Pro­the­sen­ver­sor­gung mit selek­ti­vem Ner­ven­trans­fer (Tar­ge­ted Mus­cle Rein­ner­va­ti­on) nach trans­hu­me­ra­ler Osseo­in­te­gra­ti­on – Versorgungsbeispiel

F. Naumann, B. Oelßner
Die hier beschriebene Versorgung – die noch immer seltene Kombination einer transhumeralen Osseointegration mit einer myoelektrischen Prothese – stellt sowohl medizinisch als auch technisch eine große Herausforderung dar. Ein gründliches Vorab-Screening unter Berücksichtigung aller Beteiligten (Mediziner, Techniker, Therapeuten, Kostenträger und Passteilindustrie) ist unabdingbar für eine erfolgreiche Versorgung. Zudem bestehen dabei besonders hohe Anforderungen an die fachliche Qualifikation, die technische Ausstattung und die entsprechende Motivation aller Beteiligten. Aber auch die Anwenderinnen und Anwender werden stark gefordert: Sie benötigen ein hohes Maß an Eigeninitiative und Durchhaltevermögen im aufwendigen Versorgungsverlauf, der sich über ein bis zwei Jahre erstrecken kann und in der Regel mehrerer Testversorgungen bedarf – so auch hier. Trotz der bestehenden Erfahrungen sowohl mit transhumeralen als auch mit transfemoralen Osseointegrationen sowie trotz jahrelanger Erfahrung mit myoelektrischen Prothesenversorgungen im Unternehmen der Autoren waren die hohen Ansprüche des Patienten hinsichtlich Handhabbarkeit und die gegebenen technischen Möglichkeiten in Verbindung mit TMR eine herausfordernde Aufgabe, die eines hohen Maßes an Krea­tivität und individueller Lösungen bedurfte.

Ein­lei­tung

Bei einer myo­elek­tri­schen Pro­the­sen­ver­sor­gung an der obe­ren Extre­mi­tät spie­len meh­re­re Fak­to­ren eine Rol­le, um das Hilfs­mit­tel in den All­tag ein­zu­bin­den und voll zu akzep­tie­ren. Alle Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin­nen und ‑tech­ni­ker ken­nen aus ihrem All­tag Fak­to­ren, die eine Ver­sor­gung stark beein­flus­sen: ein Ver­rut­schen der Pro­the­se auf­grund erhöh­ter Schweiß­bil­dung, ein sich stän­dig ändern­der Anpress­druck der Elek­tro­den durch mecha­ni­sche Belas­tung der Pro­the­se von außen; even­tu­ell ist es auch eine Ban­da­ge zur kon­tra­la­te­ra­len Sei­te, die den Tra­ge­kom­fort nicht immer erhöht. Die Tra­ge­ak­zep­tanz der Pro­the­se bei Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten wird durch Zuver­läs­sig­keit, Kom­fort und mitt­ler­wei­le auch durch das Design der Ver­sor­gung stark beein­flusst. Die Weich­teil­si­tua­ti­on des Stump­fes, die ossä­re Situa­ti­on, die mus­ku­lä­ren Vor­aus­set­zun­gen, das psy­cho­so­zia­le Umfeld und nicht zuletzt die Com­pli­ance der Pati­en­ten ent­schei­den mit über den Erfolg einer pro­the­ti­schen Versorgung.

Anzei­ge

Der Arti­kel klärt zunächst die Grund­la­gen der bei­den The­men­be­rei­che, die bei der hier auf­ge­zeig­ten Ver­sor­gung rele­vant sind (Osseo­in­te­gra­ti­on und TMR) und schil­dert sodann die ein­zel­nen Schrit­te des Ver­sor­gungs­ab­laufs mit allen Test­ver­sor­gun­gen; anschlie­ßend wer­den die wich­tigs­ten Her­aus­for­de­run­gen und deren Lösun­gen sowie Schluss­fol­ge­run­gen bezüg­lich wei­te­rer Ver­sor­gun­gen diskutiert.

