Das kann doch nicht alles gewe­sen sein

Viola Pawlowski und Lea Schlemo sind Meisterschülerinnen in Berlin. Welche Hoffnungen sie an den Meisterbrief Orthopädie-Technik knüpfen und was sie in ihren Ausbildungen vermisst haben, erklären die beiden Frauen im Gespräch mit der OT-Redaktion.

Wie so vie­le Jugend­li­che hat­te Vio­la Paw­low­ski lan­ge vom Beruf des Ortho­pä­die­tech­ni­kers nichts gehört. Erst durch einen Neben­job, in dem sie ein mobi­li­täts­ein­ge­schränk­tes Mäd­chen betreu­te, kam sie in Berüh­rung mit die­sem Hand­werk. Ein ers­ter Besuch in einer OT-Werk­statt über­zeug­te sie von dem Beruf. Eine Lehr­stel­le in der Hei­mat­stadt war auch schnell gefunden.

Den­noch ver­ließ sie 2004 nach ihrem Gesel­lin­nen­ab­schluss für ein paar Jah­re den Beruf. „Als ich vor 20 Jah­ren mei­ne Aus­bil­dung begann, war es gar nicht so leicht, sich unter den Män­nern in die­sem Hand­werks­be­ruf durch­zu­set­zen“, erklärt Vio­la Paw­low­ski. Nur zwei von mehr als 20 Mitschüler:innen waren Frau­en, so die Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin. Sie habe stän­dig das Gefühl gehabt, dass sie sich bewei­sen müs­se, wäh­rend sich die männ­li­chen Kol­le­gen von ihrer eige­nen Hand­werks­kom­pe­tenz stets über­zeugt zeig­ten. Von den Vor­ge­setz­ten erhiel­ten die männ­li­chen Aus­zu­bil­den­den oft­mals einen Ver­trau­ens­vor­schuss. „Ich hat­te mei­nen Traum­be­ruf gefun­den, aber in der Werk­statt-Atmo­sphä­re einer Alt­her­ren­rie­ge fühl­te ich mich deren Sexis­mus aus­ge­lie­fert“, so Vio­la Paw­low­ski. „Des­halb habe ich mich für ein paar Jah­re auf die Suche nach einer Alter­na­ti­ve bege­ben.“ Unter ande­rem pro­bier­te sie ein Stu­di­um der Sozi­al­wis­sen­schaf­ten. Neben dem Stu­di­um war sie in Ber­lin eini­ge Jah­re als per­sön­li­che Assis­ten­tin tätig.

Unter­stüt­zung statt Auslieferung

„Aus­zu­bil­den­de sind in einer rela­tiv unge­schütz­ten Posi­ti­on und so den Ausbilder:innen aus­ge­lie­fert. Daher wün­sche ich mir eine unab­hän­gi­ge Kon­troll­in­stanz, die Aus­zu­bil­den­de, egal in wel­chem Beruf, beglei­tet“, meint die Meis­ter­schü­le­rin und zukünf­ti­ge Aus­bil­de­rin. Das sei nicht das Ein­zi­ge, was sie gern in der Aus­bil­dung, ob zu Gesell:innen oder Meister:innen, ändern wür­de. Vie­len Ausbilder:innen in der Berufs­schu­le und der Werk­statt feh­le es an didak­ti­schen Kom­pe­ten­zen. Zudem ver­mis­se sie in vie­len Betrie­ben die Unter­stüt­zung für Frau­en, sich ent­wi­ckeln zu kön­nen etwa durch Wei­ter­bil­dung oder mehr Ver­ant­wor­tung. Bei­des müs­se sich drin­gend ändern, so die Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin. Gene­rell müss­ten sich die klas­si­schen Rol­len­bil­der auch in Hand­werks­be­trie­ben mehr ver­än­dern. Dazu gehö­re auch, dass z. B. Teil­zeit, Eltern­zeit etc. auch für Män­ner gän­gi­ger und akzep­tier­ter wür­den, um somit auch die struk­tu­rel­len Bedin­gun­gen für Frau­en zu ver­bes­sern. Denn nach wie vor sei die Ver­ein­bar­keit von Fami­lie und Beruf für Frau­en schwerer.

