„Myo Plus“: inno­va­ti­ves Steu­er­kon­zept für trans­ra­dia­le myo­elek­tri­sche Armprothesen

M. Auer, I. Popovic, S. Amsüß
Für die Etablierung von Elektrohänden in der prothetischen Versorgung der oberen Extremität war die Entwicklung der myoelektrischen Steuerung ein essenzieller Erfolgsfaktor. Die Ansteuerung mehrerer Gelenke sowie die erweiterten funktionellen Möglichkeiten multiartikulierender Prothesenhände bringen die klassische myoelektrische Steuerung mit zwei Elektroden allerdings an ihre Grenzen: Eine sequenzielle Planung und Durchführung von Bewegungsabläufen sowie das Erlernen von Umschaltroutinen zur Ausführung unterschiedlicher Griffmuster sind notwendig.

Neu­ar­ti­ge Lösun­gen wie die Ver­ar­bei­tung der EMG-Infor­ma­ti­on mit Mus­ter­er­ken­nung kön­nen hel­fen, die­se Hür­den zu über­win­den. Ers­te kli­ni­sche Ergeb­nis­se der Steue­rung „Myo Plus“ in der Heim­an­wen­dung zei­gen, dass oft­mals intui­ti­ve Phan­tom­be­we­gun­gen zur Steue­rung meh­re­rer Gelen­ke der Pro­the­se ein­ge­setzt wer­den kön­nen. Wei­te­re Stu­di­en zur Bestä­ti­gung die­ser viel­ver­spre­chen­den Ergeb­nis­se sind angezeigt.

Ein­lei­tung – die kon­ven­tio­nel­le myo­elek­tri­sche Steuerung

Myo­elek­trisch gesteu­er­te Arm­pro­the­sen sind Fremd­kraft­pro­the­sen, deren elek­tro­me­cha­ni­sche Kom­po­nen­ten durch elek­tri­sche Ener­gie bewegt wer­den. Ihre Steue­rung erfolgt über Mus­kel­ak­ti­ons­po­ten­zia­le des Stump­fes. Bei der Kon­trak­ti­on der Stumpf­mus­ku­la­tur lässt sich auf der Haut­ober­flä­che eine elek­tri­sche Span­nung im Mikro­volt-Bereich (1 μV = 1 Mil­li­ons­tel Volt) mes­sen. Die­se kör­per­ei­ge­nen Poten­zia­le wer­den von Elek­tro­den abge­nom­men, ver­stärkt und als Schalt­im­pul­se an einen Elek­tro­mo­tor wei­ter­ge­lei­tet. Die Ent­wick­lung die­ser myo­elek­tri­schen Steue­rung war von essen­zi­el­ler Bedeu­tung für den Erfolg der elek­tri­schen Pro­the­sen­hän­de 1.

Kon­ven­tio­nel­le Steue­rungs­me­tho­den für myo­elek­tri­sche Pro­the­sen der obe­ren Extre­mi­tät basie­ren auf der Ver­ar­bei­tung der Signa­le von ein bis zwei Elek­tro­den. Dabei steu­ert ein(e) Muskel(gruppe) genau eines der Signa­le, das in der Pro­the­se direkt in eine Bewe­gung über­setzt wird. Sol­len mehr Funk­tio­nen kon­trol­liert wer­den, als Elek­tro­den vor­han­den sind, setzt man unter­schied­li­che Schalt­me­cha­nis­men ein, um von einer Funk­ti­on zur nächs­ten zu gelan­gen. Um der wach­sen­den Zahl ansteu­er­ba­rer Pro­the­sen­funk­tio­nen wie z. B. unter­schied­li­chen Griff­ar­ten gerecht zu wer­den, wur­den in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ergän­zen­de Steu­er­me­tho­den auf den Markt gebracht.

Was ist Mustererkennung?

