Ortho­pä­die-Tech­nik auf über 2.600 Metern Höhe

„Das ist eigentlich total verrückt: Wir gehen dahin und bekommen kein Gehalt und arbeiten komplett ehrenamtlich“, sagt Orthopädietechnik-Meister Christian Haupt, der mit seiner Frau Christina und den beiden Kindern Benjamin und Mia im letzten Monat die Zelte in Deutschland abgebrochen und am 20. August den Flieger Richtung peruanische Anden bestiegen hat. In Curahuasi liegt auf 2.650 Metern Höhe sein neues Einsatzgebiet: die Orthopädietechnik-Werkstatt von Diospi Suyana – ein hochmodernes Missionskrankenhaus, das von dem deutschen Ärzteehepaar Klaus-Dieter und Martina John aus Spenden aufgebaut wurde.

Das Cre­do: „die best­mög­li­che medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung für die Ärms­ten der Welt“, vor allem auch für die Quechua-India­ner, eine der ärms­ten Grup­pen der Perua­ner und Opfer eth­ni­scher Ver­fol­gung und gesell­schaft­li­cher Dis­kri­mi­nie­rung. Eben­so wie die Pro­jekt­grün­der treibt auch das Ehe­paar Haupt die christ­li­che Nächs­ten­lie­be an. Daher kün­dig­te der 32-jäh­ri­ge Göt­tin­ger nach fast 14 Jah­ren bei Otto­bock sei­nen fes­ten Arbeits­ver­trag, um drei Jah­re lang ehren­amt­lich beim Dio­spi-Suya­na-Pro­jekt anzu­pa­cken. An der ange­glie­der­ten Dio­spi-Suya­na-Schu­le wird par­al­lel Ehe­frau Chris­ti­na unter­rich­ten. Der Arbeits­ein­satz der bei­den wird aus­schließ­lich über Spen­den von Freun­den und Unter­stüt­zer finan­ziert. Ein Pro­jekt, das wie auf den Ortho­pä­die­tech­nik-Meis­ter und die ange­hen­de Spa­nisch- und Bio­lo­gie­leh­re­rin zuge­schnit­ten ist. Im OT-Inter­view berich­tet Chris­ti­an Haupt über die glück­li­che Fügung, ein Ortho­pä­die­tech­nik-Pro­jekt mit Schu­le im spa­nisch­spra­chi­gen Aus­land gefun­den zu haben, über sein gefor­der­tes Impro­vi­sa­ti­ons­ta­lent, lan­des­ty­pi­sche Beson­der­hei­ten bei der Pati­en­ten­ver­sor­gung und Ent­wick­lungs­hil­fe im digi­ta­len Zeitalter.

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OT: Wie sind Sie auf das Ent­wick­lungs­hil­fe­pro­jekt auf­merk­sam geworden?

Chris­ti­an Haupt: Schon als wir zusam­men­ka­men, war es unser Gedan­ke, Medi­zin und Bil­dung irgend­wann ein­mal gemein­sam an einem Brenn­punkt die­ser Welt ein­zu­set­zen. Dann kamen die Kin­der und der Gedan­ke war erst ein­mal weg. Inzwi­schen ist Ben­ja­min zwei Jah­re alt und Mia wird vier. Jetzt auf ein­mal ist die Tür wie­der auf­ge­gan­gen und es rei­hen sich vie­le Fügun­gen anein­an­der. Auf das Ent­wick­lungs­hil­fe­pro­jekt in Peru bin ich über einen Freund auf­merk­sam gewor­den, der auch im Ent­wick­lungs­hil­fe­be­reich tätig ist und ein Pro­jekt in Alba­ni­en beglei­tet hat. Als wir uns als Fami­lie über­legt haben, dass es eine gute Zeit ist, mit den Kin­dern genau jetzt ins Aus­land zu gehen, bin ich mit ihm in Kon­takt getre­ten und habe ihn gefragt, ob er auch etwas Spa­nisch­spra­chi­ges kennt, weil mei­ne Frau Spa­nisch stu­diert hat. Er hat mir den Kon­takt zu dem Ortho­pä­die­tech­ni­ker ver­mit­telt, der vor drei Jah­ren die OT-Werk­statt von Dio­spi Suya­na in Peru auf­ge­baut hat. Zuvor hat­te er als Ent­wick­lungs­hel­fer in Alba­ni­en gear­bei­tet, bis das Reha­zen­trum mit Ortho­pä­die­tech­nik Werk­statt dort aut­ark lief und er mit sei­ner Fami­lie für das nächs­te Ent­wick­lungs­hil­fe­pro­jekt nach Peru ging.

