Nach­weis der Gang­bild­ver­bes­se­rung durch orthe­ti­sche Hilfs­mit­tel mit­tels appa­ra­ti­ver Ganganalyse

J. Wühr, K. Bosch, K. Tiemeyer, U. Hafkemeyer
Im Sozialpädiatrischen Zentrum Westmünsterland (SPZ, Standort Coesfeld) werden seit 2013 umfassende apparative­ Ganganalysen an Kindern durchgeführt. Ziel ist es, mit einer orthopädietechnischen und/oder orthopädieschuhtechnischen Hilfsmittelversorgung das Gangbild der Patienten­ zu verbessern und somit ihre Mobilität im Alltag (Kindergarten, Schule) zu steigern. Da sich die kindliche Motorik und die damit verbundenen Bewegungsabläufe im Wachstum entwickeln und durch verschiedene Einflüsse und Erkrankungen verändern können, ist die Dokumentation und Analyse des Gangbildes ein wesentliches Kriterium für die Auswahl eines geeigneten orthetischen Hilfsmittels. Der Artikel schildert anhand dreier Fallbeispiele, inwiefern adäquate or­thetische Hilfsmittel das Gangbild bei neurologischen Erkrankungen bzw. bei Fußfehlstellungen von Kindern und Jugendlichen positiv beeinflussen.

Ein­lei­tung

Im SPZ West­müns­ter­land stel­len sich regel­mä­ßig schwer- und mehrfach­behinderte Kin­der zur ambu­lan­ten Behand­lung vor. Der Grund­ge­dan­ke des SPZs ist die inter­dis­zi­pli­nä­re Behand­lung die­ser Kin­der. Dazu gehört neben der sozi­al­päd­ia­tri­schen Betreu­ung bei neu­ro­lo­gisch erkrank­ten Kin­dern vor allem die Vor­stel­lung in der Sprech­stun­de für Neu­ro­or­tho­pä­die und Tech­ni­sche Ortho­pä­die. Die­se Sprech­stun­de bie­tet neben der kli­ni­schen Beur­tei­lung auch die Mög­lich­keit der objek­ti­ven appa­ra­ti­ven Gang­ana­ly­se (Pedo­ba­ro­gra­phie, Video- und 3D-Gang­ana­ly­se) zur Doku­men­ta­ti­on und Ana­ly­se von Gang­bild­auf­fäl­lig­kei­ten und zur Über­prü­fung der Wirk­sam­keit orthe­ti­scher Hilfs­mit­tel 1.

Anzei­ge

Unter orthe­ti­schen Hilfs­mit­teln, im Fol­gen­den kurz „Orthe­sen“ genannt, sind im aktu­el­len Bei­trag medi­zi­ni­sche Hil­fen zu ver­ste­hen, die zur Sta­bi­li­sie­rung, Ent­las­tung und/oder Kor­rek­tur der unte­ren Extre­mi­tät ein­ge­setzt wer­den. Sie wer­den im bes­ten Fall hand­werk­lich und indi­vi­du­ell für jeden ein­zel­nen Pati­en­ten durch einen Ortho­pä­die-Tech­ni­ker oder Ortho­pä­die-Schuh­ma­cher her­ge­stellt. Hier­un­ter fal­len zum Bei­spiel sti­mu­lie­ren­de und kor­ri­gie­ren­de Ein­la­gen, ortho­pä­di­sche Innen­schu­he bzw. Maß­schu­he, plant­are Fuß­or­the­sen, Sprung­ge­lenk­or­the­sen und (dyna­mi­sche) Unter- und Oberschenkelorthesen.

