Alles Fragen, die Prof. Dr. Reich-Schupke bei ihrem Vortrag auf dem 11. Bochumer Lymphsymposium 2022 näher beleuchtete, das die Julius Zorn GmbH in Zusammenarbeit mit der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie der Ruhr-Universität Bochum und dem Venenzentrum der Dermatologischen und Gefäßchirurgischen Kliniken, Klinikum der Ruhr Universität Bochum veranstaltet hat. Im Gespräch mit der OT-Redaktion gibt sie Einblicke in die wichtigsten Aspekte.
OT: Sie sagten im Vortrag: „Eine Adipositas kommt selten allein.“ Was meinen Sie damit?
Prof. Dr. Stefanie Reich-Schupke: Die Adipositas ist eine Erkrankung, die selten allein kommt. Oft haben die Patient:innen zusätzlich Herzkreislauferkrankungen, Bluthochdruck, Stoffwechselstörungen, Diabetes oder Schlaganfälle. Es kommen als Folge der Adipositas viele unterschiedliche Erkrankungen zusammen, die oft auch in den Bereich der chronisch-entzündlichen Erkrankungen sowie Autoimmunerkrankungen gehen. Das Lymphödem kann dabei sowohl Folge als auch (Mit)-Ursache der Adipositas sein. Es kommt darauf an, welche Art von Lymphödem die Patient:innen aufweisen. Beim Adipositas-assoziierten Lymphödem ist erst die Adipositas da und in der Folge kommt es zu Störungen des Lymphabflusses. Entwickelt sich hingegen erst das Lymphödem aus anderen Gründen, kann es passieren, dass die Patient:innen dadurch in ihrer Mobilität so eingeschränkt sind, dass sie sekundär eine Adipositas bekommen. Aber eigentlich wird bei dem Gros erst die Adipositas diagnostiziert und dann als eine der Folgeerkrankungen das Adipositas-assoziierte Lymphödem. Während ich am Anfang meiner Tätigkeit vor ca. 20 Jahren eher junge Patient:innen mit einem primären Lymphödem gesehen habe oder sekundär nach Tumorerkrankungen, nimmt seit einigen Jahren die Anzahl der Patient:innen mit „dicken“ oder „geschwollenen“ Beinen bei Adipositas deutlich zu.
OT: Was passiert denn bei einer Adipositas im Lymphsystem und inwieweit fördert das das Lymphödem?
Reich-Schupke: Die Studien, die in den letzten Jahren in der Zeitschrift „Phlebologie“ vorgestellt wurden, stellen sehr eindrücklich die Nachbarschaft der Fettzellen zu den Lymphgefäßen dar. Das führt zu einer Wechselwirkung. Eine Zunahme des subkutanen Fettgewebes hat somit unmittelbar Auswirkungen auf das Lymphsystem. Der Lymphtransport verschlechtert sich. Die stehende Lymphflüssigkeit, die Lymphostase, führt dann zu einer Vermehrung des Fettgewebes, das als Folge vermehrt Entzündungsbotenstoffe ausschüttet, die dann wiederum den Lymphfluss stören. Man gerät in eine Art Teufelskreis, bei dem sich gleichzeitig das Lymphödem verschlechtert und sich das Fettgewebe vermehrt. Klinisch sieht man diese Auswirkungen sowohl an einem schlechten Lymphtransport als auch nachweislich an einer reduzierten Aufnahme von Lymphe in die Lymphknoten. Die Architektur verändert sich; es findet eine Reduzierung von Größe und Anzahl der Lymphknoten statt und die Lymphangiomotorik verringert sich. Meistens führt es dann auch noch dazu, dass Patient:innen, die ein gewisses Maß an Übergewicht erreicht haben, zusätzlich noch immobil werden. Das reduziert weiter die wichtige Muskelpumpenaktivität, die eigentlich dafür sorgen soll, den venösen und lymphatischen Rückfluss zu steigern. Hinzu kommt – auch das haben Studien belegt –, dass die Bauchfettschürze auf die Gefäße in der Leiste drücken. Und je mehr die Patient:innen dann in einen „sitzenden“ Alltag geraten, desto schlechter wird der Transport der Lymphflüssigkeit von den Beinen in den Körperstamm gewährleistet.
MLD vermutlich weniger effektiv bei Adipositas-Patient:innen
OT: Die Manuelle Lymphdrainage (MLD) gilt als ein probates Mittel gegen das Lymphödem. Welche Herausforderungen ergeben sich bei adipösen Patient:innen in der Versorgung?