Anstatt einer oder zwei­er Elek­tro­den auf indi­vi­du­ell selek­tier­ten Mus­kel­grup­pen wird bei Pro­the­sen mit Mus­ter­er­ken­nung eine Viel­zahl von Elek­tro­den ver­wen­det: In der Regel wer­den 6 bis 10 Elek­tro­den ein­ge­setzt und in gleich­mä­ßi­gen Abstän­den um den Stumpf ver­teilt. Dadurch kön­nen nicht nur ein­zel­ne, son­dern (fast) alle Mus­kel­si­gna­le gleich­zei­tig erfasst wer­den; die Bestim­mung der kor­rek­ten Elek­tro­den­po­si­ti­on über Myo-Tests ent­fällt. Der Anwen­der führt mit sei­ner Phan­tom­hand eine Rei­he unter­schied­li­cher Bewe­gun­gen aus wie „Hand öff­nen“, „Hand schlie­ßen“, „Pro­na­ti­on“ etc.; oft las­sen sich auch wil­lent­lich ein­zel­ne Fin­ger bewe­gen. Bei jeder die­ser gedach­ten Bewe­gun­gen mit der Phan­tom­hand wird ein ganz cha­rak­te­ris­ti­sches Zusam­men­spiel der Mus­keln im Stumpf aktiv; es ent­steht ein indi­vi­du­el­les Aktivitätsmuster.

Genau die­sen Effekt nutzt die Mus­ter­er­ken­nung: Anstatt nur ein­zel­ne Mus­keln iso­liert zu betrach­ten, wer­den bei der Mus­ter­er­ken­nung gan­ze Mus­kel­ak­ti­vi­täts­mus­ter ana­ly­siert. Dadurch lässt sich eine fei­ne­re, selek­ti­ve­re und oft­mals intui­ti­ve­re Steue­rung der Pro­the­se umset­zen. Die­se Mus­ter sind bei jedem Men­schen zumin­dest leicht unter­schied­lich und vari­ie­ren noch stär­ker bei Per­so­nen mit einer Ampu­ta­ti­on, da die ana­to­mi­schen Unter­schie­de ver­let­zungs- und ope­ra­ti­ons­be­dingt grö­ßer sind.

Wie kann die Mus­ter­er­ken­nung die Akti­vi­täts­mus­ter den Arm- und Hand­be­we­gun­gen zuord­nen? Dazu muss jede Mus­ter­er­ken­nung indi­vi­du­ell an den Anwen­der ange­passt wer­den. Dies geschieht wäh­rend einer Trai­nings­pha­se. Dar­in wird der Anwen­der auf­ge­for­dert, eine Rei­he von Bewe­gun­gen in vor­de­fi­nier­ter Rei­hen­fol­ge und Dau­er durch­zu­füh­ren. Die­se Auf­for­de­rung kann zum Bei­spiel über ein Com­pu­ter­pro­gramm, eine Smart­phone-App oder die Pro­the­se selbst erfol­gen (die­se bewegt sich dabei, und der Anwen­der imi­tiert die aus­ge­führ­te Bewe­gung). Da der Bewe­gungs­ab­lauf vor­de­fi­niert ist, weiß die Mus­ter­er­ken­nung in die­ser Pha­se genau, wel­ches Mus­kel­ak­ti­vie­rungs­mus­ter mit wel­cher Pro­the­sen­be­we­gung kor­re­spon­diert. Die­ser Vor­gang wird eini­ge Male wie­der­holt, um die Varia­bi­li­tät der Mus­kel­ak­ti­vie­rung abzu­bil­den. In die­ser Anpas­sungs­pha­se „lernt“ die Mus­ter­er­ken­nung also, eine Zuord­nung von „Mus­kel­ak­ti­vie­rung X“ zu „Pro­the­sen­be­we­gung Y“ her­zu­stel­len. Nach abge­schlos­se­ner Anpas­sungs­pha­se ist in der Mus­ter­er­ken­nung die­se Zuord­nung fest gespei­chert. Führt der Pro­the­sen­an­wen­der nun „Mus­kel­ak­ti­vie­rung X“ aus, so ver­gleicht die Mus­ter­er­ken­nung inner­halb weni­ger Mil­li­se­kun­den alle gespei­cher­ten Mus­kel­ak­ti­vie­rungs-zu-Pro­the­sen­be­we­gungs-Paa­re und führt die kor­re­spon­die­ren­de „Pro­the­sen­be­we­gung  Y“ aus.