Mehr Wis­sen – mehr Ver­ant­wor­tung – mehr Gehalt

Vor sie­ben Jah­ren kehr­te sie zurück in ihren Traum­be­ruf. Im Rück­blick fin­de sie es tra­gisch, dass sie sich meh­re­re Jah­re vom Beruf fern­ge­hal­ten habe. Es sei aber eine Fra­ge der per­sön­li­chen Ent­wick­lung, die immer wei­ter fort­schrei­te. Vor zwei Jah­ren war sie dann ent­schlos­sen, die Meis­ter­aus­bil­dung zu begin­nen. Ihre Moti­va­ti­on: „Ich woll­te mich fach­lich wei­ter­ent­wi­ckeln, mehr Wis­sen erlan­gen und mehr Ver­ant­wor­tung über­neh­men sowie Gestal­tungs­spiel­raum erhal­ten“, sagt Vio­la Paw­low­ski. „Dafür bie­ten die Meis­ter­lehr­gän­ge und im zwei­ten Schritt die Posi­ti­on als Meis­te­rin einen guten Rah­men.“ Natür­lich stel­le auch der finan­zi­el­le Aspekt einen Anreiz dar, wobei der Gehalts­sprung von Gesel­lin zu Meis­te­rin von Betrieb zu Betrieb unter­schied­lich groß sei. „Zwar hat sich die Ten­denz zu mehr Ver­trau­en in die Kom­pe­tenz von Frau­en im Hand­werk posi­tiv ent­wi­ckelt, den­noch ver­die­nen wir Frau­en noch immer weni­ger als unse­re männ­li­chen Kol­le­gen“, so Vio­la Pawlowski.

Inspi­rie­ren­de Kombination

Ihre Begeis­te­rung für die Ortho­pä­die-Tech­nik sei unab­hän­gig von der Gehalts­fra­ge unge­bro­chen. Sie lie­be die Kom­bi­na­ti­on aus Werk­statt und Arbeit mit und am Men­schen. Gemein­sam Lösun­gen zu fin­den, sei über­aus inspi­rie­rend. Kein Tag sei wie der ande­re. Täg­lich kom­me eine ande­re Her­aus­for­de­rung auf sie und ihre Kolleg:innen zu. Sie schät­ze die Ver­ant­wor­tung, die sie für die Patient:innen tra­ge. Gleich­zei­tig ken­ne sie auch die damit ver­bun­de­ne Belas­tung: „Wenn ich einen Feh­ler mache, tra­gen mei­ne Patient:innen die Kon­se­quen­zen“, erklärt die Meisterschülerin.

Span­nen­de Zukunft

Wie die Per­spek­ti­ven für den Beruf in Zukunft aus­se­hen, kön­ne sie schwer beur­tei­len. „Ich den­ke, dass die zu ver­sor­gen­den Men­schen zumin­dest bei kom­ple­xe­ren Ver­sor­gun­gen den direk­ten Kon­takt zu den Expert:innen suchen“, so Vio­la Paw­low­ski. „Für die indi­vi­du­el­le Ver­sor­gung sind die mensch­li­che Kom­po­nen­te und die psy­cho­so­zia­len Kon­tak­te grund­le­gend.“ Gleich­zei­tig wer­de sicher die Nut­zung digi­ta­ler Mess- und Fer­ti­gungs­tech­nik sowie von Online-Ange­bo­ten zunehmen.