Grund­la­gen der kom­bi­nier­ten Ver­sor­gung  (Osseo­in­te­gra­ti­on / TMR)

Osseo­in­te­gra­ti­on

Eine kon­ven­tio­nel­le Ver­sor­gung von Men­schen mit Ampu­ta­ti­on an der obe­ren Extre­mi­tät besteht in der Regel aus einem Sili­kon-Inter­face (HTV-Schaft oder HTV-Sili­kon­li­ner), das den Stumpf auf­grund der bekann­ten Eigen­schaf­ten ide­al bet­tet, sowie aus einer tra­gen­den Struk­tur, die in der Regel aus Faser­ver­bund­werk­stoff besteht. Bei einer Osseo­in­te­gra­ti­on dage­gen besteht eine direkt ein­ge­heil­te Ver­bin­dung zwi­schen Implan­tat und Kno­chen. Somit gibt es eine direk­te sen­si­ble Rück­in­for­ma­ti­on; damit erlangt der Anwen­der osse­oper­zep­ti­ve Fähig­kei­ten. Durch die direk­te Anbin­dung der Pro­the­se an das Implan­tat ergibt sich eine direk­te Kraft­über­tra­gung, und aus dem Weg­fall des Pro­the­sen­schaf­tes resul­tiert eine bes­se­re Beweg­lich­keit im Schul­ter­ge­lenk. Zudem wird eine deut­lich ver­bes­ser­te Kraft­über­tra­gung durch das Implan­tat gene­riert, wor­aus eine ver­bes­ser­te Beweg­lich­keit resul­tiert. Das An- und Able­gen der Pro­the­se wird durch die moder­nen Ver­schluss­sys­te­me gegen­über einem kon­ven­tio­nel­len Schaft­sys­tem deut­lich erleich­tert. Sekun­där füh­ren die­se Attri­bu­te zu einem mess­ba­ren Mehr­nut­zen der ortho­pä­die­tech­ni­schen Ver­sor­gung. Es stei­gert sich der Kom­fort und damit die Tra­ge­dau­er der Versorgung.

Tar­ge­ted Mus­cle Rein­ner­va­ti­on (TMR)

Selek­ti­ve Ner­ven­trans­fers ver­blie­be­ner Ner­ven­stümp­fe füh­ren zu einer wesent­li­chen Erwei­te­rung der Steue­rungs­mög­lich­kei­ten einer Pro­the­se. Bei der ent­spre­chen­den Ope­ra­ti­on wer­den die Ner­ven, die vor­mals zur Steue­rung der ampu­tier­ten Extre­mi­tät zustän­dig waren, in Mus­kel­lo­gen der ver­blie­be­nen Mus­ku­la­tur im Stumpf­be­reich trans­fe­riert und bekom­men somit ein neu­es Ziel­or­gan. Nach Ein­wach­sen der Ner­ven in die Mus­ku­la­tur ist es mög­lich, kon­trol­liert und selek­tiert die ein­zel­nen Mus­kel­be­rei­che anzu­steu­ern. Ziel der Metho­de ist es, eine har­mo­ni­sche, intui­ti­ve, dem natür­li­chen Bewe­gungs­mus­ter ent­spre­chen­de Steue­rung der Pro­the­se zu errei­chen, ohne dass der Pati­ent zwi­schen den Steue­rungs­ebe­nen durch Umschal­ten wech­seln muss. Gleich­zei­tig kann eine Redu­zie­rung des Phan­tom­schmer­zes erreicht wer­den. Schluss­end­lich sind mit einer sol­chen Pro­the­se sogar kom­bi­nier­te Bewe­gun­gen mög­lich; es kön­nen meh­re­re Frei­heits­gra­de par­al­lel ange­steu­ert wer­den. Durch die erwei­ter­ten Steue­rungs­mög­lich­kei­ten der pro­the­ti­schen Ver­sor­gung steigt der Anspruch an eine sta­bi­le Anbin­dung der Pro­the­se an den Stumpf.

Fall­bei­spiel

Fall­be­schrei­bung

Der ver­sorg­te Pati­ent ist männ­lich und (Stand: Mai 2022) 35 Jah­re alt. Sein Zustand nach einem Poly­trau­ma stellt sich wie folgt dar:

  • schlaf­fe Arm­pa­re­se links mit unte­rem Plexusschaden;
  • Pseud­arthro­se im Humerus;
  • Inner­va­ti­on des N. ulnaris möglich.