Gang­bild­auf­fäl­lig­kei­ten

Zu den im SPZ West­müns­ter­land am häu­figs­ten beob­ach­te­ten Gang­bild­auf­fäl­lig­kei­ten gehören:

  • Innenrotation/erhöhte Außen­ro­ta­ti­on der unte­ren Extremität
  • Vor­fuß­gang in unter­schied­li­cher Ausprägung
  • Kau­er­gang (erhöh­te Knie- und Hüft­fle­xi­on über den gesam­ten Gangzyklus)
  • Duchen­ne- und Trendelenburg-Zeichen

Die Ursa­chen für die­se Sym­pto­me sind viel­fäl­tig – sie rei­chen von einem redu­zier­ten Mus­kel­to­nus auf­grund von Hypo­to­nie oder Läh­mun­gen (z. B. bei Spi­na bifi­da) bis zu einem erhöh­ten Mus­kel­to­nus auf­grund von Spas­ti­ken (z. B. bei infan­ti­ler Zere­bral­pa­re­se). Auch Koor­di­na­ti­ons- und Gleich­ge­wichts­stö­run­gen kön­nen das Gang­bild dahin­ge­hend beein­flus­sen, dass es zu einer deut­li­chen Beein­träch­ti­gung in der Bewe­gungs­ab­fol­ge kommt. Dazu kom­men noch Fehl­stel­lun­gen und Kon­trak­tu­ren der Gelen­ke, z. B. auf Fuß­ni­veau Klump- oder Sichel­fü­ße, die eben­falls Ein­fluss auf das Gang­bild haben.

Für die Ent­schei­dung zur Ver­ord­nung eines bestimm­ten Hilfs­mit­tels wer­den in der Regel die kli­ni­schen Dia­gno­sen, der GMFCS-Level, der Ent­wick­lungs­sta­tus und die aktu­el­le jewei­li­ge Lebens­si­tua­ti­on des Pati­en­ten, aber auch die Akzep­tanz der Orthese(n) im All­tag berück­sich­tigt. Um noch ein wei­te­res objek­ti­ves Kri­te­ri­um zur Hilfs­mit­tel­ent­schei­dung zur Ver­fü­gung zu haben, wer­den im SPZ regel­mä­ßig appa­ra­ti­ve Gang­ana­ly­sen durch­ge­führt. Die­se die­nen dazu, Gang­bild­ver­än­de­run­gen mit und ohne Orthe­sen zu doku­men­tie­ren und zu ana­ly­sie­ren und auf die­se Wei­se im Ver­lauf des Wachs­tums und der Ent­wick­lung der Kin­der deren Ver­sor­gung und die Aus­wahl des ortho­pä­di­schen Hilfs­mit­tels ent­spre­chend anzu­pas­sen 2 3.

Appa­ra­ti­ve Gang­ana­ly­se im SPZ Westmünsterland

Im SPZ wird unter­schied­li­che Mess­tech­nik zur Doku­men­ta­ti­on und Ana­ly­se von Gang­bild­auf­fäl­lig­kei­ten bei Kin­dern genutzt. Die Pedo­ba­ro­gra­phie wird neben der Erfas­sung der Belas­tung des Fußes in der Dyna­mik auch zur Erfas­sung der Fuß­ab­wick­lung (pri­mä­rer Boden­kon­takt, Fer­sen­kon­takt­zeit), der Gangsym­me­trie (Schritt­län­ge, Stand- und Schwung­pha­sen­dau­er) und der Fuß­stel­lung (Innen-/Au­ßen­ro­ta­ti­on) in Bezug auf die Fort­be­we­gungs­rich­tung genutzt. Für die Pedo­ba­ro­gra­phie wird das FDM-Sys­tem der Fir­ma Zebris aus zwei gekop­pel­ten 1,50 m lan­gen Plat­ten genutzt, die plan im Boden ein­ge­las­sen sind.

Die 3D-Gang­ana­ly­se bie­tet eine deut­lich umfang­rei­che­re Aus­wer­tung kine­ma­ti­scher Para­me­ter als die Pedo-baro­gra­phie. Dabei kann zusätz­lich der Ver­lauf der Gelenk­win­kel von z. B. Fuß‑, Knie- und Hüft­ge­len­ken über den gesam­ten Gang­zy­klus erfasst wer­den 4 5 6. Wei­ter­hin kön­nen Boden­re­ak­ti­ons­kräf­te auf­ge­zeich­net und die auf die Gelen­ke wir­ken­den Momen­te berech­net wer­den. Dazu wird das Sys­tem der Fir­ma Vicon mit zehn Infra­rot- und zwei Video­ka­me­ras sowie zwei AMTI-Kraft­mess­plat­ten genutzt.