Sie freue sich auf die kom­men­den ein­ein­halb bis zwei Jah­re berufs­be­glei­ten­der Meis­ter­lehr­gän­ge und die ers­ten Jah­re mit mehr Spiel­raum und Ver­ant­wor­tung als Meis­te­rin für Patient:innen und Aus­zu­bil­den­de bei der Paul Schul­ze GmbH. Das aus­ge­wo­ge­ne Ver­hält­nis zwi­schen Män­nern und Frau­en in der Werk­statt erle­be sie als sehr ange­nehm und die Tat­sa­che, dass zwei von drei Meister:innen im Unter­neh­men Frau­en sei­en, als inspi­rie­rend. Lang­fris­tig kön­ne sie sich vie­le ver­schie­de­ne Din­ge vor­stel­len, die sich mit dem wei­te­ren per­sön­li­chen Wer­de­gang ent­wi­ckeln wer­den. Ein grö­ße­rer Fokus auf Aus­bil­dung oder auch eine Aus­lands­tä­tig­keit sei­en nur zwei von vie­len mög­li­chen Ideen.

Schick­sal­haf­tes Treffen

Genau wie bei Vio­la Paw­low­ski half der Zufall Lea Schle­mo, den pas­sen­den Beruf zu fin­den. Nach ihrem Abitur begann Lea Schle­mo zunächst eine Aus­bil­dung zur Phy­sio­the­ra­peu­tin. Wäh­rend eines Prak­ti­kums in einer Kli­nik traf sie auf einen Ortho­pä­die­tech­ni­ker, der einen Pati­en­ten mit einer Ober­schen­kel­pro­the­se ver­sorg­te. Von die­sem Hand­werk hat­te sie bis dato kei­ne Kennt­nis gehabt.

Die Art des Hand­werks in Ver­bin­dung mit der Arbeit an Men­schen begeis­ter­te die jun­ge Frau auf Anhieb. „Als Phy­sio­the­ra­peu­tin im Kran­ken­haus hät­te ich die Patient:innen jeweils nur kurz betreut. Als Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin hin­ge­gen kann ich Men­schen auf lan­ge Zeit beglei­ten“, erklärt die Ber­li­ne­rin. Sie stopp­te ihre Aus­bil­dung als Phy­sio­the­ra­peu­tin und fand eine Lehr­stel­le bei der Paul Schul­ze GmbH in Ber­lin. „Der Fokus in der Berufs­schu­le lag auf der Theo­rie. Das fand ich oft scha­de, zumal dadurch Theo­rie und Pra­xis nicht immer Hand in Hand gin­gen“, bedau­ert die Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin rück­bli­ckend. Aller­dings sei das Know-how, über das Orthopädietechniker:innen in der Pra­xis ver­fü­gen müss­ten, so rie­sig, das kön­ne man gar nicht in den drei Lehr­jah­ren unterbringen.

Ergeb­nis­se sehen

Seit 2018 arbei­tet sie als Gesel­lin in ihrem ehe­ma­li­gen Lehr­be­trieb, des­sen Atmo­sphä­re sie als sehr kol­le­gi­al und wert­schät­zend beschreibt. Von älte­ren Kolleg:innen habe sie gehört, dass sie mit der Situa­ti­on als Frau in einer Werk­statt zu kämp­fen hat­ten. „Ich per­sön­lich habe das Gefühl, dass bereits ein Umden­ken zum Arbeits­ver­hält­nis zwi­schen Frau­en und Män­nern im Bereich Ortho­pä­die-Tech­nik statt­ge­fun­den hat“, meint Lea Schle­mo. „Ich hat­te damit nicht wirk­lich zu kämp­fen, weder in der Berufs­schu­le, da war das Ver­hält­nis auch in der Berufs­schul­klas­se sehr aus­ge­gli­chen, noch im Betrieb, wo teil­wei­se in der Werk­statt sogar mehr Frau­en arbei­te­ten.“ Viel­leicht lie­ge es dar­an, dass sie noch nicht in so vie­len Betrie­ben gear­bei­tet habe, aber sie habe auch von ande­ren Mitschüler:innen, ob es in der Meis­ter­schu­le oder der Berufs­schu­le war, nie den Ein­druck von Schwie­rig­kei­ten ver­mit­telt bekom­men, ergänzt sie.