Ana­mne­se

Zwei Kör­per­be­rei­che wur­den durch das Poly­trau­ma beson­ders stark geschä­digt: das lin­ke Bein und der lin­ke Arm. Dies­be­züg­lich wur­den meh­re­re Ope­ra­tio­nen durch­ge­führt, im Einzelnen:

Lin­kes Bein:

  • Vor­fuß­am­pu­ta­ti­on links (6/2017), Arthro­de­se links im OSG/USG (6/2017), es besteht zudem eine ein­ge­schränk­te KG-Funk­ti­on links in Exten­si­on und Fle­xi­on (0/10/40);
  • trans­fe­mo­ra­le Ampu­ta­ti­on links (6/2020);
  • Osseo­in­te­gra­ti­on trans­fe­mo­ral links (12/2021).

Lin­ker Ober­arm:

  • trans­hu­me­ra­le Ampu­ta­ti­on links (1/2019);
  • Osseo­in­te­gra­ti­on trans­hu­me­ral mit TMR links (11/2019; die ent­spre­chen­de Ver­sor­gung steht hier im Mittelpunkt).

Der Pati­ent führt sei­nen Haus­halt selbst­stän­dig, ist halb­tags berufs­tä­tig und dabei über­wie­gend im Büro tätig. Er ist begeis­ter­ter Rad­fah­rer und möch­te per­spek­ti­visch auch wie­der Renn­rad fahren.

Ver­sor­gungs­zie­le

Das haupt­säch­li­che Ver­sor­gungs­ziel besteht dar­in, dem Pati­en­ten ein bima­nu­el­les Grei­fen, Tra­gen und Hal­ten zu ermög­li­chen. Wich­tig ist wei­ter­hin die selbst­stän­di­ge Durch­füh­rung sei­ner All­tags­ak­ti­vi­tä­ten, die vol­le Wie­der­ein­glie­de­rung ins Berufs­le­ben und das ein­fa­che An- und Able­gen der Prothese.

Ope­ra­ti­on / Erstversorgung

Von Beginn an äußer­te der Anwen­der den Wunsch nach einer Osseo­in­te­gra­ti­on am Ober­arm mit TMR-Steue­rung. Auf­grund des kom­ple­xen Poly­trau­mas mit Ple­xus­scha­den und in Ver­bin­dung mit einer Osteo­mye­li­tis im Hume­rus erfolg­te Anfang 2019 im ers­ten Schritt eine Ober­arm-Ampu­ta­ti­on links mit klas­si­scher Stumpf­bil­dung. Erst im Nach­gang wur­den sodann die Mög­lich­kei­ten für eine Osseo­in­te­gra­ti­on und eine TMR-Ver­sor­gung ergründet.

Die Erst­ver­sor­gung Anfang 2019 erfolg­te mit einer myo­elek­tri­schen Ober­arm­pro­the­se mit HTV-Sili­kon­li­ner, Zwei­ka­nal­steue­rung, „Dyna­mi­cArm Plus“ (Otto­bock, Duder­stadt), Dreh­steue­rung und „bebionic“-Hand (eben­falls Otto­bock). In Abspra­che mit dem Kos­ten­trä­ger wur­den die Pass­teil­kom­po­nen­ten bereits zu die­sem Zeit­punkt vor­aus­schau­end für die Ver­sor­gung mit einer TMR-Steue­rung konfiguriert.

Nach eini­ger Zeit mit kon­ven­tio­nel­lem Schaft­sys­tem wur­de im Novem­ber 2019 die trans­hu­me­ra­le Osseo­in­te­gra­ti­on mit selek­ti­vem Ner­ven­trans­fer durch­ge­führt (Abb. 1). Die Osseo­in­te­gra­ti­on erfolg­te mit einem Implan­tat des schwe­di­schen Her­stel­lers Inte­grum. Bei der TMR-Ope­ra­ti­on konn­ten 5 Hot­spots zur geziel­ten Ansteue­rung der myo­elek­tri­schen Kom­po­nen­ten gebil­det werden.

Ver­sor­gungs­pla­nung nach Osseo­integration und TMR

Der Anwen­der äußer­te kla­re Vor­stel­lun­gen bezüg­lich der Gestal­tung der Pro­the­sen­ver­sor­gung. Es war von Anfang an eine Bedin­gung, das Anzie­hen der Ver­sor­gung so ein­fach wie mög­lich zu gestal­ten. Bezüg­lich des Implan­tats wur­de die Vor­stel­lung geäu­ßert, ein mög­lichst ein­fa­ches Ein­stei­gen in die Pro­the­se mit einem Bajo­nett­ver­schluss oder einem ein­fa­chen mecha­ni­schen Ver­rie­ge­lungs­sys­tem vor­zu­se­hen. Gleich­zei­tig soll­ten auch die myo­elek­tri­schen Signa­le (Hot­spots) ziel­si­cher abge­grif­fen wer­den kön­nen und die Elek­tro­den fest mit der Pro­the­se ver­bun­den sein. Ein selbst­stän­di­ges regel­mä­ßi­ges Posi­tio­nie­ren der Elek­tro­den am Stumpf – z. B. durch Auf­kle­ben oder Ein­ste­cken – kam für den Anwen­der nicht in Fra­ge. Zudem bestand der Wunsch nach einer kos­me­ti­schen Anpas­sung der Pro­the­se an die Körpersymmetrie.

