpfendbelastbarkeit ist als kontakt‑, aber nur gering belastungsfähig einzustufen. Berührungsempfindlichkeit und Schmerzempfinden werden von der Patientin am gesamten Stumpf, aber primär im distalen Bereich sowie der Stumpfspitze beschrieben. Der Muskelstatus ist bis auf etwas schwächere Abduktion und Extension durchgehend mit „5“ zu bewerten. Das Hüftgelenk zeigt in Ruhestellung eine Flexion von 20°, die bis 15° extendiert werden kann. Daraus ergibt sich die per Neutral-Null-Methode festgelegte passive Gelenkbeweglichkeit (ROM) des Hüftgelenks wie folgt:
- Extension/Flexion: 0/15/85
- Abduktion/Adduktion : 15/0/25
Die kontralaterale Seite ist bis auf eine leichte passive Bewegungseinschränkung in der Hüftflexion sowie der Dorsalextension im OSG ohne Befund. Diese leichten passiven Einschränkungen haben jedoch keinen Einfluss auf das Gangbild und die Nutzung des Hilfsmittels.
Der OS-Kurzstumpf
Wie bereits erwähnt ist ein Kurzstumpf nicht nur aufgrund der geringen Stumpfoberfläche zur Lastübernahme und der ungünstigen Hebelwirkung zur Steuerung der Prothese eine Herausforderung. Je kürzer das Amputationsniveau ist, desto größer ist das Muskelungleichgewicht, wodurch der Stumpf unweigerlich in eine Fehlstellung abwandert. Im Bereich der transfemoralen Amputationen ist dies durch vermehrte Flexion, Außenrotation und Abduktion erkennbar. In der Frontalebene kommt es mit jeder Kürzung zu einem Verlust des Hebelarms der Adduktoren, wohingegen die Abduktoren (Mm. gluteus medius und minimus) vollständig erhalten bleiben. Daher ist es natürlich, dass der Stumpf mit zunehmender Kürze in eine vermehrte Abduktionsstellung übergeht. In der Sagittalebene ist Vergleichbares zu beobachten: Der kräftigste Hüftbeuger (M. iliopsoas) bleibt erhalten; seine Antagonisten (Gluteus maximus und Kniebeuger) verlieren jedoch an Hebelarm, wodurch die Flexionsstellung gefördert wird. Auch hier verstärkt sich der Effekt mit abnehmender Stumpflänge deutlich. In der Transversalebene ist eine Außenrotationsstellung zu erkennen. Die spontane Außenrotation ist für die Funktion des Stumpfes jedoch weniger bedeutsam als die vermehrte Flexion und Abduktion.
Diesen Fehlstellungen ist jedoch nicht gleichzeitig eine verringerte Hüftbeweglichkeit zuzuordnen. Der statische Prothesenaufbau sollte zunächst physiologisch und nach den Herstellerangaben der verwendeten Passteile vollzogen werden. Erst Kontrakturen mit einer verringerten Hüftbeweglichkeit müssen sich im Aufbau des Schaftes widerspiegeln 3.
Versorgung
Um das weiche Gewebe zu fassen und die geringe Weichteildeckung des Stumpfes auszugleichen, wird der Silikonliner „Seal-In-X5“ (Össur) eingesetzt. Durch die fünf Dichtlippen wird die geringe Stumpfoberfläche größtmöglich genutzt, um die nötige Haftung im Schaft zu gewährleisten. Als Kniepassteil nutzt die Patientin ein „C‑Leg 3“ in Verbindung mit dem Fuß „Trias“ (Ottobock).
Aufgrund der besonderen Situation der seit 39 Jahren einliegenden Großkopfendoprothese mit Zementmantel ohne knöcherne Femuranteile ist das Hüftgelenk belastungsarm zu halten. Daher steht bei der Stumpfbettung die Entlastung der Hüfte im Vordergrund, und der Prothesenschaft muss unter Beachtung der TEP gestaltet werden. Diese Entlastung ist durch eine ramusumgreifende Schaftform nicht zu erreichen, da durch die eingestellten Vektoren die axialen Kräfte im Hüftkopf zentriert werden. Des Weiteren lässt die muskuläre Situation der Patientin keine ausreichende Verklammerung im Schaft zu. Das kontakt‑, aber nur gering belastungsfähige Stumpfende muss ebenso in der Schaftkonstruktion beachtet werden. Eine adäquate Entlastung sowohl der Hüfte als auch der Stumpfspitze wird durch die Anstützung des Tuber ossis ischii erreicht. Diese Anstützung erfolgt jedoch nicht mit einer massiven Unterstützung durch eine Tuberbank. Das exakt eingestellte diagonale m‑l-Maß hält den Tuber in der Sitzbeinmulde, wodurch ein ausreichendes Abfangen der axialen Kräfte am Tuber bewirkt wird. Somit besteht ein Vollkontakt des Tubers, der die Entlastung der Hüfte und der Stumpfspitze gewährleistet. Eine dennoch leichte Umgreifung des Sitzbeins minimiert das „Shiften“ in m‑l-Richtung (Abb. 4) Die laterale Anlage sowie die eingearbeitete „Dortmunder Rinne“ optimieren die Fassung des Stumpfes im Schaft und verbessern Kontrolle und Steuerung der Prothese. Zur Ermittlung der Länge der Prothese dient der kompensierte Stand. Durch die Beckentorsion zeigt sich das Tuber-Boden-Maß der kontralateralen Seite als geringer, was zu einer zu kurzen Versorgung führen würde.
