Aus­lands­er­fah­rung sammeln

„Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen. Drum nähme ich den Stock und Hut und tät das Reisen wählen.“ Dieses Zitat wird dem deutschen Dichter Matthias Claudius (1740-1815) zugeschrieben. Damit junge Handwerker:innen im Jahr 2022 nicht nur etwas erzählen, sondern vor allem einen anderen Blick auf ihren Beruf bekommen, gibt es das Programm „Go.for.europe“.

Es ist ein Gemein­schafts­pro­jekt der baden-würt­tem­ber­gi­schen Wirt­schaft – des Baden-Würt­tem­ber­gi­schen Hand­werks­tags e. V., des Baden-Würt­tem­ber­gi­schen Indus­trie-und Han­dels­kam­mer­tags e. V. und des Ver­bands der Metall- und Elek­tro­in­dus­trie Baden-Würt­tem­berg e. V. (Süd­west­me­tall) – und ermög­licht Aus­zu­bil­den­den für vier Wochen ins Aus­land zu gehen. Wie das Pro­jekt funk­tio­niert, wie Arbeitgeber:innen und Aus­zu­bil­den­de sich bewer­ben kön­nen und wei­te­re Fra­gen hat die OT-Redak­ti­on im Gespräch mit Moni­ka Flack, Pro­jekt­lei­te­rin „Go.for.europe“ beim Baden-Würt­tem­ber­gi­schen Hand­werks­tag, gestellt.

OT: War­um soll­ten jun­ge Handwerker:innen ins euro­päi­sche Aus­land, um dort zu arbeiten?

Moni­ka Flack: Der Auf­ent­halt im Aus­land erwei­tert in aller­ers­ter Linie den Hori­zont der jun­gen Leu­te. Sie kön­nen ihre erlern­ten Fähig­kei­ten in einem neu­en Kon­text anwen­den und mer­ken dabei oft, wie viel sie selbst bereits beruf­lich kön­nen. Zudem hilft ein Aus­lands­auf­ent­halt, die Brei­te des eige­nen Berufs­fel­des zu erken­nen. Oft lernt man in der dua­len Aus­bil­dung beson­ders die Spe­zia­li­sie­rung des eige­nen Betrie­bes sowie die dort ange­wen­de­ten Metho­den ken­nen. Ein Aus­lands­prak­ti­kum ermög­licht es, eine ganz ande­re Per­spek­ti­ve auf Metho­den und Lösungs­an­sät­ze im eige­nen Berufs­feld zu bekommen.

Unse­re Auf­ent­hal­te erstre­cken sich tat­säch­lich nur über die Dau­er von vier Wochen. Da im Rah­men des Berufs­bil­dungs­ge­set­zes wäh­rend der Aus­bil­dung ein Aus­lands­prak­ti­kum nur in bezahl­ter Frei­stel­lung absol­viert wer­den darf, sind län­ge­re Auf­ent­hal­te wäh­rend der Aus­bil­dung aus betrieb­li­cher Sicht nicht realisierbar.

Aller­dings ist Eras­mus genau dar­auf auch ange­passt und ermög­licht eben­falls aus­ge­lern­ten Gesell:innen bis zu zwölf Mona­te nach Abschluss ihrer Aus­bil­dung ein Aus­lands­prak­ti­kum zu absol­vie­ren. Ande­re Pro­jek­te, zu denen die Ser­vice­stel­le Go.for.europe baden-würt­tem­ber­gi­sche Azu­bis eben­falls bera­ten kann, bie­ten genau sol­che Auf­ent­hal­te an. Nach der Berufs­aus­bil­dung kann ein Betrieb den oder die Jung­ge­sel­len/-in auch unbe­zahlt für eine sol­che Erfah­rung frei­stel­len. Beson­ders für klei­ne­re Betrie­be ist es damit leich­ter mög­lich, ihren jun­gen Pro­fis solch eine Erfah­rung zu ermöglichen.

OT: Und aus der Per­spek­ti­ve der Arbeitgeber:innen: War­um­soll­te ich mei­ne Nach­wuchs­kräf­te gehen lassen?

