Im Interview schildert Fröhlingsdorf die Ursprünge des Unternehmens, erklärt ausführlich den strategischen Transformationsprozess im eigenen Haus und liefert die Gründe für den jüngst erfolgten „Hardware-Stopp“.
OT: Herr Fröhlingsdorf, Sie sind Anfang 2020 als neuer CEO zu Mecuris gestoßen. Wie ist es dazu gekommen?
Peter Fröhlingsdorf: Ich bin tatsächlich angesprochen worden. Mecuris hat im Sommer 2019 jemanden gesucht, der aus dem ganzen Know-how, den vielen Ideen, den CAD-Produkten, Füßen und Cover den „Proof of market“ realisiert. Das heißt, unter Beweis zu stellen, dass die Produkte nicht nur auf dem Reißbrett und in wissenschaftlichen Studien funktionieren, sondern sich auch verkaufen lassen und das Start-up-Unternehmen irgendwann tragfähig wird. Bei einem Start-up ist es so, dass mit dem von Investoren zur Verfügung gestellten Geld eine gewisse Zeit geforscht, entwickelt und ausprobiert wird. Es werden Showcases erstellt und mit bestimmten Sanitätshäusern zusammen sogenannte Usability-Tests gemacht. Dies hat auch bereits vor meiner Zeit stattgefunden, ehe es jemanden brauchte, der den Markt kennt und versteht. Ich war über 20 Jahre bei Rahm, einige Jahre auch als Geschäftsführer, anschließend mehrere Jahre in der Industrie bei Össur, wo ich gelernt habe, wie Vertrieb und Marketing aus deren Perspektive funktionieren. Dort habe ich gelernt, wie innovative, hochpreisige und beratungsintensive Produkte in den Markt eingeführt werden können. Du musst den Orthopädietechniker dafür begeistern und davon überzeugen, dass der Nutzen für den Anwender zu 100 % gegeben ist. Schließlich ist es das, worauf es ankommt. Anschließend habe ich knapp drei Jahre den Direktvertrieb des kanadischen Robotik-Spezialisten Kinova in Deutschland selbstständig aufgebaut. Der seinerzeit neue Produktbereich Robotik war auch für das Hilfsmittelverzeichnis eine Herausforderung. Diese Kombination an Erfahrung und Kontakten hat Mecuris gebraucht.
OT: In welchem Maße unterscheidet sich Ihr aktueller Verantwortungs- und Aufgabenbereich von Ihren vorherigen Stationen bei Össur, Kinova und Rahm?
Fröhlingsdorf: Als Geschäftsführer muss ich mich um die Einhaltung der gesetzlichen und regulatorischen Vorgaben kümmern. Dies ist bei einem Start-up wie Mecuris auch noch einmal anders als bei etablierten Unternehmen. Jedes Quartal werden den Investoren die erzielten Fortschritte dokumentiert und ggf. strategische Entscheidungen getroffen. Zuletzt im April haben wir offiziell bekanntgegeben, dass wir uns ab sofort auf die Weiterentwicklung und Vermarktung der Software, auch international, fokussieren. Parallel dazu das Hardware-Segment, also Füße, Cover etc., fortzusetzen, hätte die Gefahr mit sich gebracht, sich zu verzetteln und zu hohe Investitionen tätigen zu müssen. Diese Strategie muss mit den Investoren abgestimmt und mit dem Team umgesetzt werden.
OT: Was bedeutet der Hardware-Stopp konkret?
Fröhlingsdorf: Füße und Cover produzieren wir aktuell nicht mehr. Sie sind quasi „eingefroren“. Die Rechte daran besitzen wir weiterhin und haben nichts auslizenziert. Alle Ressourcen und Arbeitskräfte werden bis auf weiteres auf die Weiterentwicklung und Vermarktung der Software konzentriert.
Vom Experiment zur Existenzgründung
OT: Springen wir zunächst noch einmal zurück zu den Anfangstagen. Wie ist es überhaupt zur Firmengründung gekommen?