Was bedeu­tet das in der Pra­xis? Wäh­rend der Anpas­sungs­pha­se wird der Pro­the­sen­an­wen­der bei­spiels­wei­se dazu auf­ge­for­dert, ein Mus­ter für „Öff­nen der Pro­the­sen­hand“ aus­zu­füh­ren. Er führt dazu mit sei­ner Phan­tom­hand eine Bewe­gung aus, die dem Stre­cken der Fin­ger ent­spricht; die Mus­keln in sei­nem Stumpf span­nen sich dabei ent­spre­chend an. Zukünf­tig kann der Anwen­der also gedank­lich mit sei­ner Phan­tom­hand die Fin­ger stre­cken, und die Pro­the­sen­hand wird sich dabei öff­nen. Das­sel­be gilt zum Bei­spiel für das gedach­te Beu­gen von Zei­ge- und Mit­tel­fin­ger für das Schlie­ßen der Pro­the­se etc.

Dadurch wird ersicht­lich: Je nach Fähig­keit und Vor­lie­be des Anwen­ders kön­nen unter­schied­lichs­te Bewe­gungs­mus­ter ver­wen­det wer­den, um die Pro­the­se zu steu­ern. Essen­zi­ell ist dabei nur, dass die Zuord­nung von gedach­ter Bewe­gung zu Pro­the­sen­be­we­gung für den Anwen­der ein­deu­tig ist und daher immer wie­der mit glei­cher Qua­li­tät repro­du­ziert wer­den kann, sowie klar von­ein­an­der trenn­ba­re Mus­ter. Je nach den Fähig­kei­ten des Anwen­ders kön­nen so oft vier, fünf oder sogar acht ver­schie­de­ne Mus­ter für die Pro­the­sen­steue­rung ver­wen­det wer­den statt zwei wie bei der her­kömm­li­chen Steue­rung. Die­se Fähig­kei­ten hän­gen dabei von unter­schied­li­chen Fak­to­ren ab: von der Ursa­che für das Feh­len der Glied­ma­ße (Ampu­ta­ti­on oder ange­bo­re­ne Fehl­bil­dung), von der Stumpf­län­ge, von der Zeit seit der Ampu­ta­ti­on, von ana­to­mi­schen Ver­än­de­run­gen durch die Ampu­ta­ti­on und von Ope­ra­tio­nen, um nur eini­ge zu nennen.

„Myo Plus“: Mus­ter­er­ken­nung in der pro­the­ti­schen Versorgung

„Myo Plus“ ist ein Pro­dukt von Otto­bock, das das Prin­zip der Mus­ter­er­ken­nung für die Pro­the­sen­steue­rung der bebio­nic-Hand und des Myo-Bock-Sys­tems ein­setzt (Abb. 1). „Myo Plus“ besteht dabei aus einer zen­tra­len Steue­rungs­ein­heit („Myo Plus TR“), bis zu acht spe­zi­ell für die­se Anwen­dung ent­wi­ckel­ten Elek­tro­den sowie einer Ein­stell-App, der Myo-Plus-App.

Die zen­tra­le Steue­rungs­ein­heit „Myo Plus TR“

„Myo Plus TR“ (TR für trans­ra­di­al) ist das Herz­stück des Myo-Plus-Sys­tems (Abb. 2). Es ver­ar­bei­tet die erfass­ten Mus­kel­si­gna­le von bis zu acht Elek­tro­den, führt mit die­sen Daten die Mus­ter­er­ken­nung durch und steu­ert die ange­schlos­se­nen Pro­the­sen­kom­po­nen­ten. Die Aktua­li­sie­rung der Bewe­gungs­kom­man­dos an die Pro­the­se erfolgt dabei 40 Mal pro Sekun­de. Außer­dem ermög­licht „Myo Plus TR“ die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Pro­the­se und Einstell-App.

Remo­te-Elek­tro­den

Die Remo­te-Elek­tro­den erfas­sen die Mus­kel­si­gna­le der im Stumpf befind­li­chen Mus­ku­la­tur. Die Signa­le wer­den spe­zi­ell für die Mus­ter­er­ken­nung auf­be­rei­tet und dann an das Myo-Plus-TR-Sys­tem gelei­tet. Da eine Viel­zahl von Elek­tro­den im Schaft unter­ge­bracht wer­den muss, wur­de die Remo­te-Elek­tro­de auf ein beson­ders fla­ches Design hin opti­miert (Abb. 3). Zwei erhält­li­che Kabel­län­gen ermög­li­chen sowohl bei kür­ze­ren als auch bei län­ge­ren Stümp­fen kos­me­tisch hoch­wer­ti­ge Versorgungen.