Flack: In Zei­ten des Fach­kräf­te­man­gels fällt es vie­len Betrie­ben zuneh­mend schwer, adäqua­te Bewerber:innen für ihre Aus­bil­dungs­plät­ze zu fin­den. Das ist im Hand­werk nicht anders als in der Indus­trie. Auch der Aka­de­mi­sie­rungs­trend tut sein Übri­ges. Des­halb müs­sen Betrie­be sich über­le­gen, wie sie die dua­le Aus­bil­dung für jun­ge Leu­te attrak­tiv gestal­ten. Aus­lands­auf­ent­hal­te sind im Stu­di­um kom­plett nor­mal – war­um soll­te man das nicht also auch in der dua­len Aus­bil­dung zum Stan­dard machen? Die jun­gen Leu­te kom­men mit einem erwei­ter­ten Hori­zont und bes­se­rem beruf­li­chen Selbst­be­wusst­sein zurück. In der Regel haben sie auch ihre Selbst­stän­dig­keit erwei­tert und füh­len sich neu­en Her­aus­for­de­run­gen eher gewach­sen. Beson­ders Betrie­be, die aus­bil­den, um sich selbst die Fach­kräf­te für die Zukunft „her­an­zu­zie­hen“, kön­nen hier also nur gewin­nen. Es ist aller­dings eine Inves­ti­ti­on: Ein sol­ches Aus­lands­prak­ti­kum ist auf Grund­la­ge des Berufs­bil­dungs­ge­set­zes nur in bezahl­ter Frei­stel­lung möglich.

OT: Wel­che Vor­aus­set­zun­gen müs­sen die jun­gen Men­schen mitbringen?

Flack: Bewerber:innen soll­ten eine Offen­heit für die neue Kul­tur, Lei­den­schaft für den eige­nen Beruf und Inter­es­se dar­an mit­brin­gen, etwas Neu­es zu ler­nen. Auch einen gewis­sen Grad an Fle­xi­bi­li­tät braucht es – im Aus­land läuft vie­les ein biss­chen anders als zu Hau­se. Aller­dings wer­den sich Fle­xi­bi­li­tät und Ambi­gui­täts­to­le­ranz auch wäh­rend des Auf­ent­hal­tes wei­ter­ent­wi­ckeln. Mut, in einer Fremd­spra­che zu kom­mu­ni­zie­ren ist natür­lich auch von Nöten. In der Regel sind die eige­nen Eng­lisch- und/ oder Spa­nisch­kennt­nis­se deut­lich bes­ser, als die meis­ten Teilnehmer:innen von sich glauben.

OT: Wie kön­nen sich inter­es­sier­te Aus­zu­bil­den­de bewerben?

Flack: Für die Bewer­bung benö­ti­gen wir ein aus­sa­ge­kräf­ti­ges Moti­va­ti­ons­schrei­ben auf Eng­lisch oder in der Lan­des­spra­che. Hier­bei soll­te klar zu erken­nen sein, was sich der Bewer­ber oder die Bewer­be­rin von dem Prak­ti­kum erhofft und eben­falls was er/sie am eige­nen Beruf toll fin­det. Fir­men bie­ten eher den­je­ni­gen einen Prak­ti­kums­platz an, die eine ech­te Begeis­te­rung für ihren Ausbildungsberuf
zei­gen. Des Wei­te­ren benö­ti­gen wir einen Lebens­lauf in der Lan­des­spra­che und auf Deutsch, aus dem klar her­vor­geht, wel­che Auf­ga­ben der oder die Aus­zu­bil­den­de bereits selbst­stän­dig aus­führt. Auch die Geneh­mi­gung von Berufs­schu­le und Betrieb müs­sen mit­ge­schickt wer­den. Zeug­nis­se oder Emp­feh­lungs­schrei­ben benö­ti­gen wir aller­dings keine.

OT: Wie sieht die Beglei­tung durch das Pro­gramm von „Go.for.europe“ aus?