OT: Wel­che Kri­te­ri­en waren Vor­aus­set­zung, um das Ehren­amt antre­ten zu können?

Haupt: Zum einen muss­ten wir als Fami­lie abklä­ren, ob wir uns das zutrau­en, die­sen Schritt zu wagen mit Kin­dern und beson­ders auch in die­ser Coro­na-Zeit. Auch der finan­zi­el­le Grund­stock muss­te erst gesi­chert sein. Wir finan­zie­ren unse­ren Arbeits­ein­satz aus­schließ­lich über Spen­den. Wie alle inter­na­tio­na­len Ärz­te und Mit­ar­bei­ter am Kran­ken­haus bekom­men wir kein Gehalt, son­dern wer­den durch einen Spen­der­kreis unter­stützt. Unse­re Orga­ni­sa­ti­on, die Ver­ei­nig­te Deut­sche Mis­si­ons­hil­fe, hand­habt es so, dass man von sei­nem errech­ne­ten Grund­be­darf 80 Pro­zent errei­chen muss, um die Flü­ge buchen zu dür­fen. Wir hat­ten am Anfang gedacht, dass es sich monat­lich um einen drei­stel­li­gen Bereich han­deln wür­de. Aber tat­säch­lich ist es deut­lich mehr, weil wir neben den monat­li­chen Lebens­hal­tungs­kos­ten auch für Flü­ge, den Sprach­kurs für mich und die Absi­che­rung als Fami­lie auf­kom­men müs­sen. Wir sind im deut­schen Ange­stell­ten­ver­hält­nis über die Orga­ni­sa­ti­on beschäf­tigt, das heißt wir blei­ben im Ren­ten­sys­tem und berufs­ge­nos­sen­schaft­lich ver­si­chert. Dazu kom­men auch wei­te­re Ver­si­che­run­gen für den Ein­satz im Aus­land. Unser ers­ter Gedan­ke war: Wie soll man denn so viel Geld auf­trei­ben? Aber da sich so vie­le Men­schen hin­ter uns gestellt haben, kön­nen wir nun in die­ses Aben­teu­er „Nächs­ten­lie­be“ starten.

Zum ande­ren muss­te mei­ne Frau abklä­ren, ob ihr Mas­ter­ti­tel aus­reicht, um als Leh­re­rin in Peru aner­kannt zu wer­den. Als fest­stand, dass im Aus­land kein zusätz­li­ches Refe­ren­da­ri­at erfor­der­lich ist, waren alle Türen offen. Und mit mei­nem Meis­ter­ti­tel wur­de ich mit Kuss­hand genommen.

Jetzt habe ich noch die sprach­li­che Kom­po­nen­te zu bewäl­ti­gen: Nach­dem ich in Deutsch­land schon das Spa­nisch-Level A1 absol­viert habe, benö­ti­ge ich nun für den beruf­li­chen Ein­stieg das Level B1, um eine gute Pati­en­ten­ver­sor­gung gewähr­leis­ten zu können.

OT: Wie groß ist das Projekt?

Haupt: Zur­zeit arbei­ten ca. 50 inter­na­tio­na­le und rund 200 perua­ni­sche Fach­kräf­te in die­sem Pro­jekt. In der OT-Werk­statt arbei­ten wir aktu­ell zu zweit: Dani­el Mül­ler ist im März 2018 nach Peru/Curahuasi gereist und hat die Werk­statt zu dem Kran­ken­haus auf­ge­baut. Jetzt ist er – nach der Pha­se der Werk­statt­ein­rich­tung, Fir­men­auf­bau, Kon­tak­te schlie­ßen – an dem Punkt, das Team aus­zu­bau­en: Ich bin die ers­te Erwei­te­rung in der OT-Werk­statt. Wir wer­den nun schau­en, was wir wei­ter gemein­sam auf­bau­en. Ich könn­te mir vor­stel­len, in Zukunft auch ein Aus­bil­dungs­zen­trum zu integrieren.

OT: Wel­che Ver­sor­gungs­schwer­punk­te war­ten auf Sie vor Ort?