Der Ver­sor­gungs­plan für die Endo-Exo-Pro­the­se mit TMR-Steue­rung gestal­te­te sich daher für die Schaft­tech­nik wie folgt:

  • HTV-Sili­ko­nin­lay mit Rah­men­au­ßen­schaft zur Anbin­dung der Elek­tro­den und mit kos­me­ti­schem Cover;
  • spe­zi­ell ange­fer­tig­ter Adap­ter zur Anbin­dung an das Abut­ment von Inte­grum (Abb. 2).

Ver­sor­gungs­ver­lauf

Nach erfolg­rei­cher Ein­hei­lung des Implan­tats konn­te mit der Vor­be­rei­tung und Kon­di­tio­nie­rung des OA-Stump­fes begon­nen wer­den. Um hier ein opti­ma­les Ver­sor­gungs­er­geb­nis zu erzie­len, ist wie für die gesam­te Ver­sor­gung eine adäqua­te inter­dis­zi­pli­nä­re Zusam­men­ar­beit zwi­schen Ope­ra­teur, Ergo­the­ra­peut, Phy­sio­the­ra­peut und Ortho­pä­die­tech­ni­ker zwin­gend erfor­der­lich. Begin­nend mit einem spe­zi­ell von Inte­grum für die obe­re Extre­mi­tät ent­wi­ckel­ten „Hume­rus Trai­ning Kit“ (Abb. 3) wird das Implan­tat mit einem dosier­ten Belas­tungs­auf­bau (Load) mecha­ni­schen Belas­tun­gen aus­ge­setzt, wodurch sich die Kno­chen­sub­stanz ent­spre­chend an die mecha­ni­schen Belas­tun­gen adap­tie­ren kann. Die The­ra­pie folg­te dem Sche­ma des schwe­di­schen Sah­l­grens­ka Uni­ver­si­ty Hos­pi­tal in Göte­borg. Das Trai­ning wur­de mit zuneh­men­den Gewich­ten von 50 g pro Woche ste­tig gestei­gert; die Gewich­te wur­den am Trai­nings-Kit von pro­xi­mal nach distal posi­tio­niert. Zudem wur­de die ROM („ran­ge of moti­on“; Bewe­gungs­um­fang) im Schul­ter­ge­lenk wei­ter trai­niert (Abb. 4).

Nach Ablauf von 3 Mona­ten post-ope­ra­tiv wur­den unter the­ra­peu­ti­scher Lei­tung und mit Ver­wen­dung eines Bewe­gungs­pro­to­kolls gezielt Hot­spots ermit­telt, die zur Posi­tio­nie­rung der Elek­tro­den genutzt wur­den. Jeder Ziel­mus­kel bzw. Hot­spot wur­de mit der dazu­ge­hö­ri­gen Bewe­gungs­vor­stel­lung in Kon­trak­ti­ons­stär­ke und ‑dau­er mit dem Ziel der iso­lier­ten Akti­vie­rung akti­viert (Abb. 5a u. b). Die Signa­le des M. biceps bra­chii und des M. tri­ceps bra­chii aus der kon­ven­tio­nel­len Ver­sor­gung waren dabei wie gewohnt nutz­bar. Das Signal­trai­ning erfolg­te über einen Zeit­raum von ca. 12 Mona­ten; in die­ser Zeit ver­än­der­ten sich die Hot­spots auch geo­gra­fisch am Stumpf. Unter­stüt­zend wur­de ab dem 12. Monat mit einer Table-Top-Pro­the­se (Abb. 6) gear­bei­tet. Nach Sta­bi­li­sie­rung der 5 Hot­spots in Signal­po­si­ti­on, ‑akti­vi­tät und ‑dau­er konn­te der ers­te Test­schaft ange­fer­tigt werden.