Die Video-Gang­ana­ly­se kommt bei Pati­en­ten zum Ein­satz, bei denen eine voll­stän­di­ge Unter­su­chung auf­grund man­geln­der Com­pli­ance nicht mög­lich ist. Bei­spie­le dafür sind ein zu jun­ges Alter oder eine höher­gra­di­ge kogni­ti­ve Ein­schrän­kung, die das Anwei­sungs­ver­ständ­nis beein­flus­sen. Auch kör­per­li­che Ein­schrän­kun­gen wie z. B. star­ke Adi­po­si­tas, hoch­gra­di­ge Ata­xien oder eine stark ein­ge­schränk­te freie Geh­fähigkeit über einen län­ge­ren Zeit­raum füh­ren in der Regel zu einer rei­nen Video-Gang­ana­ly­se. Zur Video­do­ku­men­ta­ti­on wer­den die bei­den oben genann­ten Video-Kame­ras (Vicon) ein­ge­setzt; die Aus­wer­tung erfolgt kli­nisch ohne wei­te­re Soft­ware 7 8.

Seit 2013 wur­den so ins­ge­samt fast 2.000 Kin­der gang­ana­ly­tisch unter­sucht. Über­wie­gend han­delt es sich um Ver­laufs­kon­trol­len der Fuß­ent­wick­lung mit­tels Pedo­ba­ro­gra­phie. 3D-Gang­ana­ly­sen wur­den bis­lang an 151 Kin­dern und Video-Gang­ana­ly­sen an 172 Kin­dern durch­ge­führt. In der Regel wer­den pedo­ba­ro­gra­phi­sche Mes­sun­gen alle sechs Mona­te, 3D- und Video-Gang­ana­ly­sen alle 12 bis 24 Mona­te zur Ver­laufs­kon­trol­le wie­der­holt – bei Bedarf auch frü­her, z. B. für die Doku­men­ta­ti­on und Bewer­tung prä- und post­ope­ra­ti­ver Befundänderungen.

Ein­zel­fall­dar­stel­lun­gen

Im Fol­gen­den wer­den anhand drei­er Bei­spie­le die Gang­bild­ver­bes­se­run­gen von drei Pati­en­ten mit ihren indi­vi­du­el­len hand­werk­lich gefer­tig­ten orthe­ti­schen Hilfs­mit­teln vorgestellt.

Bei­spiel 1: Ver­sor­gung mit einer Sprung­ge­lenk­or­the­se (Abb. 1)

Bei der Pati­en­tin han­delt es sich um ein zum Zeit­punkt der Unter­su­chung elf­jäh­ri­ges Mäd­chen mit kon­ge­ni­talem Klump­fuß beid­seits. Bereits im Alter von neun Mona­ten erfolg­te eine dor­sa­le Arthroly­se rechts und eine dor­so­me­dia­le Arthroly­se links mit Ver­län­ge­rung der Achil­les­seh­ne beid­seits. Im Alter von sie­ben Jah­ren wur­de erneut eine z‑förmige Achil­les­seh­nen­ver­län­ge­rung links durch­ge­führt. Aktu­ell wur­de dabei kli­nisch wie­der eine zuneh­men­de Ver­kür­zung der Achil­les­seh­ne dia­gnos­ti­ziert. Die Pati­en­tin ist mit einer hand­werk­lich gefer­tig­ten Sprung­ge­lenk­or­the­se für links ver­sorgt; rechts ist aktu­ell kei­ne Ver­sor­gung indi­ziert. Die Ver­sor­gung wird in Kon­fek­ti­ons­schu­hen genutzt.

In Abbil­dung 2 ist die plant­are Druck­ver­tei­lungs­mes­sung am Bei­spiel drei­er Maxi­mal­druck­bil­der jeweils für den rech­ten und den lin­ken Fuß dar­ge­stellt. Wäh­rend sich rechts ein weit­ge­hend unauf­fäl­li­ges Belas­tungs­mus­ter zeigt, ist links das Belas­tungs­mus­ter vor allem durch die redu­zier­te Belas­tung im Groß­ze­hen­be­reich und die redu­zier­te bzw. feh­len­de Fer­sen­be­las­tung auf­fäl­lig. Die­se ent­steht durch den regel­mä­ßi­gen initia­len Vor­fuß­kon­takt mit retro­gra­der Abrol­lung, den die Pati­en­tin auf der Gang­bahn zeig­te. Je nach Ablen­kung und Stim­mung ist die Pati­en­tin in der Lage, die Fer­se voll zu belas­ten, oder es wird ein rei­ner Vor­fuß­gang mit feh­len­der Fer­sen­be­las­tung beob­ach­tet. Mit der Sprung­ge­lenk­or­the­se ist eine initia­le und regel­mä­ßi­ge Fer­sen­be­las­tung mög­lich (Abb. 3); es kommt zu einer deut­li­chen Anglei­chung an das plant­are Belas­tungs­mus­ter rechts.