Fröhlingsdorf: Das ist eine hochspannende Geschichte, die ich aus der Perspektive meiner Tätigkeit bei Rahm miterlebt habe. Im Wesentlichen gibt es folgende Impulsrichtungen: Jannis Breuninger, einer der Mitgründer, hat sich zu der Zeit am Fraunhofer Institut IPA mit dem 3D-Druck von Prothesen beschäftigt. Dr. Simon Weidert, Orthopäde und Unfallchirurg an der Uniklinik, hatte ein großes Interesse, Halswirbelsäulen-OPs durch individuelle Halskrausen zu stabilisieren. Wir sprechen hier von einem sehr schwer zu versorgenden Bereich, der eine hohe Stabilität benötigt. Es muss relativ schnell ein Halo-Ring eingesetzt werden und das Gestell eine stabile Verbindung zwischen Schulter und Kopf herstellen, damit der Hals sich nicht bewegt. Mit den gängigen Produkten auf dem Markt war Dr. Weidert nicht zufrieden und hat damit begonnen, selbst mit verschiedenen Feingewinden und Feststellschrauben zu experimentieren. Als dritten Impuls haben wir Felix Gundlack, der die Software-Expertise besitzt. Schließlich sind als Mitbegründer noch Manuel Opitz, der aus seiner Zeit bei Evonik reichlich Know-how über die additive Fertigung mitgebracht hat, und Wolf-Peter Werner als erfahrener Kaufmann zu nennen. Im Existenzgründerprogramm „Exist“ haben diese jungen Männer dann die Gründung auf den Weg gebracht und sich auf die Suche nach Investoren gemacht.
OT: Das erste eigene Produkt war dann aber keine Halskrause, sondern 3D-gedruckte Prothesenfüße?
Fröhlingsdorf: Die Entscheidung erklärt sich mit dem fehlenden Mengenbedarf bei Halskrausen. Wir sprechen hier von ein paar wenigen Individualversorgungen, bei denen der operierende Arzt als Experte stets involviert sein muss. Das überaus hohe Maß an Beratung und Kommunikation wie etwa gemeinsame Sprechstunden bei wenigen Mengen ließ das Produkt nicht ausreichend rentabel erscheinen. Gleichzeitig blieb die Orthopädie-Technik als Versorgungsbereich gesetzt und über Marktuntersuchungen und ‑analysen fiel der Fokus auf die Prothetik. Die Füße sind 2017 auf den Markt gekommen. Ohne jetzt die Möglichkeiten und Vorteile von 3D-Druck im Allgemeinen vorzustellen, möchte ich hervorheben, dass der „FirStep“ für Kinder wirklich bahnbrechend gewesen ist. Der hat super funktioniert. Die von uns angebotenen kleinen Größen gab es vorher so nicht auf dem Markt. Zum Glück gibt es relativ wenig beinamputierte Kinder, was aber auch das Vertriebspotential eingrenzt. Also gab es parallel den „NexStep“, der mit seiner Wasserfestigkeit gute Marktchancen besaß, da es gesetzlich so aussah, als ob Badeprothesen unkomplizierter als Kassenleistung anerkannt werden. Mit seiner Funktionalität und dem Gewicht ist er super angekommen. Es blieb aber für die versorgenden Betriebe eine Herausforderung, einen Fuß ohne Hülle, ohne Kosmetik anzubieten.
OT: Was waren die Vorteile des 3D-Drucks gegenüber herkömmlichen Produktionsverfahren?
Fröhlingsdorf: Das lässt sich am besten mit dem „ComfyStep“-Fuß darstellen. Hier gab es die Möglichkeit, auch Aktivitätsparameter für den individuellen Bedarf jenseits von Fußgröße- und breite einzugeben. Hinzu kommen Aspekte der besseren Reproduzierbarkeit mit bei Bedarf minimalen Anpassungen bei Folgeversorgungen.
OT: Auf der OTWorld 2018 waren Stimmen zu hören, dass – plakativ gesagt – die Digitalisierung den Gips ablöst.
Fröhlingsdorf: In der Prothetik sehe ich bis heute keine Veränderungen und Reaktionen bei den Prothesenfußherstellern. Im Passteilmarkt gibt es Bemühungen und Impulse, aber noch keine konkreten Vorteile, was den 3D-Druck angeht. Im Softwarebereich ist das ganz anders. Hier ist viel mehr Bewegung drin.