Myo-Plus-Ein­stell-App

Wie oben erläu­tert, ist die Anpas­sungs­pha­se ein wich­ti­ger Schritt, damit das Sys­tem die indi­vi­du­el­len Mus­kel­ak­ti­vi­täts­mus­ter des Anwen­ders „erler­nen“ kann. Bei „Myo Plus“ wird hier­zu eine Ein­stell-App ver­wen­det. Die­se wird auf einem Tablet oder Smart­phone instal­liert und per Blue­tooth® mit der Myo-Plus-TR-Steue­rungs­ein­heit in der Pro­the­se verbunden.

Die Ein­stell-App visua­li­siert die gemes­se­nen Bewe­gungs­mus­ter und ermög­licht dem Ortho­pä­die-Tech­ni­ker die Anpas­sung der Pro­the­sen­steue­rung. Der Anwen­der kann anschlie­ßend die­sen Vor­gang selbst­stän­dig beglei­ten und wei­te­re Anpas­sun­gen vor­neh­men. Die Visua­li­sie­rung der Mus­kel­ak­ti­vi­tät hilft dem Anwen­der, sei­ne indi­vi­du­el­len Mus­ter zu trai­nie­ren, um sie noch geziel­ter abru­fen zu können.

Myo-Man­schet­te als Erpro­bungs- und Trainingswerkzeug

Die Myo-Man­schet­te (Abb. 4) beinhal­tet alle Kom­po­nen­ten des Myo-Plus-Sys­tems und passt für die meis­ten Stumpf­ge­ge­ben­hei­ten (Aus­nah­me: ultra­kur­ze Stümp­fe). Sie ermög­licht eine ers­te Sys­tem­pro­be, noch bevor ein Pro­the­sen­schaft auf­wen­dig gefer­tigt wer­den muss. Dadurch las­sen sich War­te­zei­ten mit effek­ti­vem Trai­ning über­brü­cken, es kön­nen ers­te Taug­lich­keits­tests und Ana­ly­sen durch­ge­führt wer­den, und das Prin­zip der Mus­ter­er­ken­nung kann anschau­lich erklärt wer­den. Die Myo-Man­schet­te wird um den Stumpf getra­gen und mit der App ver­bun­den. Man kann dann sämt­li­che Ver­sor­gungs­sze­na­ri­en durch­spie­len und zum Bei­spiel Signal­qua­li­tät und ‑wie­der­hol­bar­keit ana­ly­sie­ren, Funk­tio­nen prü­fen sowie eine Aus­wer­tung erstellen.

Schaft­bau

Bei kon­ven­tio­nel­len Sys­te­men wer­den nur zwei Elek­tro­den im Schaft ver­baut; bei der Mus­ter­er­ken­nung mit „Myo Plus“ dage­gen wer­den bis zu acht Elek­tro­den benö­tigt – wie wird dies bewerk­stel­ligt? Um den Ein­bau im Schaft, einen ver­läss­li­chen Haut­kon­takt sowie eine gerin­ge Auf­bau­hö­he zu gewähr­leis­ten, wur­de ein neu­es Elek­tro­den­kon­zept ver­wirk­licht: Anders als bei her­kömm­li­chen Elek­tro­den, in denen übli­cher­wei­se Haut­kon­tak­te und Elek­tro­nik in einem Gehäu­se ver­eint sind, wur­den die­se Kom­po­nen­ten bei den Myo-Plus-Elek­tro­den getrennt. Die Haut­kon­tak­te wer­den per Kabel aus dem Gehäu­se gelei­tet (daher die Bezeich­nung „Remo­te-Elek­tro­de“). Dadurch ist es nicht not­wen­dig, für jede Elek­tro­de ein Fens­ter in den Pro­the­sen-Innen­schaft zu schnei­den bzw. zu schlei­fen – es reicht aus, ein ent­spre­chen­des Loch zu boh­ren, die Kon­tak­te hin­durch­zu­ste­cken und fest­zu­schrau­ben. Die Haut­kon­tak­te der Remo­te-Elek­tro­de ver­fü­gen über eine 5‑mm-Gewin­de­mut­ter.