Durch die nor­ma­li­sier­te Fuß­ab­wick­lung haben sich auch die kine­ma­ti­schen Gang­pa­ra­me­ter geän­dert. Abbil­dung 4 zeigt exem­pla­risch die Schritt­län­ge (cm) und die Fer­sen­kon­takt­zeit (% des Gang­zy­klus) von ins­ge­samt vier aus­gewerteten Dop­pel­schrit­ten bar­fuß und mit Sprung­ge­lenk­or­the­se. Wäh­rend bar­fuß in der Druck­ver­tei­lungs­mes­sung eine Schritt­län­gen­asym­me­trie berech­net wird, die auf­grund der feh­len­den Fer­sen­be­las­tung und der klump­fü­ßi­gen Fehl­stel­lung des Fußes ver­stärkt wird, wird die­se beim Gehen mit Sprung­gelenkorthese deut­lich redu­ziert. Auch die bar­fuß links deut­lich ver­kürz­te Fer­sen­kon­takt­zeit nor­ma­li­siert sich durch die nun kor­rekt durch­ge­führ­te Fußabwicklung.

Bei­spiel 2: Ver­sor­gung mit dyna­mi­schen Unter­schen­kel-orthe­sen (Abb. 5)

Es han­delt sich um ein zum Zeit­punkt der Unter­su­chung neun­jäh­ri­ges Mäd­chen mit Spi­na bifi­da und funk­tio­nel­lem Spitz-Klump­fuß beid­seits. Bis­lang erfolg­te kei­ne Ope­ra­ti­on der unte­ren Extre­mi­tä­ten. Die Pati­en­tin konn­te bar­fuß mit drei Jah­ren frei lau­fen. Seit ihrem fünf­ten Lebens­jahr wird sie beid­seits mit dyna­mi­schen Unter­schen­kel­or­the­sen in Pre­preg-Tech­nik  9 versorgt.

Abbil­dung 6 zeigt ein Bei­spiel für die kli­ni­sche Ana­ly­se einer Video-­Auf­zeich­nung nach Per­ry bzw. Götz-Neu­mann 10 11. Dar­ge­stellt ist die Gang­pha­se des initia­len Kon­tak­tes bar­fuß und mit dyna­mi­scher Unter­schen­kel­or­the­se für die lin­ke Sei­te. Das kon­tralaterale Bein befin­det sich in der ter­mi­na­len Stand­pha­se. Am Bar­fuß-Bild deut­lich zu erken­nen ist die erhöh­te Knief­le­xi­on links bei pri­mä­rem Kon­takt im late­ra­len Mit­tel­fuß­be­reich, die im wei­te­ren Gang­ab­lauf (ohne Abbil­dung) zu einer feh­len­den bzw. redu­zier­ten Stoß­dämp­fung bei Last­über­nah­me führt. Rechts erkennt man in der ter­mi­na­len Stand­pha­se eine erhöh­te Dorsal­extension im Sprung­ge­lenk mit dar­aus resul­tie­ren­der ver­spä­te­ter Fer­sen­an­he­bung mit nur gerin­gem Fer­sen-Boden-Abstand. Es zeigt sich somit eine redu­zier­te akti­ve Absto­ßung, die hier auch zu einer ver­kürz­ten Schritt­län­ge führt. Die­se Gang­bild­auf­fäl­lig­keit zeigt sich in etwas redu­zier­ter Form auch rechts. Zudem ist bar­fuß eine erhöh­te Becken­vor­nei­gung mit dar­aus resul­tie­ren­der Hyper­lor­do­se ersichtlich.