Flack: Wir bie­ten jun­gen Azu­bis aus Baden-Würt­tem­berg ein Kom­plett­pa­ket an. Wir küm­mern uns vor­ab um Flü­ge, Unter­kunft, Prak­ti­kums­platz, Ver­si­che­rung und Trans­port vor Ort sowie um die not­wen­di­ge För­de­rung über das Eras­mus-Pro­gramm, ohne die ein sol­cher Auf­ent­halt finan­zi­ell kaum zu stem­men wäre. Des Wei­te­ren berei­ten wir die Teil­neh­men­den in einem Vor­be­rei­tungs­se­mi­nar auf den Auf­ent­halt vor und sind wäh­rend der Rei­se und des Auf­ent­hal­tes für die Teil­neh­men­den erreich­bar, wenn sie Unter­stüt­zung bei der Lösung von Pro­ble­men benö­ti­gen. Wir küm­mern uns dar­um, dass alle not­wen­di­gen Unter­la­gen aus­ge­füllt und unter­zeich­net wer­den und füh­ren im Nach­gang eben­falls eine kur­ze Nach­be­rei­tung durch. Zudem infor­mie­ren wir auch zu alter­na­ti­ven Mög­lich­kei­ten, wäh­rend oder nach der Aus­bil­dung ins Aus­land zu gehen.

OT: Aus Ihrer Erfah­rung: Was ist die größ­te Hür­de für die jun­gen Men­schen sich zu bewerben?

Flack: Das ein­deu­tig größ­te Hin­der­nis ist eine nicht erteil­te Geneh­mi­gung durch den Aus­bil­dungs­be­trieb. Des­halb emp­feh­len wir Aus­zu­bil­den­den grund­sätz­lich, sich vor­ab selbst zu über­le­gen, wel­che Vor­tei­le ihr Betrieb durch den Auf­ent­halt hat. Schließ­lich soll es im bes­ten Fall eine Win-win-Situa­ti­on für bei­de Sei­ten sein. Es kann grund­sätz­lich eine gute Idee sein, den Wunsch nach einem
Aus­lands­prak­ti­kum bereits bei der Bewer­bung anzu­ge­ben, damit man gemein­sam mit dem Betrieb erar­bei­ten kann, wel­che Bedin­gun­gen erfüllt sein müs­sen, damit der Auf­ent­halt rea­li­siert wer­den kann. Die ande­re gro­ße Hür­de ist die Angst vor Fremd­spra­chen. Hier muss ich aus Erfah­rung sagen, dass die meis­ten Azu­bis sich selbst schlicht unter­schät­zen. Oft braucht es gar nicht viel mehr als Mut, die neue Spra­che zu nutzen.

OT: Wie gut wird das Pro­gramm angenommen?

Flack: Das Pro­gramm wird von Azu­bis und zuneh­mend auch immer mehr von Betrie­ben wirk­lich gut ange­nom­men. Eini­ge Betrie­be nut­zen es bei­spiels­wei­se als Anreiz oder Beloh­nung für gute Leis­tun­gen. Azu­bis sind in der Regel schlicht begeis­tert, dass sie in der dua­len Aus­bil­dung ähn­li­che Mög­lich­kei­ten wie in einem Stu­di­um haben.

OT: Wel­che Berufs­grup­pen wagen grund­sätz­lich eher den Schritt ins Ausland?

Flack: Grund­sätz­lich haben wir vie­le Anfra­gen aus dem Holz­be­reich. Cir­ca ein Drit­tel der Teil­neh­men­den sind Schreiner:innen oder Zim­mer­män­ner/-frau­en. Auch Konditor:innen und Optiker:innen sind häu­fig ver­tre­ten. Einen posi­ti­ven Trend beob­ach­ten wir der­zeit auch im Ortho­pä­die­be­reich und bei den KFZ-Mechatroniker:innen.

OT: Gibt es für deut­sche Unternehmer:innen die Mög­lich­keit, auch in Deutsch­land über das Pro­jekt Plät­ze für aus­län­di­sche Nachwuchshandwerker:innen anzubieten?