Haupt: Zum einen der kli­ni­sche All­tag mit allem, was dort anfällt: Ban­da­gen­ver­sor­gung, Lage­rungs­schie­nen, Ein­la­gen­ver­sor­gung, Spreiz­hös­chen bei Früh­ge­bo­re­nen. Zum ande­ren aber auch die ortho­pä­di­sche Ver­sor­gung für Men­schen, die in die Sprech­stun­de kom­men und viel­leicht schon län­ge­re Zeit ampu­tiert sind, aber noch kei­ne Ver­sor­gung haben. Neu­land sind für mich die Fel­der Orthe­tik und Reha im Kli­nik­be­reich, weil ich bis­her immer im Bereich Pro­the­tik ein­ge­setzt war. In der Aus­bil­dung habe ich die­se Berei­che durch­lau­fen, daher wird es nicht kom­plett fremd, aber im Berufs­all­tag neu sein.

OT: Was reizt Sie beruf­lich an der neu­en Herausforderung?

Haupt: Beruf­lich fin­de ich den Ansatz des Pro­jekts total fas­zi­nie­rend: „die best­mög­li­che Tech­nik für die Ärms­ten der Welt“. Das heißt zudem auch, dass man es mit Men­schen zu tun hat, die aus den ärms­ten Ver­hält­nis­sen stam­men, die zuhau­se manch­mal nicht ein­mal elek­tri­schen Strom und wirk­lich noch eine Feu­er­stel­le in ihren Lehm­hütt­chen in den Ber­gen haben. Aber die Pati­en­ten kom­men tat­säch­lich aus allen Bun­des­staa­ten Perus. Das hat sich so weit rum­ge­spro­chen, dass Men­schen auch meh­re­re Tage unter­wegs sind, bis sie zu der Ver­sor­gung kom­men. Die Nächs­ten­lie­be auf die­se Wei­se prak­tisch wer­den zu las­sen, mei­nen Glau­ben mit mei­nem Beruf so eng ver­knüp­fen zu kön­nen, das fin­de ich faszinierend.

OT: Wird in Peru auch Impro­vi­sa­ti­ons­ta­lent in der OT-Werk­statt gefor­dert sein oder hält die Tech­nik dem Ver­gleich zu Ihrem gewohn­ten Stan­dard stand?

Haupt: Die gan­zen Maschi­nen sind so, wie ich sie hier auch ken­ne. Manch­mal sogar mehr. Es gibt auch einen 3D-Dru­cker und einen Scan­ner. So kann man sich auch direkt vor Ort in 3D-Gestal­tung und der Umset­zung in die­ser Fer­ti­gung aus­pro­bie­ren. Aber es wird natür­lich auch viel Impro­vi­sa­ti­on hin­zu­kom­men, weil der Pass­teil­be­darf, den man vor Ort hat, ein ganz ande­rer ist. Elek­tro­ni­sche Knie­ge­len­ke zum Bei­spiel machen gar kei­nen Sinn, selbst wenn es finan­zi­ell mög­lich wäre, wenn jemand zu Hau­se kei­nen Strom hat. Abzu­wä­gen, wie wir die best­mög­li­che Ver­sor­gung sicher­stel­len kön­nen, mit den Din­gen, die wir vor Ort haben, das wird die Krea­ti­vi­tät for­dern. Man hat natür­lich den Vor­teil, dass es nicht so hohe büro­kra­ti­sche Ansprü­che wie in Deutsch­land gibt, dadurch hat man ein biss­chen mehr Hand­lungs­spiel­raum. Es wird span­nend sein, wel­che krea­ti­ven Lösun­gen sich trotz­dem mit digi­ta­len Fer­ti­gungs­tech­ni­ken fin­den las­sen. Wer Inter­es­se hat, sich dies im Urlaub live vor Ort anzu­schau­en oder per kur­zem Video­chat ein authen­ti­sches Bild zu bekom­men, der kann mich ger­ne kon­tak­tie­ren (christian.haupt@diospi-suyana.org). Ich den­ke da bei­spiels­wei­se auch an Meis­ter­schu­len: Ich wür­de den Meis­ter­schü­lern ger­ne einen Ein­blick geben, wie in unse­rer heu­ti­gen digi­ta­len Welt Ent­wick­lungs­hil­fe aus­se­hen kann.

OT: Gibt es lan­des­ty­pi­sche Beson­der­hei­ten bei der Behand­lung der Pati­en­ten zu beach­ten? Ist bei der Behand­lung der Pati­en­ten eine beson­de­re Sen­si­bi­li­tät gefragt?