Mit ange­leg­ten dyna­mi­schen Unter­schen­kel­or­the­sen in Kon­fek­ti­ons­schu­hen gelingt neben einem pri­mä­ren Fer­sen­kon­takt auch eine deut­lich ver­bes­ser­te Knie­stre­ckung, sodass in der fol­gen­den Pha­se der Last­über­nah­me auch eine Fle­xi­on des Knie­ge­len­kes zur Stoß­dämp­fung mög­lich ist, die auch durch­ge­führt wird (ohne Abbil­dung). Die ver­bes­ser­te Fer­sen­an­he­bung rechts erleich­tert die Ver­grö­ße­rung der Schritt­län­ge. Eben­falls ersicht­lich sind die ver­bes­ser­te Becken­auf­rich­tung und damit der Rück­gang der Hyper­lor­do­se sowie eine ver­bes­ser­te Kopfhaltung.

Bei­spiel 3: Ver­sor­gung mit einer Ober­schen­kel­or­the­se (Abb. 7)

Der Pati­ent ist ein zum Zeit­punkt der Unter­su­chung 17-jäh­ri­ger Jun­ge mit bila­te­ra­ler Zere­bral­pa­re­se und Ehlers-Dan­los-Syn­drom. Beid­seits besteht ein dekom­pen­sier­ter Pes pla­n­o­val­gus. Die Ver­sor­gung erfolgt beid­seits mit einer hand­werk­lich gefer­tig­ten Ober­schen­kel­or­the­se, die aus Ober­schen­kel­hül­se, uni­la­te­ra­lem Knie­ge­lenk und dyna­mi­scher Unter­schen­kel­or­the­se in Pre­preg-Tech­nik besteht.

Exem­pla­risch für eine voll­stän­di­ge 3D-Mes­sung sind die Knie­ge­lenk- und Hüft­win­kel in der Sagit­tal­ebe­ne bar­fuß (Abb. 8a u. b) und mit Hilfs­mit­tel (Abb. 9a u. b) dar­ge­stellt. Beim Bar­fuß­gang­bild ist das ein­ge­schränk­te Bewe­gungs­aus­maß der Gelen­ke über den gesam­ten Gang­zy­klus vor allem links beson­ders deut­lich. Im Bereich des Knie­ge­len­kes (Abb. 8a) fällt ins­be­son­de­re die feh­len­de bzw. redu­zier­te Stoß­dämp­fung und die deut­lich redu­zier­te Fle­xi­on in der initia­len Schwung­pha­se auf. Im Bereich der Hüft­ge­len­ke (Abb. 8b) ist die über den gesam­ten Gang­zy­klus deut­lich erhöh­te Fle­xi­on patho­lo­gisch. Das Gang­bild ist zudem ins­ge­samt klein­schrit­tig und auf­fal­lend breit­ba­sig. Mit Orthe­sen wird das gesam­te Gang­bild flüs­si­ger und dyna­mi­scher; Gang­ge­schwin­dig­keit und Schritt­län­ge neh­men deut­lich zu, eben­so das gesam­te Bewe­gungs­aus­maß der Gelen­ke. Die Spur­brei­te wird gleich­zei­tig erheb­lich redu­ziert. Im Bereich der Knie­ge­len­ke (Abb. 9a) zeigt sich beid­seits eine deut­lich ver­bes­ser­te Stoß­dämp­fung und eine fast norm­wer­ti­ge Knief­le­xi­on in der initia­len Schwung­pha­se. Im Bereich der Hüf­ten (Abb. 9b) kommt es auf­grund der erhöh­ten Becken­vor­nei­gung zwar auch mit Orthe­sen zu kei­ner nen­nens­wer­ten Hyper­ex­ten­si­on, aber das Bewe­gungs­aus­maß erhöht sich, und die Sym­me­trie und der Gelenk­win­kel­ver­lauf sind zuneh­mend physiologisch.