Flack: Die Mög­lich­keit gibt es, aber es Bedarf Fle­xi­bi­li­tät. Vie­le Anfra­gen, die uns errei­chen, betref­fen Bewerber:innen, die selbst kein Deutsch spre­chen. Kom­mu­ni­ka­ti­on kann dann in der Regel nur auf Eng­lisch oder Fran­zö­sisch erfol­gen. Auch ist die Unter­brin­gung öfters ein Pro­blem, an dem die Umset­zung schei­tert. Wenn Fir­men bereit sind, sich dar­um zu küm­mern, dass ein mög­li­cher Prak­ti­kant oder Prak­ti­kan­tin in der Zeit des Auf­ent­hal­tes ein Dach über dem Kopf hat, dann steht dem oft wenig im Wege. Letzt­lich abhän­gig ist es aber natür­lich auch vom Inter­es­se aus dem Aus­land, wel­ches schwer vor­her­seh­bar ist. In einem Jahr braucht man vie­le Plät­ze in einer Berufs­grup­pe, im nächs­ten Jahr gibt es aus dem Sek­tor gar kei­ne Anfragen.

OT: Gibt es aktu­ell die Mög­lich­keit, sich noch für Prak­ti­ka im Jahr 2022 zu bewerben?

Flack: Für Bewerber:innen aus Baden-Würt­tem­berg gibt es bis Ende Juni noch die Mög­lich­keit, sich für Auf­ent­hal­te im Hand­werk zu bewer­ben. Aber auch die­je­ni­gen, die ein biss­chen „zu spät dran sind“, müs­sen nicht leer aus­ge­hen. Wir kön­nen auch zu Auf­ent­hal­ten über ande­re, soge­nann­te Pool­pro­jek­te beraten.

OT: Arbei­ten Sie grund­sätz­lich mit allen euro­päi­schen Län­dern zusam­men oder wie funk­tio­niert die Aus­wahl der Zielorte?

Flack: Wir arbei­ten mit Part­nern im Aus­land, die die deut­sche Aus­bil­dung ver­ste­hen und uns Prak­ti­kums­plät­ze in guter Qua­li­tät bie­ten kön­nen. Wir suchen grund­sätz­lich immer nach neu­en Part­nern in Län­dern, die häu­fig nach­ge­fragt wer­den (zum Bei­spiel die skan­di­na­vi­schen Län­der). Aber das kann mit­un­ter ein lang­wie­ri­ger Pro­zess sein, bis ein pas­sen­der Part­ner gefun­den wird.

OT: Wie ist die Rück­mel­dung von Absolvent:innen der Praktika?

Flack: Vie­le der Absolvent:innen machen Erfah­run­gen, die sie beruf­lich wei­ter­brin­gen und ihren Hori­zont erwei­tern. Sie bekom­men ein rea­lis­ti­sches Bild davon, wie viel sie fach­lich bereits gelernt haben, was ihnen am Arbeits­platz wich­tig ist und wie sie ger­ne arbei­ten möchten.

OT: Wel­che Ent­schei­dungs­hil­fen kön­nen Sie aus Ihrer Erfah­rung her­aus den inter­es­sier­ten Aus­zu­bil­den­den geben?

Flack: Grund­sätz­lich soll­te sich jeder Bewerber/jede Bewer­be­rin ein­fach fra­gen: Bin ich offen für eine neue Erfah­rung, die viel­leicht ganz anders sein wird, als ich es erwar­te? Kann ich damit umge­hen, wenn die Unter­kunft anders ist als mein Zim­mer zu Hau­se? Wenn die Prio­ri­tä­ten mei­nes Auf­nah­me­be­trie­bes ande­re sind als die mei­nes Aus­bil­dungs­be­trie­bes? Will ich alter­na­ti­ve Lösungs­an­sät­ze sehen? Aber auch wich­tig: Schaf­fe ich es, den Berufs­schul­stoff selbst­stän­dig nach­zu­ho­len? Wenn es auf all die­se Fra­gen ein kla­res „Ja!“ gibt, dann soll­te sich der Interessent/die Inter­es­sen­tin um ein Aus­lands­prak­ti­kum in der Aus­bil­dung bemühen.

Die Fra­gen stell­te Hei­ko Cordes.

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