Die Test­schäf­te

Das Maß­neh­men für die Erstel­lung des ers­ten Test­schaf­tes erfolg­te per Scan. Es wur­den ins­ge­samt 6 Test­schäf­te gefer­tigt. Die­se wer­den im Fol­gen­den genau­er vorgestellt.

  • Der 1. Test­schaft wur­de im 3D-Druck­ver­fah­ren mit einem fle­xi­blen Mate­ri­al mit BOA-Sys­tem für zir­ku­lä­ren Ver­schluss und 5 inte­grier­ten Elek­tro­den gefer­tigt. Er dien­te zur Volu­men­kon­trol­le für das spä­te­re Sili­ko­nin­lay, zur Posi­tio­nie­rung der Elek­tro­den am Stumpf sowie zur Nut­zung und Arre­tie­rung am Abut­ment unter Nut­zung des „Hume­rus Trai­ning Kit“ (Abb. 7).
  • Beim 2. Test­schaft wur­de auf­grund feh­len­der Adhä­si­on das Mate­ri­al geän­dert: Der Schaft wur­de nun aus einem PETG-Fila­ment (Poly­ethy­len­te­re­phtha­lat) mit 5 inte­grierten Elek­tro­den mit BOA-Sys­tem für zir­ku­lä­ren Ver­schluss gefer­tigt. Durch die geän­der­te mecha­ni­sche Auf­nah­me für das Abut­ment wur­de in immer glei­cher Aus­rich­tung eine kor­rek­te Elek­tro­den­po­si­ti­on garan­tiert. Trai­niert wur­de in der Ergo­the­ra­pie mit Test­schaft und Table-Top-Prothese.
  • Der 3. und der 4. Test­schaft wur­den erneut aus PETG mit BOA-Sys­tem für zir­ku­lä­ren Ver­schluss gefer­tigt, weil sich dies bewährt hat­te. Sie wur­den jedoch an geän­der­te Elek­tro­den­po­si­tio­nen und Stumpf­vo­lu­mi­na ange­passt. Wäh­rend die­ser Zeit änder­te sich die Signal­qua­li­tät in Signal­stär­ke und ‑dau­er kon­ti­nu­ier­lich (Abb. 8 u. 9).
  • Der 5. Test­schaft, ein HTV-Test-Sili­ko­nin­lay mit sta­bi­li­sie­ren­dem Rah­men­schaft sowie mit inklu­dier­ter spe­zi­ell gefer­tig­ter Auf­nah­me für das Abut­ment, wur­de nach Sta­bi­li­sie­rung von Stumpf­vo­lu­men und Elek­tro­den­po­si­ti­on sowie nach einer Redu­zie­rung von 5 auf 4 Elek­troden auf­grund der bes­se­ren selek­ti­ven Ansteue­rung gefer­tigt. Es erfolg­te der ers­te sta­ti­sche Auf­bau mit „Dyna­mi­cArm Plus“ und „bebionic“-Hand wie bei jeder kon­ven­tio­nel­len Arm­pro­the­se mit dem Ein­rich­ten der Gelenk­ach­se für den Ellen­bo­gen. Eine Anglei­chung der Kör­per­sym­me­trie fand unter Berück­sich­ti­gung der bio­me­cha­ni­schen Wirk­prin­zi­pi­en statt.
  • Der 6. und letz­te Test­schaft bestand aus HTV-Test-Sili­ko­nin­lay und 3D-gedruck­tem Rah­men­schaft nach Über­tra­gung der sta­ti­schen und dyna­mi­schen Anpro­be unter Ein­fluss der Ergeb­nis­se des 5. Test­schaf­tes für die mehr­wö­chi­ge Erpro­bung im All­tag (Abb. 10 a–c).

Die Erfah­rung mit den sechs Test­schäf­ten wur­de dazu genutzt, die Definitiv­versorgung auf­zu­bau­en, die im Fol­gen­den vor­ge­stellt wird.