Reich-Schupke: Diese adipösen Beine haben einfach viel mehr Umfang und sind deshalb für die Therapeut:innen deutlich schlechter zu händeln. Das fängt damit an, dass die Fingerkraft für die Masse an Gewebe nicht reicht. Oder ein anderes Problem ist die Liege: Trägt sie das Gewicht noch adäquat? Vielleicht ist der Patient/die Patientin zudem nicht mehr in der Lage flach zu liegen; ein ganz praktisches Problem beispielsweise bei der Lymphdrainage in der Leistenbeuge. Wenn die Masse der Bauchfettschürze zudem sehr umfangreich ist, können Therapeut:innen die Behandlung kaum noch alleine durchführen, sondern benötigen unterstützende Hände, die nur die Bauchschürze hochhalten. Auch der Versuch, nach der Lymphdrainage einen Kompressionsverband anzulegen, kann herausfordernd sein. Das ist bei einem normalen Bein schon relativ schwierig, aber wenn man dann noch ein sehr adipöses Bein hat, dann müsste das optimalerweise noch zusätzlich von einer weiteren Person hochgehalten werden. Als Therapeut:in kommt man so oftmals an die eigenen Grenzen. Aber Probleme stellen sich auch schon vor der Behandlung ein. Zum Beispiel bei der Frage, wie die Patient:innen zur Lymphdrainage in die Praxis kommen sollen. Kommt der Aufzug eventuell an seine Belastungsgrenze? Wir haben bereits Patient:innen gehabt, die waren aufgrund ihres Gewichts nicht mehr in der Lage zu laufen und wurden mit einem Feuerwehrspezialtransport zur Untersuchung gebracht. Diese Transportart ist aber nicht dreimal in der Woche zur Lymphdrainage zu realisieren Also viele Überlegungen, die man im Vorfeld abklären muss. Gleichzeitig wissen wir nicht, ob die Lymphdrainage bei adipösen Menschen gleichermaßen wirksam ist. Es gibt Studien zum Brustkrebs mit kleineren Patientengruppen, deren Ergebnisse die Vermutung nahelegen, dass adipöse Patient:innen bei gleichen Rahmenbedingungen einen deutlich schlechteren Benefit von der Lymphdrainage haben.
OT: Welche weiteren Herausforderungen ergeben sich bei der KPE?
Reich-Schupke: Wenn man jetzt nicht nur die Lymphdrainage betrachtet, sondern die KPE (Komplexe Physikalische Entstauungstherapie) insgesamt, kommen weitere Aspekte wie beispielsweise Hautpflege hinzu. Viele der sehr adipösen Patient:innen sind oft nicht mehr in der Lage, ihre Füße zu erreichen oder ihre Hautfalten hygienisch zu versorgen. Sie können Eintrittspforten in den Zehenzwischenräumen nicht sanieren und haben ein erhöhtes Risiko für Erysipele (Wundrosen), die dann wiederum das Lymphödem verschlechtern können. Gleichzeitig diagnostiziert man bei diesen Patient:innen oft begleitend eine chronisch-venenöse Insuffizienz, die ein erhöhtes Sensibilisierungspotential auf Externa bietet. Ein weiteres Problem ist die Kompression: Wenn die Menschen ihre Füße für deren Pflege nicht erreichen können, ist das Anziehen von Kompressionsstrümpfen ebenfalls nicht möglich. Da ist die Frage: Braucht es ein Anziehen über eine dritte Person? Hilfsmittel sind oft nicht ausreichend, da die Maße für sehr adipöse Menschen nicht genügen. Braucht es ggf. auch mehr Material für einen Kompressionsverband als bei einem nicht adipösen Menschen? Wie kann man die Kompression befestigen? Bei großem Oberschenkelvolumen braucht man über einen Schenkelstrumpf mit Haftrand eigentlich nicht nachzudenken. Besser ist dann eine Strumpfhose oder eine geteilte Versorgung, bei der die Radlerhose die Kompressionsstrümpfe hält. Die Bekleidung ist ebenfalls eine Herausforderung. Ein bandagiertes Bein hat noch mehr Volumen. Wenn die Patient:innen ohne Kompressionsversorgung schon an den Grenzen der Konfektionsgrößen liegen, führt diese zusätzliche Umfangsvermehrung dazu, dass die Kleidungsstücke nicht mehr passen. In Bezug auf die Umsetzung der vierten Säule der KPE, die Bewegung, besteht zusätzlich das Problem, dass die Mobilität dieser Patient:innen oft deutlich eingeschränkt ist. Sie haben somit einen eher sitzenden oder liegenden Alltag, sodass es zu keiner ausreichenden Druckentlastung durch die Beinpumpe kommen kann. Insgesamt gesehen sind alle Komponenten der KPE durch die Adiposität und insbesondere die extreme Adipositas deutlich beeinträchtigt.