Die emp­foh­le­ne Plat­zie­rung der Elek­tro­den­kon­tak­te kann mit Hil­fe eines im Lie­fer­um­fang ent­hal­te­nen elas­ti­schen Posi­tio­nier­ban­des ermit­telt wer­den. Die­ses wird auf den Pro­the­sen-Innen­schaft auf­ge­zo­gen. Für die Haut­kon­tak­te selbst wer­den pilz­för­mi­ge Dome aus Titan ein­ge­setzt. Die­se sind in drei unter­schied­li­chen Höhen ver­füg­bar, um Volu­men­schwan­kun­gen und unter­schied­li­che Weich­teil­de­ckun­gen des Stump­fes aus­glei­chen zu kön­nen. Um die Elek­tro­nik der Elek­tro­den ein­fa­cher im Schaft unter­brin­gen zu kön­nen, sind die­se für eine opti­ma­le Anpas­sung und Raum­nut­zung bei unter­schied­li­chen Stumpf­ver­hält­nis­sen mit zwei unter­schied­li­chen Kabel­län­gen ver­füg­bar. Durch ein stark ver­bes­ser­tes Bluetooth®-Modul kann die Myo-Plus-TR-Steue­rungs­ein­heit belie­big im Schaft plat­ziert wer­den, auch wenn Car­bon als Außen­schaft­ma­te­ri­al ver­wen­det wird. Trotz all die­ser Opti­mie­run­gen bleibt aller­dings der Nach­teil bestehen, dass mehr Kom­po­nen­ten als bei einem kon­ven­tio­nel­len Sys­tem in der Pro­the­se unter­zu­brin­gen sind. Es ist daher immer indi­vi­du­ell vom Ortho­pä­die-Tech­ni­ker zu beur­tei­len, ob die Stumpf­ver­hält­nis­se und das zu erwar­ten­de kos­me­ti­sche Ergeb­nis eine Ver­sor­gung mit „Myo Plus“ erlauben.

Trai­ning

Wie bei jeder Ein­ge­wöh­nung an etwas Neu­es bedarf es auch bei einem Mus­ter­er­ken­nungs­sys­tem einer Trai­nings­pha­se zum Erler­nen der Hand­ha­bung. Der Pro­the­sen­an­wen­der muss ler­nen, sämt­li­che Akti­vie­rungs­mus­ter prä­zi­se in allen Lebens­la­gen zu repro­du­zie­ren. Außer­dem ist es not­wen­dig, dass die Mus­ter unter­schied­lich genug sind, um von der Steue­rung iden­ti­fi­ziert wer­den zu kön­nen. Um die Trai­nings­pha­se zu erleich­tern und um Ein­blick in die Form der Akti­vie­rungs­mus­ter zu geben, ver­fügt die Myo-Plus-App über eine Anzei­ge der erfass­ten Signa­le. Die­se wer­den radi­al in einem Netz­dia­gramm, dem soge­nann­ten Spi­der­plot, dar­ge­stellt (Abb. 5). Die Anzei­ge der Mus­kel­ak­ti­vi­tät in Echt­zeit erlaubt dem Anwen­der, die Erzeu­gung ein­deu­ti­ger Mus­ter zu trai­nie­ren und die bereits gespei­cher­ten Mus­ter mit sei­nen aktu­el­len zu ver­glei­chen. Stimmt ein gewoll­tes Mus­ter nicht mit jenem über­ein, das im Myo-Plus-Sys­tem gespei­chert ist, so kann ent­we­der die Aus­übung der Mus­kel­kon­trak­tio­nen trai­niert und ver­fei­nert oder die gespei­cher­te Form der Bewe­gun­gen mit einer erneu­ten Anpas­sungs­pha­se opti­miert wer­den. Die Ein­stell-App bie­tet somit eine bei kon­ven­tio­nel­len Sys­te­men nicht bekann­te Mög­lich­keit, die Trai­nings­pha­se der Pro­the­sen­steue­rung zu begleiten.

Stu­di­en­ergeb­nis­se

In den Jah­ren 2016/2017 wur­de eine kli­ni­sche Stu­die mit einer ers­ten, nicht kom­mer­zi­ell ver­füg­ba­ren Ver­si­on des Myo-Plus-Sys­tems durch­ge­führt. Ins­ge­samt wur­den 9 Pro­ban­den in die Stu­die auf­ge­nom­men (Geschlecht: 7 männ­lich, 2 weib­lich; Alter: Ø 46 Jah­re; Jah­re seit Ampu­ta­ti­on: Ø 12; Ursa­che: 8 Trau­ma, 1 Dys­me­lie). Alle Pro­ban­den waren mit myo­elek­tri­schen Pro­the­sen mit kon­ven­tio­nel­ler Steue­rung ver­sorgt. Die fol­gen­den Out­co­me-Mes­sun­gen wur­den durchgeführt:

  • modi­fi­zier­ter Box-and-Block-Test,
  • stan­dar­di­sier­ter Wäsche­klam­mer-Test sowie
  • der Fra­ge­bo­gen „Disa­bi­li­ties of the Arm, Should­er and Hand“ (DASH).