Dis­kus­si­on

Anhand die­ser drei Bei­spie­le soll exem­pla­risch gezeigt wer­den, dass ein geeig­ne­tes orthe­ti­sches Hilfs­mit­tel das Gang­bild bei neu­ro­lo­gi­schen Erkran­kun­gen bzw. bei Fuß­fehl­stel­lun­gen posi­tiv beein­flus­sen und in einer Wei­se ver­bes­sern kann, dass dadurch die Mobi­li­tät des Pati­en­ten gestei­gert wird. Sprung­gelenkorthesen zei­gen nach den Erfah­run­gen der Ver­fas­ser die bes­ten Ergeb­nis­se bei Fuß­fehl­stel­lun­gen, wenn ein Fuß noch gut kor­ri­gier­bar ist und ein lan­ger bio­me­cha­ni­scher Hebel nicht benö­tigt wird. Ins­ge­samt ist die Akzep­tanz der „kur­zen“ Orthe­sen meist deut­lich grö­ßer, da eine höhe­re Ver­sor­gung in der Regel auch Ein­schrän­kun­gen der Beweg­lich­keit zur Fol­ge haben kann.

Bei Pati­en­ten mit Spi­na bifi­da bzw. schlaf­fen Läh­mun­gen hat sich in den Unter­su­chun­gen der Ver­fas­ser gezeigt, dass vor allem dyna­mi­sche Unter­schen­kel­or­the­sen in Pre­preg-Tech­nik deut­li­che Gang­bild­ver­bes­se­run­gen ermög­li­chen. Ins­be­son­de­re haben die­se Orthe­sen einen posi­ti­ven Ein­fluss auf die Knie­stre­ckung; durch die fle­xi­ble Feder ist eine fast phy­sio­lo­gi­sche Fuß­ab­wick­lung mög­lich. Auch ist bei die­sen Pati­en­ten die Akzep­tanz der Orthe­sen im All­tag äußerst hoch. Dies ist kli­nisch durch die star­ken Ver­schleiß- und Gebrauchs­spu­ren der Orthe­sen nachvollziehbar.

Bei Pati­en­ten mit CP ist der Ein­fluss der Orthe­sen, ins­be­son­de­re von dyna­mi­schen Unter­schen­kel­or­the­sen, auf das Gang­bild sehr unter­schied­lich, sodass hier die indi­vi­du­el­le ganz­heit­li­che Betrach­tung des Ent­wick­lungs­sta­tus und der jewei­li­gen Lebens­si­tua­ti­on des Pati­en­ten zusätz­lich zur Gang­ana­ly­se not­wen­dig ist, um eine geeig­ne­te Ver­sor­gung zu ermit­teln 12. Die Erfah­rung zeigt, dass vor allem in der Puber­tät orthe­ti­sche Hilfs­mit­tel häu­fig von den Pati­en­ten abge­lehnt wer­den, wenn deren Vor­teil sub­jek­tiv nicht aus­rei­chend ist.

Auch konn­te in der täg­li­chen Arbeit mit den in der Neu­ro­or­tho­pä­die vor­ge­stell­ten Pati­en­ten beob­ach­tet wer­den, dass die Ergeb­nis­se der gang­ana­ly­ti­schen Unter­su­chung nicht immer so ein­deu­tig sind wie in den hier gezeig­ten Bei­spie­len. Das kann bedeu­ten, dass die Orthe­sen tat­säch­lich kei­ne wesent­li­che Ver­bes­se­rung des Gang­bil­des und damit der Mobi­li­tät im All­tag dar­stel­len. Es kann aber auch dar­an lie­gen, dass die Wirk­sam­keit der Orthe­sen sich nicht so sehr in einer Ver­än­de­rung allein in der Dar­stel­lung z. B. der Gelenk­win­kel nie­der­schlägt, son­dern sich viel­mehr in einer Ver­bes­se­rung im All­tag der Pati­en­ten durch ein erhöh­tes Sicher­heits­ge­fühl bemerk­bar macht. Dies wird häu­fig beim Gehen auf unebe­nen Böden oder beim Über­win­den von Hin­der­nis­sen berich­tet, was in der Labor­si­tua­ti­on einer stan­dar­di­sier­ten Gang­ana­ly­se nicht mess­bar ist. Hier ist die inten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Pati­en­ten und dem Team aus Ver­ord­ner und Ver­sor­ger wich­tig, um über die Hilfs­mit­tel­aus­wahl zu entscheiden.