Was sie an ihrem Beruf beson­ders schät­ze? „In mei­nem Beruf sehe ich jeden Tag das Ergeb­nis mei­ner Arbeit. Ich habe Gestal­tungs­mög­lich­kei­ten und den Erfolg oft in mei­ner Hand“, so Lea Schle­mo. Es sei cool, die Fort­schrit­te bei den Patient:innen zu beob­ach­ten, aber auch frus­trie­rend, wenn Patient:innen Emp­feh­lun­gen nicht anneh­men wür­den. Zuwei­len wür­den die­se ihre Nicht-Annah­me des eige­nen Schick­sals auf ihre Orthopädietechniker:innen projizieren.

Akzep­tanz vergrößern

Ein Wer­muts­trop­fen sei­en Patient:innen, die sie als jun­ge Frau nicht für ganz voll neh­men wür­den. Es sei vor allem bei älte­ren Män­nern nicht immer ein­fach, sich durch­zu­set­zen. Ein Meis­ter­brief kön­ne hel­fen, auch von die­ser Alters­grup­pe erns­ter genom­men zu wer­den, hofft Lea Schle­mo. Doch das sei nicht ihre ein­zi­ge Moti­va­ti­on für die Aus­bil­dung. Als Gesel­lin habe sie sich eines Tages bei dem Gedan­ken erwischt, das kann doch noch nicht alles gewe­sen sein? „Ich will mehr Ver­ant­wor­tung über­neh­men, mei­ne Band­brei­te erwei­tern und natür­lich spielt auch der finan­zi­el­le Aspekt eine Rol­le“, beschreibt die jun­ge Frau ihre Beweggründe.

Berufs­be­glei­tend absol­viert sie seit einem Jahr die Meis­ter­schu­le in Ham­burg. Den Stand­ort habe sie bewusst gewählt, weil dort der Unter­richt auf einen Tag in der Woche statt auf zwei Wochen im Block ver­teilt wür­de. „So las­sen sich die Schul­stun­den viel bes­ser mit mei­ner Arbeits­zeit ver­bin­den, als wenn ich gleich für zwei Wochen am Stück aus­fal­len wür­de“, erläu­tert die Ber­li­ne­rin ihre Wahl.

In zwei Jah­ren hofft sie, alle Lehr­gän­ge abge­schlos­sen zu haben und den Meis­ter­brief Ortho­pä­die-Tech­nik in den Hän­den hal­ten zu kön­nen. Aller­dings sei das gar nicht so ein­fach, weil es viel zu wenig Wei­ter­bil­dungs­kur­se gebe, denn die Meis­ter­schu­le ver­mitt­le wenig Pra­xis, aber etwas sei dabei. Die wei­te­re Pra­xis müss­ten sich die Meisterschüler:innen an ande­rer Stel­le holen. Und die­se Stel­len ver­fü­gen über zu wenig Plätze.

Erst schaf­fen, dann entscheiden

Ob sie den Titel Meis­te­rin nut­zen wird, um sich spä­ter selbst­stän­dig zu machen oder ein Unter­neh­men zu lei­ten, habe sie noch nicht ent­schie­den. „Erst mal will ich die Lehr­gän­ge schaf­fen und den Brief in den Hän­den hal­ten, dann kann ich Ent­schei­dun­gen fäl­len“, meint sie. Noch habe sie kei­ne Fami­lie. Sie stel­le es sich aber schwie­rig vor, mit Fami­lie eine Meis­ter­schu­le zu besu­chen oder gar ein Unter­neh­men zu lei­ten. „Je mehr Ver­ant­wor­tung man hat, des­to weni­ger Zeit bleibt für alles ande­re“, sagt Lea Schlemo.

An der Per­spek­ti­ve des OT-Hand­werks zwei­felt die Meis­ter­schü­le­rin nicht. Klar gebe es immer wie­der Kund:innen, die Din­ge bei ihnen im Laden anpro­bie­ren und dann auf einer Online-Platt­form bestel­len. „Aber als Gesell­schaft das Wis­sen und die Kunst des OT-Hand­werks weg­zu­wer­fen, wäre blöd. Das OT-Hand­werk ist nicht weg­zu­den­ken“, ist sich die Meis­ter­schü­le­rin sicher.

Ruth Jus­ten

 

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