Virtuelle Prüfstände
OT: Dann lassen Sie uns über die Software reden. Unter Federführung von Franziska Glas haben Sie sehr viel Arbeit in die Entwicklung von virtuellen Prüfständen investiert. Was verbirgt sich hinter der Finite-Elemente-Methode (FEM) und welche Rolle spielt dabei das Forschungsprojekt „Sigma-3D“?
Fröhlingsdorf: Wir haben es hier mit einer Computersimulationsmethode zu tun, bei der ein 3D-Bauteil in winzige Volumenkörper, das sind die Finiten Elemente, unterteilt wird. In dieser Berechnung überträgt jedes Element dem benachbarten Element sein physikalisches Verhalten, als ob beide miteinander kommunizieren würden. So kann eine digitale Simulation einen experimentellen Testaufbau ersetzen, natürlich nach einer ausführlichen Validierung. In diesem virtuellen Prüfstand werden die typischen Belastungssituationen des Hilfsmittels untersucht. Nehmen wir als Beispiel den „Roll-over-shape“ beim Prothesenfuß. Wie verhält sich das Material vom ersten Fußkontakt über die Fersenablösung bis zum Ende der Standphase. Von der Kommunikation der einzelnen Elemente lässt sich das Gesamtverhalten ableiten. Das ist die FEM. Wir sind als Konsortiumsleitung aktiv in das Sigma-3D-Projekt eingebunden, mit dem Ziel ein digitales Qualitätsprüfmodul zu entwickeln. Der Orthopädietechniker kann bei der digitalen Erstellung einer Orthese mit Unterstützung der entsprechenden Software eine individuelle Prüfung vornehmen, die für die Technische Dokumentation wichtige Bausteine liefert. Dies kann meines Erachtens noch von relevanter Bedeutung bei der Anwendung der Medical Device Regulation (MDR) werden.
OT: Was ist der zentrale Benefit für den OT-Betrieb?
Fröhlingsdorf: Dank des digitalen Prüfstands erfolgt die Prognose zu Haltbarkeit und Funktionalität bereits vor der additiven Fertigung. Dies sorgt für einen maßgeblichen Mehrwert bei der Dokumentation und dem Risiko- und Qualitätsmanagement. Letzten Endes bieten wir ein digitales Werkzeug an. Lieber Orthopädietechniker, mit deinem Know-how baust Du das Hilfsmittel, trägst aber als Hersteller und Inverkehrbringer auch die Verantwortung, dass die Qualität stimmt. Das Projekt Sigma-3D ist nicht nur für das Reißbrett gedacht, sondern zielt auf die praktische Anwendung in Deiner digitalen Werkstatt ab. Mit Prof. Dr. David Hochmann von der FH Münster oder auch Antonius Köster haben wir klasse Projektpartner mit an Bord.
Strategiewechsel
OT: Im eigenen Unternehmen haben Sie, wie bereits ausgeführt, die Hardware-Sparte in den Stand-by-Modus versetzt und konzentrieren sich stattdessen auf die Etablierung der Mecuris Solution Plattform (MSP).
Fröhlingsdorf: Bis zu unserem Strategiewechsel im Frühjahr waren wir Dienstleister für die Betriebe. Wir haben unter anderen einen 3D-Druck-Service für Orthesen angeboten. Dabei hat der Orthopädietechniker uns eine in unserer Software modellierte Zweckform geschickt und wir haben dann die Konstruktionsdienstleistung bis zum Druck der Orthese vorgenommen. Das machen wir jetzt nicht mehr. Unter Einbeziehung der Software stellt der Techniker die Orthese nun zu 100 % selbst her. Wir stehen bei Bedarf lediglich noch für allgemeine Fragen als Berater zur Verfügung, wenn jemand z. B. über die Anschaffung eines eigenen 3D-Druckers nachdenkt. Bevor Sie fragen, wir empfehlen keine speziellen Anbieter oder Dienstleister und erhalten null Komma null Provisionen.
OT: Hat sich mit dem Strategiewechsel auch die Plattform geändert?