Fina­les Ansteuerungsprofil

Der Anwen­der kann selek­tiv 5 Hot­spots ansteu­ern; im All­tags­ge­brauch hat sich die Nut­zung aller 5 Signa­le jedoch nicht bewährt: Das 5. Signal zur Steue­rung der Hand­ge­lenks­ro­ta­ti­on über­la­ger­te sich nach län­ge­rem Tra­gen mit ande­ren Signa­len, und es kam zu häu­fi­gen Fehl­steue­run­gen. Hier ist wei­ter­hin geziel­tes Trai­ning erfor­der­lich, um alle 5 Signa­le sta­bil zu nut­zen. Für die Pro­the­sen­ver­sor­gung wer­den daher aktu­ell 4 Elek­tro­den zur Ansteue­rung genutzt. Die­se Signa­le sind pro­por­tio­nal steu­er­bar; ledig­lich in gro­ßer Abduk­ti­on kommt es zu einer gerin­gen Über­la­ge­rung der Signa­le auf­grund der Lage der ein­zel­nen Elek­tro­den am Stumpf. Hand und Ellen­bo­gen kön­nen simul­tan gesteu­ert wer­den. Die Umschal­tung in die Dreh­steue­rung erfolgt über eine Ko-Kon­trak­ti­on. Die Umschal­tung der Griff­mus­ter in der „bebionic“-Hand wird über ein „OpenOpen“-Signal generiert.

Die TMR-Matrix in Tabel­le 1 zeigt die Zuord­nung Nerv – Mus­kel – Pro­the­sen­be­we­gung auf.

Fer­ti­gung der Definitivversorgung

Nach erfolg­rei­cher mehr­wö­chi­ger All­tags­er­pro­bung unter ste­ti­ger Beglei­tung durch Ergo­the­ra­pie und Phy­sio­the­ra­pie konn­te die Fer­ti­gung der Defi­ni­tiv­ver­sor­gung begin­nen. Ein erneu­tes Scan­nen des Stump­fes und des Ober­kör­pers war für die Umset­zung erfor­der­lich, um Stumpf­vo­lu­men und Kör­per­sym­me­trie genau abbil­den zu können.

Auf der Grund­la­ge der Scans und der vor­han­de­nen Test­pro­the­se (Abb. 2) wur­den sowohl das HTV-Defi­ni­tiv-Sili­ko­nin­lay als auch ein sta­bi­li­sie­ren­der Rah­men­au­ßen­schaft im Mul­ti-Jet-Fusi­on-Ver­fah­ren aus PA 12 mit indi­vi­du­el­lem inte­grier­tem „Custom-made“-Adapter für das Abut­ment (3D-Druck­ver­fah­ren) gefer­tigt. Die­ser Adap­ter ermög­licht ein ein­fa­ches Ein­stei­gen in die Pro­the­se nach dem Prin­zip „click and go“.

Der 3D-gedruck­te Rah­men­au­ßen­schaft stellt mit­tels sei­ner Form­gebung die Kör­per­sym­me­trie zur Gegen­sei­te wie­der her und nimmt den Mas­ter (Steu­er­ein­heit des „Dyna­mi­cArm Plus“) mit allen erfor­der­li­chen Elek­tro­den­ka­beln auf. Ein wei­te­rer Nut­zen des Rah­men­au­ßen­schafts ist der Schutz des Sto­mas vor mecha­ni­scher Belas­tung. Der Rah­men­schaft ist kon­struk­tiv per­fo­riert, um eine adäqua­te Luft­zir­ku­la­ti­on am Abut­ment zu gewähr­leis­ten. Über ein Gurt­sys­tem auf der media­len Sei­te lässt sich bei Not­wen­dig­keit der Anpress­druck der Elek­tro­den mecha­nisch regulieren.

Auf der media­len Sei­te befin­det sich eine tech­ni­sche War­tungs­klap­pe mit magne­ti­schem Ver­schluss, um bei even­tu­el­len Repa­ra­tu­ren bzw. beim Ser­vice pro­blem­los an die tech­ni­schen Kom­po­nen­ten zu gelan­gen (Abb. 11a–c).

Fazit

Wie gezeigt wur­de, konn­ten die vom Anwen­der gefor­der­ten Reha­bi­li­ta­ti­ons­zie­le auf­grund einer inten­si­ven und kon­ti­nu­ier­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Arzt, The­ra­peut, Tech­ni­ker, Phy­sio­the­ra­peut und Kos­ten­trä­ger erreicht wer­den. Jedoch erfor­dert eine sol­che auf­wen­di­ge Ver­sor­gung von allen Betei­lig­ten einen hohen zeit­li­chen Mehr­auf­wand, der nur durch ent­spre­chen­des hohes Enga­ge­ment geleis­tet wer­den kann.