Eine Gang­ana­ly­se, ob kli­nisch oder appa­ra­tiv, ist immer nur eine Moment­auf­nah­me in einer Labor­si­tua­ti­on. Kin­der und Jugend­li­che sind sich der Beob­ach­tung durch einen Arzt bzw. The­ra­peu­ten bewusst und zei­gen nicht immer ihr All­tags­gang­bild. Zudem ist im begrenz­ten Rah­men der ambu­lan­ten Vor­stel­lung beim Kin­der­or­tho­pä­den die Beur­tei­lung des Gang­bil­des nur ein Teil­aspekt der Unter­su­chung und die zeit­li­che Dau­er begrenzt. In der Regel kann bei einer Vor­stel­lung im Gang­labor das Gang­mus­ter der Pati­en­ten über einen etwas län­ge­ren Zeit­raum beob­ach­tet wer­den. So kön­nen unter ande­rem Varia­bi­li­tät und Ver­än­de­run­gen des Gang­bil­des z. B. bei Ermü­dung oder Ablen­kung bes­ser doku­men­tiert wer­den. Die so erhal­te­nen Ergeb­nis­se der Gang­ana­ly­se und der kli­ni­sche Ein­druck wäh­rend der Mes­sung wer­den im Team bespro­chen, sodass mög­lichst umfas­sen­de Kri­te­ri­en zur orthe­ti­schen Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung zur Ver­fü­gung stehen.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Aspekt bei der Beur­tei­lung von Gang­bild­ver­än­de­run­gen durch orthe­ti­sche Hilfs­mit­tel ist die Über­le­gung, ob eine Kor­rek­tur von „oben nach unten“, d. h. vom Kopf zum Fuß, oder eine Kor­rek­tur von „unten nach oben“, d. h. vom Fuß zum Kopf, erfol­gen soll. Denn eine Ver­än­de­rung der Fuß­sta­tik bzw. der Beweg­lich­keit im Sprung­ge­lenk kann sich auf den gan­zen Kör­per aus­wir­ken, wie am Bei­spiel der Spi­na bifi­da gezeigt wer­den konn­te. Wenn das Ein­bre­chen in die Dorsal­extension bei Last­über­nah­me ver­hin­dert wird, kann dadurch eine Stre­ckung im Knie­ge­lenk erzielt wer­den, die bis zu einer ver­bes­ser­ten Ober­kör­per­auf­rich­tung füh­ren kann. Im Gegen­satz dazu kann eine Sta­bi­li­sie­rung im Rumpf (z. B. durch eine Mie­der- oder Kor­sett­ver­sor­gung) Aus­wir­kun­gen auf tie­fer­lie­gen­de Seg­men­te haben. Die kli­ni­sche und appa­ra­ti­ve Gang­ana­ly­se zur orthe­ti­schen Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung ist daher ein sehr umfang­rei­ches Kon­zept, bei dem vor allem die Indi­vi­dua­li­tät des Pati­en­ten beach­tet wer­den muss.

Fazit

Durch geeig­ne­te indi­vi­du­el­le orthe­ti­sche Hilfs­mit­tel kön­nen Gang­bild­ver­bes­se­run­gen erreicht wer­den, die Pati­en­ten eine ver­mehr­te Mobi­li­tät und/oder Sicher­heit in ihrem All­tag bie­ten. Eine appa­ra­ti­ve Gang­ana­ly­se, mit der die­se Ver­än­de­run­gen objek­tiv erfasst und ana­ly­siert wer­den kön­nen, ist daher im SPZ West­müns­ter­land ein wesent­li­cher Bestand­teil der Hilfs­mit­tel­ver­ord­nung geworden.

Für die Autoren:
Dr. rer. nat. Julia­ne Wühr
Gang­ana­ly­se – SPZ Westmünsterland
Chris­to­pho­rus-Kli­ni­ken GmbH
Stand­ort Coesfeld
Süd­ring 41
48653 Coes­feld
juliane.wuehr@christophorus-kliniken.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Wühr J, Bosch K, Tie­mey­er K, Haf­ke­mey­er U. Nach­weis der Gang­bild­ver­bes­se­rung durch orthe­ti­sche Hilfs­mit­tel mit­tels appa­ra­ti­ver Gang­ana­ly­se. Ortho­pä­die Tech­nik, 2018; 69 (3): 36–41
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