Die Mes­sun­gen wur­den zunächst mit der kon­ven­tio­nel­len Steue­rung („Kon­ven­tio­nel­le Steue­rung Base­line“), im Anschluss mit dem Myo-Plus-Sys­tem nach Ver­sor­gung und Trai­ning („Myo Plus Fol­low-up 1“), mit dem Myo-Plus-Sys­tem nach 4 Wochen Heim­an­wen­dung („Myo Plus Fol­low-up 2“) und dann wie­der mit der kon­ven­tio­nel­len Steue­rung („Kon­ven­tio­nel­le Steue­rung Stu­di­en­en­de“) durch­ge­führt. 8 der 9 Pati­en­ten absol­vier­ten die mini­ma­le Test­zeit von einem Monat per Heim­nut­zung des Sys­tems; ein Pati­ent schied auf­grund gesund­heit­li­cher Pro­ble­me vor­zei­tig aus 2. Alle Teil­neh­mer wur­den beim ers­ten Besuch zufrie­den­stel­lend mit der Mus­ter­er­ken­nungs­pro­the­se ver­sorgt. Der gesam­te Anpas­sungs- und Trai­nings­pro­zess wur­de als „klar“ oder „leicht unklar“ ein­ge­stuft, ohne oder mit leich­ten Schwie­rig­kei­ten, den Anwei­sun­gen zu fol­gen (Anpas­sungs­pro­zess-Fra­ge­bo­gen: mitt­le­re Punkt­zahl 1,7 ± 0,24; Trai­nings­pro­zess-Fra­ge­bo­gen: mitt­le­re Punkt­zahl 1,8 ± 0,82; Ska­la von 1 (sehr gut) bis 5 (sehr schlecht)) 2.

Wäh­rend bei ein­fa­chen Auf­ga­ben mit Ansteue­rung eines Frei­heits­gra­des der Pro­the­se kei­ne Ver­bes­se­rung mit Mus­ter­er­ken­nung fest­ge­stellt wer­den konn­te (modi­fi­zier­ter Box-and-Block-Test), konn­te die Fähig­keit, zwei Frei­heits­gra­de zu kon­trol­lie­ren („Hand öffnen/schließen“ und „Hand­ge­lenk­dre­hung“) beim stan­dar­di­sier­ten Wäsche­klam­mer-Test ver­bes­sert wer­den. Bei die­sem Test müs­sen im ers­ten Durch­gang 3 Wäsche­klam­mern von 3 hori­zon­ta­len Stan­gen auf eine ver­ti­ka­le, höher lie­gen­de Stan­ge über­tra­gen wer­den. Im zwei­ten Durch­gang müs­sen die 3 Klam­mern von der ver­ti­ka­len zurück auf die 3 hori­zon­ta­len Stan­gen trans­fe­riert wer­den. Der Trans­port der Wäsche­klam­mern von den hori­zon­ta­len zur ver­ti­ka­len Stan­ge wur­de bei den Teil­neh­mern mit erwor­be­ner ein­sei­ti­ger trans­ra­dia­ler Ampu­ta­ti­on, die eine akti­ve Hand­ge­lenks­ro­ta­ti­on ver­wen­de­ten, um 21 % ver­bes­sert (durch­schnitt­lich 7,0 s kür­zer). Der Trans­fer von der ver­ti­ka­len zu den hori­zon­ta­len Stan­gen ver­bes­ser­te sich um 37 % (durch­schnitt­lich 14,0 s kür­zer) im Ver­gleich zur initia­len Mes­sung mit kon­ven­tio­nel­lem Steue­rungs­sys­tem (Abb. 6). Die Ergeb­nis­se mit der kon­ven­tio­nel­len Steue­rung sind zu Beginn und am Ende der Stu­die sehr ähn­lich. Das zeigt, dass die Ver­bes­se­rung nicht nur durch das Erler­nen der Auf­ga­ben­stel­lung erfolg­te 2.