Auch die skoliotische Veränderung der Wirbelsäule lässt einen Beckengeradestand nicht zu. Die Schaftrandgestaltung bedarf ebenfalls einer genauen Betrachtung der anatomischen Gegebenheiten. Durch die bereits im Rahmen der klinischen Betrachtung erwähnte Torsion des Beckens ist dem Kreuzungspunkt und im weiteren Verlauf dem nach vorne tiefer liegenden Symphysenbereich eine wesentlich größere Beachtung zu schenken. Insbesondere der Symphysenbereich liegt weiter distal, als es üblicherweise der Fall ist (Abb. 5). Im lateralen Bereich des Schaftrandes ist darauf zu achten, dass die Patientin die nötige Vorspannung auf die Mm. gluteus medius und minimus erhält, um ihr Becken in der Schwungphase der kontralateralen Seite ausreichend stabilisieren zu können. Aufgrund des nicht mehr vorhandenen Trochanter major ist kein genauer Wert für den Illiumwinkel zu ermitteln. Gleiches gilt für das skelettäre m‑l-Maß. Die Gestaltung dieses Bereichs wurde in den Anproben eingestellt. Durch die empfindlichen Stumpfverhältnisse durfte der Druck in diesem Bereich nicht zu hoch sein. Die Patientin verspürte bei strafferer Fassung zwar eine erhöhte Stabilität, konnte aber diesen Mehrwert aufgrund zunehmender Beschwerden nicht nutzen (Abb. 6 u. 7). Neben der Optimierung der Stumpfbettung im Schaft war auch eine Verbesserung des Schaftkomforts für das Sitzen notwendig, da die Patientin eine sitzende Tätigkeit im Büro ausübt. Aus diesem Grund wurde eine Aussparung des Gluteus maximus vorgenommen. Diese Aussparung förderte jedoch ein unsicheres Gefühl beim Gehen und wurde im Verlauf der Anproben weiter nach proximal geschlossen (Abb. 8a–c). Das mikroprozessorgesteuerte Kniegelenk bietet der Patientin die nötige Sicherheit in ihrem täglichen Umfeld. Um die Belastung am Stumpf durch die Pendelbewegung des Kniegelenks noch weiter zu minimieren, ist eine Testversorgung mit dem „Short-Femoral“-Kniegelenk der Firma VGK geplant.
Fazit
Die Versorgung des hier im Fokus stehenden Oberschenkel-Kurzstumpfes bedarf einer genauen Planung der Stumpfbettung. Durch die vor fast 40 Jahren implantierte Hüft-TEP verlangt die Versorgung der vorgestellten Patientin eine intensive Begutachtung der vorherrschenden anatomischen Gegebenheiten, der muskulären Beschaffenheit, der Belastbarkeit des Stumpfes und insbesondere der Entlastung der Hüfte. Unter Beachtung dieser einzelnen Faktoren ist die Patientin adäquat versorgt und nutzt die Prothese täglich in ihrem beruflichen und privaten Alltag.
Der Autor:
Roland Götzen (Dipl.-OTM)
Werkstattleitung
Medical Center Südwestfalen
Sanitätshaus Enneper GmbH
Rotehausstraße 36
58642 Iserlohn
r.goetzen@mcs-medicalcenter.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Götzen R. Prothetische Versorgung bei OS-Kurzstumpf nach Hüft-TEP – eine besondere Situation. Orthopädie Technik, 2018; 69 (8): 32–35
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- Yiallouros M, Tallen G. Osteosarkom (Kurzinformation). Stand: 24.05.2018. https://www.kinderkrebsinfo.de/erkrankungen/weitere_solide_tumoren/osteosarkom/pohpatinfoosteosarkomkurz20101215/index_ger.html (Zugriff am 14.06.2018)
- Journal Onkologie (Hrsg.). Osteosarkom: selten aber meistens hochmaligne. http://www.journalonko.de/thema/anzeigen/Osteosarkom_selten_aber_meistens_hochmaligne. Stand: 04.08.2015 (Zugriff am 14.06.2018)
- Baumgartner R, Botta P. Amputation und Prothesenversorgung. Indikationsstellung, operative Technik, Nachbehandlung, Prothesenversorgung, Gangschulung, Rehabilitation. 3., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart, New York: Thieme Verlag, 2007