Haupt: Um die sprach­li­che Bar­rie­re gera­de bei älte­ren Men­schen, die wirk­lich nur Quechua kön­nen, über­brü­cken zu kön­nen, braucht man einen Dol­met­scher bei der Ver­sor­gung. Auch in kul­tu­rel­ler Hin­sicht war­ten Her­aus­for­de­run­gen, denn ein gro­ßer Punkt wird es sein, den Men­schen psy­cho­lo­gisch zu hel­fen: Ihr seid nicht Zwei­te-Klas­se-Men­schen und ihr habt genau das glei­che Recht wie alle ande­ren Perua­ner auf eine Ver­sor­gung, mit der ihr best­mög­lich wie­der durch den All­tag gehen könnt. Da braucht es viel Sen­si­bi­li­tät. Die Men­schen dahin­ge­hend zu beglei­ten, dass sie offen wer­den für eine Ver­sor­gung, gera­de dann, wenn sie schon seit vie­len Jah­ren nicht ver­sorgt wur­den. Den ers­ten Schritt in Rich­tung einer Ver­sor­gung zu beglei­ten, das wird sehr span­nend wer­den. Eine wei­te­re lan­des­ty­pi­sche Beson­der­heit: Was in Peru häu­fi­ger zu einer Ampu­ta­ti­on oder zu einer dra­ma­ti­schen Ver­sor­gungs­not­wen­dig­keit führt, sind Ver­bren­nun­gen gera­de von Klein­kin­dern, weil die Men­schen ihr Essen oft noch am offe­nen Feu­er zube­rei­ten. Und dabei gibt es lei­der vie­le Unfälle.

OT: Was wird die größ­te Her­aus­for­de­rung für Sie per­sön­lich werden?

Haupt: Die größ­te Her­aus­for­de­rung für uns aktu­ell ist, in der Kul­tur und in dem Land anzu­kom­men in so einer her­aus­for­dern­den Zeit mit Coro­na. Dort ebbt gera­de die drit­te Wel­le ab, aber trotz­dem sind noch vie­le Ein­schrän­kun­gen da. Das alles in Ein­klang zu brin­gen, sich als Fami­lie gut ein­zu­le­ben, anzu­kom­men im Sprach­li­chen, Kon­tak­te zu knüp­fen mit den Ein­hei­mi­schen – so wie das in der Coro­na-Zeit halt mög­lich ist.

OT: Wie kann man Sie vor Ort unter­stüt­zen? Und was für Sach­spen­den wer­den noch benötigt?

Haupt: Wir sind total dank­bar, dass wir unse­ren Grund­be­darf schon über Spen­den abge­deckt haben. Über alles, was dar­über hin­aus­geht, sind wir natür­lich auch dank­bar, weil das noch wei­te­re Sachen mög­lich macht – wie Pro­jek­te dort ins Leben zu rufen. Sei es noch einen Spiel­platz zu inte­grie­ren oder einen Außen­be­reich zu kon­zi­pie­ren, wo Pati­en­ten auf unter­schied­li­chen Unter­grün­den üben kön­nen. Es wäre schön, sol­che wei­te­ren Din­ge zu eta­blie­ren. Und für die Pro­the­tik sind Knie­ge­len­ke, Fuß­pass­tei­le und alles, was man für einen schö­nen Pro­the­sen­auf­bau benö­tigt, als Sach­spen­den will­kom­men. Für die Orthe­tik sind es Pols­ter­ma­te­ria­li­en für Ein­la­gen­ver­sor­gun­gen oder auch Gelen­ke. Am bes­ten wäre es, mit uns kurz in Kon­takt zu tre­ten, um gemein­sam zu schau­en, was am drin­gends­ten benö­tigt wird. Bei Dio­spi Suya­na wird die best­mög­li­che Ver­sor­gung ange­strebt und auch ver­sucht, den aktu­el­len Qua­li­täts­stan­dard der Ortho­pä­die-Tech­nik umzu­set­zen. Wir schau­en, wel­che Fer­ti­gungs­ver­fah­ren es gibt, die man auch vor Ort gut inte­grie­ren kann. Daher müs­sen wir bei neu­en Anschaf­fun­gen abwä­gen, was umsetz­bar ist und von den Men­schen vor Ort ein­ge­setzt wer­den kann.

OT: Sie haben drei Jah­re in Peru ein­ge­plant. Kön­nen Sie nach Ihrem Auf­ent­halt wie­der in Ihre alte Anstel­lung einsteigen?

Haupt: Das ist noch kom­plett offen. Ich habe mei­ne Meis­ter­stel­le gekün­digt, jedoch sind wir da sehr freund­schaft­lich aus­ein­an­der gegan­gen. Ich bin gespannt, in wel­chem Eck Deutsch­lands wir uns dann wie­der­fin­den werden.

Die Fra­gen stell­te Jana Sudhoff.

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