Trotz Adipositas die Maßnahmen der KPE konsequent umsetzen
OT: Welche Tipps haben Sie für die Behandlung adipöser Patient:innen?
Reich-Schupke: Bei den Patient:innen, die ihren Alltag ohne Hilfspersonen strukturieren können, ist es wichtig, dass man sie zur Bewegung motiviert. Studien haben gezeigt, dass die Bewegung wichtiger ist als die Ernährungsumstellung. In dem Moment, wo die Patient:innen wieder anfangen mobiler zu werden, profitiert der ganze Organismus. Übertriebene Vorschläge wie 20 Kilometer joggen sind in diesem Zusammenhang nicht hilfreich, sondern man sollte die Patient:innen in kleinen Schritten zu mehr Bewegung motivieren. Hilfreich können beispielsweise ein Schrittzähler oder ein Fitnessarmband sein, mit dem sie ein Gefühl dafür bekommen, wie viele Schritte sie täglich gehen. Ein Tipp könnte auch sein, den Patient:innen zu raten, Kohlenhydrate zu reduzieren, die den Insulinspiegel schnell in die Höhe schießen lassen und die damit die Adipositas noch mehr befeuern. Ansonsten sollte man bei der Therapie des Lymphödems – trotz der Adipositas – soweit es geht versuchen, die Maßnahmen der KPE konsequent umzusetzen.
OT: Aus Ihrem Praxisalltag heraus: Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Versorgung extrem adipöser Patient:innen?
Reich-Schupke: Bei den extrem adipösen Patient:innen ist es schwieriger. Hier sollte das A und O sein, dass die Patient:innen abnehmen; sei es durch bariatrische Chirurgie oder durch deutliche Veränderungen ihrer Lebens- und Essgewohnheiten. Wir haben aktuell bei uns einige Patient:innen gehabt, die aufgrund ihrer Adipositas-assoziierten Lymphödeme dringend eine Entstauungsbehandlung gebraucht hätten. Aber die angefragten Physiotherapeut:innen lehnten die Behandlung ab mit der Begründung, dass sie die Therapie bei diesen Beinvolumina nicht leisten können. Da bleibt uns bei den extrem adipösen Patient:innen nur die Möglichkeit, sie für eine lymphologische Reha anzumelden, in der Hoffnung, dass diese zeitnah starten kann und sie so eine adäquate Entstauungstherapie erhalten. Das ist natürlich ein Nadelöhr, denn diese Kliniken haben auch nur begrenzt Plätze. Bis zur Aufnahme muss man dann mitunter als Behandler ein bisschen improvisieren. In solchen Fällen arbeiten wir gerne mit adaptiven Kompressionsbandagen. Auf diese Weise haben die Betroffenen zumindest ein bisschen Entstauung, die sie immer wieder nachjustieren können. Das ist keine Patentlösung, aber manchmal das Einzige, das im Alltag umsetzbar ist und die Patient:innen etwas mehr in die Mobilität bringt.
Spezielle Anziehhilfen und Sportgruppen für Betroffene
OT: Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?
Reich-Schupke: Ich würde mir wünschen, dass die Hilfsmittelhersteller sich zukünftig mehr auf diese Patientengruppe einstellen und zum Beispiel Anziehhilfen für „dickere“ Beine produzieren. Die aktuellen Produkte sind in ihrem Umfang begrenzt und bestimmte extreme Beinumfänge lassen sich damit nicht versorgen. Wenn einer Ideen hätte, Anziehhilfen für adipöse Patient:innen zu entwickeln, würde mich das sehr freuen. In Bezug auf die Krankenkassen würde ich mir wünschen, dass in Zukunft – ähnlich wie bei den bereits etablierten Herzsportgruppen – auch spezielle Sportgruppen für adipöse Lymphpatient:innen angeboten und gefördert werden. Dort sollten die Teilnehmenden bei dem Sport nicht überfordert werden. Gleichzeitig wäre es ein geschützter Raum mit Gleichgesinnten, in dem sich jeder wohlfühlen kann – auch in der Bewegung. Positiv sehe ich die Entwicklung im Bereich des „Aquacycling“ für Lymph- und Lipödempatient:innen sowie adipöse Patient:innen. Das sind aus meiner Sicht erste Anfänge, die in die richtige Richtung gehen, weil die Bewegung im Wasser für die
Betroffenen natürlich viel schöner ist.
Die Fragen stellte Irene Mechsner.
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