Fröhlingsdorf: Die Idee einer Darstellung der kompletten Prozesskette ist genauso geblieben. Lassen Sie es mich wie folgt erklären: Im Rahmen einer digitalen Transformation gibt es verschiedene Herausforderungen für den Betrieb. Viele frickeln zu Beginn lange mit dem Patientenscan rum. Sie probieren den einen Scanner, dann den anderen, aber keiner will so richtig funktionieren. Die kommen gar nicht bis zum 3D-Druck. Das ist die erste große Barriere. Danach folgen die Modellierung, die Konstruktion, der Druck oder die Fräsung. Im Idealfall gewinnt er bei diesen Prozessen Zeit, die er besser bei der Beratung und Anprobe am Patienten einsetzen soll. Die Argumente Geschwindigkeit, Kosteneffizienz, Müllvermeidung und Platzersparnis liegen auf der Hand.
OT: Hebt sich Mecuris denn von anderen Mitbewerbern bei der Software-Unterstützung für die digitale Transformation der Prozesskette ab?
Fröhlingsdorf: Wir haben als Einziger eine webbasierte Software. Das heißt, es muss keine DVD mit einer Software per Post geschickt werden, die dann auf einen überaus leistungsfähigen PC gespielt wird. Unsere Web-Applikation ist mit einem normalen Notebook über einen Login auf unserer Homepage aufrufbar. Nach der Registrierung meldet sich spätestens nach 24 Stunden unser Vertrieb und klärt die beruflichen Hintergründe, z. B. Orthopädietechniker oder anderes medizinisches Fachpersonal. Wir haben bis August eine Marketingaktion, die Plattform kostenfrei zu nutzen.
OT: Wie erzielen Sie mit der MSP Umsatz?
Fröhlingsdorf: Das funktioniert über Monats- oder Jahresgebühren, die sich danach richten, wie ausgeprägt die Software genutzt wird. Zudem gibt es eine „Pay-per-use“-Gebühr für die Downloads, die sich preislich an der monatlich durchgeführten Menge richtet. Auf der Plattform selbst werden keine Daten gespeichert. Die verwaltet der Anwender auf seinem eigenen Gerät. Wir bieten eine 90-minütige Schulung an. Im Anschluss kann der Orthopädietechniker dank der intuitiven Oberfläche direkt loslegen.
OT: Welchen Einfluss hat die Einbeziehung der Software auf den Status des Hilfsmittels als Serien- oder Sonderanfertigung?
Fröhlingsdorf: Unsere Position ist eindeutig: Im Vergleich zum manuellen Herstellungsprozess zunächst mal gar keinen. Nutzt das Sanitätshaus die Software selbst zur individuellen, freien Konstruktion und lässt es dann 3D-drucken, stellt es weiterhin eine Sonderanfertigung her. Denn auch unter der MDR fällt der 3D-Druck nicht per se unter „industrielles Verfahren”, wodurch es zum Serienprodukt werden würde. Anders verhält es sich mit Serviceaufträgen, bei denen über bestimmte Konstruktionsrahmen und Skalierung das Produkt auf den Patienten abgestimmt modelliert und im Anschluss 3D-gedruckt wird. Laut der Koordinierungsgruppe Medizintechnik (MDCG 2021–3) brauchen diese Produkte eine CE-Kennzeichnung.
OT: Sehen Sie sich mit der Neuausrichtung am Ende des Start-up-Daseins angelangt?
Fröhlingsdorf: Mecuris hat sicherlich an Professionalität und Seriosität gewonnen. Die Devise „alles einmal ausprobieren“ hat abgenommen. Mit der starken Fokussierung, die wir jetzt vorgenommen haben, befinden wir uns in der Transformation zum KMU (Kleines und mittleres Unternehmen, Anm. d. Red.). Gleichzeitig haben wir diesen Spirit und coolen Drive etwas bewegen zu wollen und die Welt ein Stück weit besser zu machen, nicht verloren. Die Atmosphäre der Anfangstage ist noch da und es ist schön, sich den Pioniergeist zu bewahren und ebenso ein solides Business aufzubauen.
Das Fragen stellte Michael Blatt.