Im DASH-Fra­ge­bo­gen wer­den unter­schied­li­che Aspek­te zur Lebens­qua­li­tät von Per­so­nen mit Ein­schrän­kun­gen der obe­ren Extre­mi­tät bewer­tet. Die Ampu­tier­ten berich­te­ten in die­ser Stu­die über 50 % Ver­bes­se­rung mit Mus­ter­er­ken­nung beim DASH-Arbeits­mo­dul. Dage­gen war der Gesamt­wert für DASH und das DASH-Sports/­Per­forming-Arts-Modul im Durch­schnitt bei bei­den Steue­rungs­va­ri­an­ten ähn­lich 2.

Fazit

Bei der pro­the­ti­schen Ver­sor­gung der obe­ren Extre­mi­tät ist die Ver­wen­dung von Elek­tro­m­yo­gra­phie (EMG) Stand der Tech­nik zur Steue­rung fremd­kraft­be­tä­tig­ter Pro­the­sen. In der Regel wer­den zwei Ober­flä­chen-EMG-Elek­tro­den im Pro­the­sen­schaft ver­baut. Die von den Elek­tro­den auf­ge­zeich­ne­ten neu­ro­na­len Infor­ma­tio­nen wer­den zur Steue­rung diver­ser Frei­heits­gra­de ver­wen­det, z. B. zur Außen- und Innen­ro­ta­ti­on im Hand­ge­lenk sowie zum Öff­nen und Schlie­ßen der Handprothese.

Mul­ti­ar­ti­ku­lie­ren­de Pro­the­sen­hän­de haben die Gren­zen der myo­elek­tri­schen Pro­the­sen­ver­sor­gung wei­ter nach oben ver­scho­ben: Ein­zeln beweg­li­che Fin­ger eröff­nen neue Funk­tio­nen und las­sen die Hand natür­li­cher wir­ken. Die Viel­zahl von Griff­mög­lich­kei­ten bedeu­tet aller­dings eine neue Her­aus­for­de­rung bezüg­lich der Ansteue­rung für den Anwen­der, bei der die kon­ven­tio­nel­le Steue­rung mit zwei Elek­tro­den an ihre Gren­zen stößt. Mit dem Ein­satz von Mus­ter­er­ken­nung ermög­licht die Myo-Plus-Steue­rung erst­mals die direk­te und intui­ti­ve Ansteue­rung ein­zel­ner Grif­fe der bebio­nic-Hand ohne Umschal­ten. Dies erlaubt es, das Poten­zi­al der mul­ti­ar­ti­ku­lie­ren­den Hand bes­ser aus­zu­schöp­fen. Ers­te kli­ni­sche Ergeb­nis­se zei­gen, dass die Myo-Plus-Steue­rung außer­dem bei der Ansteue­rung zwei­er Gelen­ke (Öff­nen und Schlie­ßen der Hand sowie Hand­ge­lenk­ro­ta­ti­on) eine mess­ba­re Ver­bes­se­rung lie­fern kann.

Für die Autoren:
Dipl.-Ing. (FH) Micha­el Auer
Pro­duct Manager
Stra­te­gic Mar­ke­ting Unit Upper Limb Prosthetics
Otto Bock Aus­tria Gesell­schaft m.b.H.
Brehm­stra­ße 16, A‑1110 Wien
michael.auer@ottobock.com

Begut­ach­te­ter Beitrag/Reviewed paper

Zita­ti­on
Auer M., Popo­vic I., Amsüß S. „Myo Plus“: inno­va­ti­ves Steu­er­kon­zept für trans­ra­dia­le myo­elek­tri­sche Arm­pro­the­sen. Ortho­pä­die Tech­nik, 2019; 70 (8): 30–34

 

  1. Näder HG (Hrsg.), Mil­de L. Otto Bock Pro­the­sen-Kom­pen­di­um. Pro­the­sen für die obe­re Extre­mi­tät. Duder­stadt: Otto Bock Health­Ca­re Group, 2011
  2. Amsüß S, Popo­vic I, Bischof B, Fuchs­ber­ger T, Hahn A. Bio­feed­back Trai­ning for Pat­tern Reco­gni­ti­on Results in Bet­ter Pro­sthe­tic Con­trol. [Pos­ter Pre­sen­ta­ti­on] AOPA Natio­nal Assem­bly, Van­cou­ver, Sep 26–28, 2018
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