Die Osseo­in­te­gra­ti­on erwei­tert das Spek­trum pro­the­ti­scher Ver­sor­gun­gen der obe­ren Extre­mi­tät und kann bei ent­spre­chen­den Indi­ka­ti­ons­stel­lun­gen für Men­schen mit Ampu­ta­ti­on nutz­brin­gend zum Ein­satz kom­men. Kon­ven­tio­nel­le Schaft­sys­te­me stel­len zwar nach wie vor den Gold­stan­dard in der Ortho­pä­die­tech­nik dar. Die Ver­bin­dung von Osseointe­gration und Tar­ge­ted Mus­cle Rein­ner­va­ti­on ermög­licht aber eine pro­the­ti­sche Ver­sor­gung, die vom Anwen­der viel intui­ti­ver und effek­ti­ver ein­ge­setzt wer­den kann, als es bei übli­chen Ver­sor­gun­gen der Fall ist. Auf­grund der Kom­ple­xi­tät der hier vor­ge­stell­ten Ver­sor­gung gab es zudem gro­ße tech­ni­sche Her­aus­for­de­run­gen im Zusam­men­spiel der gewähl­ten Pass­teil­kom­po­nen­ten, die noch nicht alle zufrie­den­stel­lend gelöst wer­den konnten.

Eine adäqua­te Ver­sor­gungs­pla­nung und deren Umset­zung waren nur auf­grund der Kom­bi­na­ti­on von klas­si­schen Fer­ti­gungs­ver­fah­ren wie einem HTV-Sili­kon­schaft mit digi­ta­ler Modell­erfas­sung, Kon­struk­ti­on und moder­nen addi­ti­ven Fer­ti­gungs­ver­fah­ren möglich.

Gera­de die enge Ver­knüp­fung und die gegen­sei­ti­ge Berei­che­rung von Hand­werk und hoch­mo­der­nen Ver­fah­ren und Tech­no­lo­gien bei der­art kom­ple­xen Ver­sor­gun­gen bie­tet einen Aus­blick auf die wei­te­re Ent­wick­lung der Ortho­pä­die­tech­nik, bei der das hand­werk­lich-tech­ni­sche Ver­ständ­nis der Ver­sor­gen­den kei­nes­wegs ein­ge­schränkt oder ihnen Ent­schei­dun­gen aus der Hand genom­men wer­den; im Gegen­teil wird ein immer brei­te­res Kom­pe­tenz­spek­trum  – von den klas­si­schen Fähig­kei­ten bis hin zu moderns­ten Ver­fah­ren – ver­langt wer­den, womit die Anfor­de­run­gen ins­ge­samt zwar stei­gen, sich die Ergeb­nis­se für die zu Ver­sor­gen­den aber auch stark ver­bes­sern. Dies muss sich auf Dau­er aller­dings auch in einer ent­spre­chen­den Ver­gü­tung des Auf­wan­des durch die Kos­ten­trä­ger widerspiegeln.

Dank­sa­gung

An die­ser Stel­le dan­ken die Autoren dem The­ra­peu­ten-Team um Mela­nie Wit­tich von der Hand­Ak­tiv The­ra­pie GmbH Leip­zig für ihren gro­ßen Ein­satz und den Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen im eige­nen Haus für ihr bereit­wil­li­ges Mit­wir­ken an der hier vor­ge­stell­ten Versorgung.

Hin­weis
Der Arti­kel beruht auf einem Vor­trag von F. Nau­mann anläss­lich der ­OTWorld in Leip­zig am 10.05.2022.

Die Autoren:
Bern­hard Oelß­ner, OTM
oelssner@orthovital.de
Frank Nau­mann, OTM
naumann@orthovital.de
Ort­ho­vi­tal GmbH
Mag­de­bor­ner Str. 19
04416 Mark­klee­berg

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Nau­mann F, Oelß­ner B. Pro­the­sen­ver­sor­gung mit selek­ti­vem Ner­ven­trans­fer (Tar­ge­ted Mus­cle Rein­ner­va­ti­on) nach trans­hu­me­ra­ler Osseo­in­te­gra­ti­on – Ver­sor­gungs­bei­spiel. Ortho­pä­die Tech­nik, 2022; 73 (8): 58–63

Lesen Sie die spa­ni­sche Über­set­zung in der Federa­ción Espa­ño­la de Orte­sis­tas Pro­te­sis­tas Nr. 117/2023, S. 46–52  

Wei­ter­füh­ren­de Literatur:
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